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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

mich in einer Weise, daß ich ein solches inneres Glück noch nicht kannte, als sie
mir gewährten. Was mich aber daran so fesselte und reizte, dessen erinnere ich
mich bestimmt mit nachträglichem Genießen, das war neben dem äußern Ge¬
schehen, das ja nicht groß ist, aber sür den Knaben auch groß genug war, das
innere Geschehen, der fortwährende Wechsel der Meinungen, mit dem merkwür¬
digen Gefühl, daß eigentlich immer jede Person, die eben sprach, recht hatte, so
sehr sie von einander abwichen, während doch zuletzt alles so hübsch zusammen¬
klang. Dies Gefühl, das zur fortwährenden Arbeit mit heimlichem, wachsendem
Genuß wurde, wiederholte sich dann gesteigert und vertieft, als man über
Lessing, Schiller u. s. w. kam, man sah in den Kampf der menschlichen Meinungen
und Strebungen vom erhöhten Standpunkte des Dichters aus wie von oben
hinein, mit einem Blick, der einem den Kampf selbst zum höchsten Genuß
machte, bei tiefster Lehre über das Menschenwesen und Unbefriedigendem
Ausklang.

Freilich, was vor dem Buche und vor der Bühne zu solchem Genuß wurde,
das gab im Leben selber draußen einen ganz andern Geschmack, oft genug herbe,
bitter, sauer. Man erfuhr da das Auseinandergehen der Meinungen über die
Dinge der Welt, über das, was einem wert und wichtig geworden war, auch
über sich selbst und sein eignes Thun und Wollen in einer Weise, daß auch
die Urteile solcher, die man achten mußte, gegen einander treten konnten wie
schwarz und weiß. Solche Verschiedenheit des Urteils und der Ansicht über
denselben Gegenstand, dieselbe Frage, wie ist das möglich, was unmöglich sein
müßte? Da galt es denn, für den Wirrwarr auf der Bühne des Lebens den
Punkt wieder zu erringen, von dem aus auf der Bühne des Dichters der Wirr¬
warr doch zur Lehre, selbst zum Genuß werden konnte. Dazu half das Bild
vom Standpunkte, das man immer anwenden hörte und mit dem man nur
Ernst zu machen brauchte. Das that ich denn bei mir in ausmalender Dar¬
stellung, wozu ich mich mit den Sprachbildern früh selbst gewöhnte, ein Aus¬
malen, das selbst zu geistigsten Genuß wurde bei schönster Lehre, auch wo es
sich um schlimme, herbe Dinge handelte. Betrachter auf verschiednen Stand¬
punkte mit demselben Gegenstande in der Mitte, das war hier auszumalen. Der
erste, der das nun aller Welt geläufige Bild in Gang gebracht hat, muß in
demselben Gedankengang gewesen sein mit aller Deutlichkeit, die sich nur im Ge¬
brauch der Andern dann leidig verwischt, wie das Gepräge der Münzen sich
abgreift, wenn sie länger von Hand zu Hand gehen.

Ich dachte mir gern ein Bergschloß als den Gegenstand, und zwar ein
bestimmtes, das mir von Knabenjahren her fest und wichtig in der Vorstellung
stand mit seinen sehr verschiedenen Erscheinungsformen. Ich malte mir aus, wie
verschiedene Beschauer auf verschiedenen Punkten stünden, und jeder beschriebe
oder zeichnete von seiner Stellung aus das Schloß. Die Beschreibungen oder
Bilder würden alle anders sein, unter Umstünden bis zu verwirrender Abweichung.


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

mich in einer Weise, daß ich ein solches inneres Glück noch nicht kannte, als sie
mir gewährten. Was mich aber daran so fesselte und reizte, dessen erinnere ich
mich bestimmt mit nachträglichem Genießen, das war neben dem äußern Ge¬
schehen, das ja nicht groß ist, aber sür den Knaben auch groß genug war, das
innere Geschehen, der fortwährende Wechsel der Meinungen, mit dem merkwür¬
digen Gefühl, daß eigentlich immer jede Person, die eben sprach, recht hatte, so
sehr sie von einander abwichen, während doch zuletzt alles so hübsch zusammen¬
klang. Dies Gefühl, das zur fortwährenden Arbeit mit heimlichem, wachsendem
Genuß wurde, wiederholte sich dann gesteigert und vertieft, als man über
Lessing, Schiller u. s. w. kam, man sah in den Kampf der menschlichen Meinungen
und Strebungen vom erhöhten Standpunkte des Dichters aus wie von oben
hinein, mit einem Blick, der einem den Kampf selbst zum höchsten Genuß
machte, bei tiefster Lehre über das Menschenwesen und Unbefriedigendem
Ausklang.

