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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

aber der Stamm, aus dem sie wuchsen und wachsen müssen, erhält einen Schnitt
oder Hieb nach dem andern von der Hand jenes Zeitgeistes, der für ihn einen
neuen pflanzen will. Man braucht nur an die Ideen zu denken, um die der
große Kritiker in Königsberg seine Welt aufbaute, Gott. Unsterblichkeit, Frei¬
heit, um sich der vorgehenden Änderung bewußt zu werden, Ideen, gegen die
von der Kritik von heute ein Schlag nach dem andern geführt wird, daß sie
immer mehr in den Geistern Wanken oder fallen.

Was ist also die Wahrheit, auf die sich die neue Welt einmal aufbauen
soll? Man hat sie noch nicht, wohl noch lange nicht. Neue Systeme treten
ja fast wöchentlich auf, und gewiß ist in jedem ein Stückchen von der gesuchten
Wahrheit. Aber Wahrheit, in Stückchen hie und da zersplittert, ist nicht das
Wahre, das nötig ist, um darauf ein Haus oder eine Stadt zu bauen, darin
alle als gute Nachbarn Hausen oder als Gemeinde wohnen und wirken könnten;
das müßte ein Wahres sein, das breit und fest durch die Lande ginge als
allgemeiner Untergrund, wie es in glücklichen Zeiten ist. Wie weit wir davon
entfernt sind, ist wohl klar, wenn ich verrate, daß man in Kreisen von Fach¬
philosophen hören kann, im Reiche der Philosophie herrsche jetzt eine wahre
Anarchie.

Wie fahren aber das Schöne und das Gute bei diesem Stande im Reiche
des Wahren? Eins scheint mir sicher: sie können nicht darauf warten, bis das
neue Wahre einmal fertig, bis es ein wirkliches Wahres fein wird. Dazu sind
sie jeden Tag zu nötig für den Bestand des Ganzen. Und um das Schöne
für jetzt aus dem Spiel zu lassen, für das Gute scheint man auch in den Kreisen
der Denker vom Fach nachgerade etwas bange zu werden bei dem Gange der
Dinge, wenn man nach dem Gewicht urteilen darf, das da jetzt der Ethik beige¬
legt wird, und nach der Mühe, die man jetzt darauf verwendet, dem Geheimnis
des Guten metaphysisch und historisch nahe zu kommen. Freilich aber, das
Gute selber kann auch nicht warten, bis diese Arbeit einmal bei ihrem Ziele sein
wird, für das doch auch eine Einigung wenigstens der maßgebenden Forscher
vorauszusetzen wäre und was nicht alles noch, bis die Erkenntnis ihre tägliche
Wirkung im Leben haben könnte, also ihr wahres Ziel ergriffe.

Da habe ich denn für den Hausgebrauch eine Betrachtung zur Hand, die
mir eben aus der Bangigkeit kam, in die einen jener Stand der Dinge wohl
versetzen kann, eine Betrachtung, wie das Gute gerade an und mit dem Wahren
gleichsam von selber wachsen kann, wenn man diesem auf rechtem Wege
nachgeht.

Der erste Anlaß dazu kam mir zufällig sehr früh, in der Zeit der ersten
Lesewut des Knaben, wo sich für das nachherige Denken die ersten, oft blei¬
benden Gleise in der Seele eingraben. Ich kam da zuerst mit über Theater¬
stücke, es waren die Stücke für Kinder in Weißes Kinderfreund, der damals
noch in Gunst war (der Verfasser war noch nicht dreißig Jahre tot), sie fesselten


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

aber der Stamm, aus dem sie wuchsen und wachsen müssen, erhält einen Schnitt
oder Hieb nach dem andern von der Hand jenes Zeitgeistes, der für ihn einen
neuen pflanzen will. Man braucht nur an die Ideen zu denken, um die der
große Kritiker in Königsberg seine Welt aufbaute, Gott. Unsterblichkeit, Frei¬
heit, um sich der vorgehenden Änderung bewußt zu werden, Ideen, gegen die
von der Kritik von heute ein Schlag nach dem andern geführt wird, daß sie
immer mehr in den Geistern Wanken oder fallen.

Was ist also die Wahrheit, auf die sich die neue Welt einmal aufbauen
soll? Man hat sie noch nicht, wohl noch lange nicht. Neue Systeme treten
ja fast wöchentlich auf, und gewiß ist in jedem ein Stückchen von der gesuchten
Wahrheit. Aber Wahrheit, in Stückchen hie und da zersplittert, ist nicht das
Wahre, das nötig ist, um darauf ein Haus oder eine Stadt zu bauen, darin
alle als gute Nachbarn Hausen oder als Gemeinde wohnen und wirken könnten;
das müßte ein Wahres sein, das breit und fest durch die Lande ginge als
allgemeiner Untergrund, wie es in glücklichen Zeiten ist. Wie weit wir davon
entfernt sind, ist wohl klar, wenn ich verrate, daß man in Kreisen von Fach¬
philosophen hören kann, im Reiche der Philosophie herrsche jetzt eine wahre
Anarchie.

