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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Tazebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

Auf einem würde z. B. ein Giebel nicht sichtbar sein, den ein andres zeigte, würde
dafür das entsprechende Dach sehen lassen, das jenem fehlte. Auf wieder einem
würde der kleine Turm fehlen, hinter dem Hauptturm versteckt. Diesen zwar,
der alles hoch überragt, würden alle wesentlich gleich zeigen, aber doch auch
mit Unterschieden, z. B. die Fenster an verschiedner Stelle oder nicht alle. Ich
habe mir das manchmal so ausgemalt in müßigen Stunden, mit tröstlichen
Behagen, wenn es wieder einmal galt, sich in der grellen Verschiedenheit der
Meinungen und Ansichten der Menschen über denselben Gegenstand zurecht zu
finden. Dort steht das Schloß so sicher sür sich, jeder Stein fest, in stolzer
Ruhe und Unberührtheit seit Jahrhunderten, und hier im Menschenauge und
Menschensinn erscheint es so wechselnd, so beweglich, so streitig unter Uniständen.
Denn bei Mißtrauen und üblem Willen kann wirklich Zweifel und Streit
auftauchen, ob der eine Beschauer richtig gesehen und gezeichnet habe, wenn
der andre nicht darauf eingehen mag, auf den Standpunkt von jenem zu treten.
Das Ganze aber, wie es ist, sieht doch keiner und zeigt kein Bild, nur ab¬
weichende Erscheinungen. Auch denken kann sich keiner das Ganze, wie es ist,
immer erscheint ihm auch in den Gedanken nur eine bestimmte, einseitige Auf¬
fassung, allenfalls mehrere nach einander, die man mit Denken über das Sehen
hinaus wohl zusammenzufassen versuchen mag, man kommt aber über ein be¬
stimmtes Sehen doch auch dabei nicht hinaus. So beschränkt in seinem Erfassen
und Erkennen ist der Einzelne einer Sache gegenüber, die bei aller Einheit in
sich doch Mannichfaltigkeit nach außen zeigt, wie wichtigere Weltdinge allemal,
am meisten die Welt selber.

Was mir aber bei solcher wiederholten Betrachtung das Wertvollste und
Merkwürdigste wurde, war das, daß sie schließlich immer auf einen Punkt
führte, wo sich die Frage nach dem gesuchten Wahren von selbst aufs sittliche
Gebiet hinüberspielte und auf ihm erst ihr beruhigendes Ende fand; das Gute
mußte dem Wahren helfen und sproßte zugleich aus ihm. Das kommt von
jener Beschränktheit des Einzelnen jeder Frage gegenüber, deren Antwort nicht
auf der Oberfläche liegt. Es handelt sich da immer um ein Ganzes, ein
kleines oder großes, oder doch um eine Frage, die in einen Zusammenhang
eingreift, also einem Ganzen angehört, vielleicht gar dem letzten Ganzen, dessen
Dasein ja überall in der Nähe zu spüren ist. Ein Ganzes kann aber sozusagen
nur von einem Ganzen erfaßt oder umfaßt werden, das ist aber der Einzelne
nie, obschon er sich leicht in gehobenen Stunden als solches fühlt; die Berich¬
tigung solches Selbstgefühls bleibt nicht aus und ist bitter genug. Man er¬
fährt es ja früh, in den Jahren, wo sich zuerst die Flügel des eignen Denkens
über die Welt frei regen, daß man eine Wahrheit gefunden zu haben glaubt
und sich gedrängt fühlt, sie einem Freunde mitzuteilen, daß man aber da selten
oder nie die ganze Zustimmung findet, ans die man sicher gerechnet hatte, vielleicht
selbst scharfen Widerspruch, zumal wenn der Andre schon eine eigne Ansicht von


Tazebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

Auf einem würde z. B. ein Giebel nicht sichtbar sein, den ein andres zeigte, würde
dafür das entsprechende Dach sehen lassen, das jenem fehlte. Auf wieder einem
würde der kleine Turm fehlen, hinter dem Hauptturm versteckt. Diesen zwar,
der alles hoch überragt, würden alle wesentlich gleich zeigen, aber doch auch
mit Unterschieden, z. B. die Fenster an verschiedner Stelle oder nicht alle. Ich
habe mir das manchmal so ausgemalt in müßigen Stunden, mit tröstlichen
Behagen, wenn es wieder einmal galt, sich in der grellen Verschiedenheit der
Meinungen und Ansichten der Menschen über denselben Gegenstand zurecht zu
finden. Dort steht das Schloß so sicher sür sich, jeder Stein fest, in stolzer
Ruhe und Unberührtheit seit Jahrhunderten, und hier im Menschenauge und
Menschensinn erscheint es so wechselnd, so beweglich, so streitig unter Uniständen.
Denn bei Mißtrauen und üblem Willen kann wirklich Zweifel und Streit
auftauchen, ob der eine Beschauer richtig gesehen und gezeichnet habe, wenn
der andre nicht darauf eingehen mag, auf den Standpunkt von jenem zu treten.
Das Ganze aber, wie es ist, sieht doch keiner und zeigt kein Bild, nur ab¬
weichende Erscheinungen. Auch denken kann sich keiner das Ganze, wie es ist,
immer erscheint ihm auch in den Gedanken nur eine bestimmte, einseitige Auf¬
fassung, allenfalls mehrere nach einander, die man mit Denken über das Sehen
hinaus wohl zusammenzufassen versuchen mag, man kommt aber über ein be¬
stimmtes Sehen doch auch dabei nicht hinaus. So beschränkt in seinem Erfassen
und Erkennen ist der Einzelne einer Sache gegenüber, die bei aller Einheit in
sich doch Mannichfaltigkeit nach außen zeigt, wie wichtigere Weltdinge allemal,
am meisten die Welt selber.

Was mir aber bei solcher wiederholten Betrachtung das Wertvollste und
Merkwürdigste wurde, war das, daß sie schließlich immer auf einen Punkt
führte, wo sich die Frage nach dem gesuchten Wahren von selbst aufs sittliche
Gebiet hinüberspielte und auf ihm erst ihr beruhigendes Ende fand; das Gute
mußte dem Wahren helfen und sproßte zugleich aus ihm. Das kommt von
jener Beschränktheit des Einzelnen jeder Frage gegenüber, deren Antwort nicht
auf der Oberfläche liegt. Es handelt sich da immer um ein Ganzes, ein
kleines oder großes, oder doch um eine Frage, die in einen Zusammenhang
eingreift, also einem Ganzen angehört, vielleicht gar dem letzten Ganzen, dessen
Dasein ja überall in der Nähe zu spüren ist. Ein Ganzes kann aber sozusagen
nur von einem Ganzen erfaßt oder umfaßt werden, das ist aber der Einzelne
nie, obschon er sich leicht in gehobenen Stunden als solches fühlt; die Berich¬
tigung solches Selbstgefühls bleibt nicht aus und ist bitter genug. Man er¬
fährt es ja früh, in den Jahren, wo sich zuerst die Flügel des eignen Denkens
über die Welt frei regen, daß man eine Wahrheit gefunden zu haben glaubt
und sich gedrängt fühlt, sie einem Freunde mitzuteilen, daß man aber da selten
oder nie die ganze Zustimmung findet, ans die man sicher gerechnet hatte, vielleicht
selbst scharfen Widerspruch, zumal wenn der Andre schon eine eigne Ansicht von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/256>, abgerufen am 22.06.2024.