Freilich, was vor dem Buche und vor der Bühne zu solchem Genuß wurde,
das gab im Leben selber draußen einen ganz andern Geschmack, oft genug herbe,
bitter, sauer. Man erfuhr da das Auseinandergehen der Meinungen über die
Dinge der Welt, über das, was einem wert und wichtig geworden war, auch
über sich selbst und sein eignes Thun und Wollen in einer Weise, daß auch
die Urteile solcher, die man achten mußte, gegen einander treten konnten wie
schwarz und weiß. Solche Verschiedenheit des Urteils und der Ansicht über
denselben Gegenstand, dieselbe Frage, wie ist das möglich, was unmöglich sein
müßte? Da galt es denn, für den Wirrwarr auf der Bühne des Lebens den
Punkt wieder zu erringen, von dem aus auf der Bühne des Dichters der Wirr¬
warr doch zur Lehre, selbst zum Genuß werden konnte. Dazu half das Bild
vom Standpunkte, das man immer anwenden hörte und mit dem man nur
Ernst zu machen brauchte. Das that ich denn bei mir in ausmalender Dar¬
stellung, wozu ich mich mit den Sprachbildern früh selbst gewöhnte, ein Aus¬
malen, das selbst zu geistigsten Genuß wurde bei schönster Lehre, auch wo es
sich um schlimme, herbe Dinge handelte. Betrachter auf verschiednen Stand¬
punkte mit demselben Gegenstande in der Mitte, das war hier auszumalen. Der
erste, der das nun aller Welt geläufige Bild in Gang gebracht hat, muß in
demselben Gedankengang gewesen sein mit aller Deutlichkeit, die sich nur im Ge¬
brauch der Andern dann leidig verwischt, wie das Gepräge der Münzen sich
abgreift, wenn sie länger von Hand zu Hand gehen.

Ich dachte mir gern ein Bergschloß als den Gegenstand, und zwar ein
bestimmtes, das mir von Knabenjahren her fest und wichtig in der Vorstellung
stand mit seinen sehr verschiedenen Erscheinungsformen. Ich malte mir aus, wie
verschiedene Beschauer auf verschiedenen Punkten stünden, und jeder beschriebe
oder zeichnete von seiner Stellung aus das Schloß. Die Beschreibungen oder
Bilder würden alle anders sein, unter Umstünden bis zu verwirrender Abweichung.


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[0255] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. mich in einer Weise, daß ich ein solches inneres Glück noch nicht kannte, als sie mir gewährten. Was mich aber daran so fesselte und reizte, dessen erinnere ich mich bestimmt mit nachträglichem Genießen, das war neben dem äußern Ge¬ schehen, das ja nicht groß ist, aber sür den Knaben auch groß genug war, das innere Geschehen, der fortwährende Wechsel der Meinungen, mit dem merkwür¬ digen Gefühl, daß eigentlich immer jede Person, die eben sprach, recht hatte, so sehr sie von einander abwichen, während doch zuletzt alles so hübsch zusammen¬ klang. Dies Gefühl, das zur fortwährenden Arbeit mit heimlichem, wachsendem Genuß wurde, wiederholte sich dann gesteigert und vertieft, als man über Lessing, Schiller u. s. w. kam, man sah in den Kampf der menschlichen Meinungen und Strebungen vom erhöhten Standpunkte des Dichters aus wie von oben hinein, mit einem Blick, der einem den Kampf selbst zum höchsten Genuß machte, bei tiefster Lehre über das Menschenwesen und Unbefriedigendem Ausklang. Freilich, was vor dem Buche und vor der Bühne zu solchem Genuß wurde, das gab im Leben selber draußen einen ganz andern Geschmack, oft genug herbe, bitter, sauer. Man erfuhr da das Auseinandergehen der Meinungen über die Dinge der Welt, über das, was einem wert und wichtig geworden war, auch über sich selbst und sein eignes Thun und Wollen in einer Weise, daß auch die Urteile solcher, die man achten mußte, gegen einander treten konnten wie schwarz und weiß. Solche Verschiedenheit des Urteils und der Ansicht über denselben Gegenstand, dieselbe Frage, wie ist das möglich, was unmöglich sein müßte? Da galt es denn, für den Wirrwarr auf der Bühne des Lebens den Punkt wieder zu erringen, von dem aus auf der Bühne des Dichters der Wirr¬ warr doch zur Lehre, selbst zum Genuß werden konnte. Dazu half das Bild vom Standpunkte, das man immer anwenden hörte und mit dem man nur Ernst zu machen brauchte. Das that ich denn bei mir in ausmalender Dar¬ stellung, wozu ich mich mit den Sprachbildern früh selbst gewöhnte, ein Aus¬ malen, das selbst zu geistigsten Genuß wurde bei schönster Lehre, auch wo es sich um schlimme, herbe Dinge handelte. Betrachter auf verschiednen Stand¬ punkte mit demselben Gegenstande in der Mitte, das war hier auszumalen. Der erste, der das nun aller Welt geläufige Bild in Gang gebracht hat, muß in demselben Gedankengang gewesen sein mit aller Deutlichkeit, die sich nur im Ge¬ brauch der Andern dann leidig verwischt, wie das Gepräge der Münzen sich abgreift, wenn sie länger von Hand zu Hand gehen. Ich dachte mir gern ein Bergschloß als den Gegenstand, und zwar ein bestimmtes, das mir von Knabenjahren her fest und wichtig in der Vorstellung stand mit seinen sehr verschiedenen Erscheinungsformen. Ich malte mir aus, wie verschiedene Beschauer auf verschiedenen Punkten stünden, und jeder beschriebe oder zeichnete von seiner Stellung aus das Schloß. Die Beschreibungen oder Bilder würden alle anders sein, unter Umstünden bis zu verwirrender Abweichung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/255>, abgerufen am 22.06.2024.