Wie fahren aber das Schöne und das Gute bei diesem Stande im Reiche
des Wahren? Eins scheint mir sicher: sie können nicht darauf warten, bis das
neue Wahre einmal fertig, bis es ein wirkliches Wahres fein wird. Dazu sind
sie jeden Tag zu nötig für den Bestand des Ganzen. Und um das Schöne
für jetzt aus dem Spiel zu lassen, für das Gute scheint man auch in den Kreisen
der Denker vom Fach nachgerade etwas bange zu werden bei dem Gange der
Dinge, wenn man nach dem Gewicht urteilen darf, das da jetzt der Ethik beige¬
legt wird, und nach der Mühe, die man jetzt darauf verwendet, dem Geheimnis
des Guten metaphysisch und historisch nahe zu kommen. Freilich aber, das
Gute selber kann auch nicht warten, bis diese Arbeit einmal bei ihrem Ziele sein
wird, für das doch auch eine Einigung wenigstens der maßgebenden Forscher
vorauszusetzen wäre und was nicht alles noch, bis die Erkenntnis ihre tägliche
Wirkung im Leben haben könnte, also ihr wahres Ziel ergriffe.

Da habe ich denn für den Hausgebrauch eine Betrachtung zur Hand, die
mir eben aus der Bangigkeit kam, in die einen jener Stand der Dinge wohl
versetzen kann, eine Betrachtung, wie das Gute gerade an und mit dem Wahren
gleichsam von selber wachsen kann, wenn man diesem auf rechtem Wege
nachgeht.

Der erste Anlaß dazu kam mir zufällig sehr früh, in der Zeit der ersten
Lesewut des Knaben, wo sich für das nachherige Denken die ersten, oft blei¬
benden Gleise in der Seele eingraben. Ich kam da zuerst mit über Theater¬
stücke, es waren die Stücke für Kinder in Weißes Kinderfreund, der damals
noch in Gunst war (der Verfasser war noch nicht dreißig Jahre tot), sie fesselten


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[0254] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. aber der Stamm, aus dem sie wuchsen und wachsen müssen, erhält einen Schnitt oder Hieb nach dem andern von der Hand jenes Zeitgeistes, der für ihn einen neuen pflanzen will. Man braucht nur an die Ideen zu denken, um die der große Kritiker in Königsberg seine Welt aufbaute, Gott. Unsterblichkeit, Frei¬ heit, um sich der vorgehenden Änderung bewußt zu werden, Ideen, gegen die von der Kritik von heute ein Schlag nach dem andern geführt wird, daß sie immer mehr in den Geistern Wanken oder fallen. Was ist also die Wahrheit, auf die sich die neue Welt einmal aufbauen soll? Man hat sie noch nicht, wohl noch lange nicht. Neue Systeme treten ja fast wöchentlich auf, und gewiß ist in jedem ein Stückchen von der gesuchten Wahrheit. Aber Wahrheit, in Stückchen hie und da zersplittert, ist nicht das Wahre, das nötig ist, um darauf ein Haus oder eine Stadt zu bauen, darin alle als gute Nachbarn Hausen oder als Gemeinde wohnen und wirken könnten; das müßte ein Wahres sein, das breit und fest durch die Lande ginge als allgemeiner Untergrund, wie es in glücklichen Zeiten ist. Wie weit wir davon entfernt sind, ist wohl klar, wenn ich verrate, daß man in Kreisen von Fach¬ philosophen hören kann, im Reiche der Philosophie herrsche jetzt eine wahre Anarchie. Wie fahren aber das Schöne und das Gute bei diesem Stande im Reiche des Wahren? Eins scheint mir sicher: sie können nicht darauf warten, bis das neue Wahre einmal fertig, bis es ein wirkliches Wahres fein wird. Dazu sind sie jeden Tag zu nötig für den Bestand des Ganzen. Und um das Schöne für jetzt aus dem Spiel zu lassen, für das Gute scheint man auch in den Kreisen der Denker vom Fach nachgerade etwas bange zu werden bei dem Gange der Dinge, wenn man nach dem Gewicht urteilen darf, das da jetzt der Ethik beige¬ legt wird, und nach der Mühe, die man jetzt darauf verwendet, dem Geheimnis des Guten metaphysisch und historisch nahe zu kommen. Freilich aber, das Gute selber kann auch nicht warten, bis diese Arbeit einmal bei ihrem Ziele sein wird, für das doch auch eine Einigung wenigstens der maßgebenden Forscher vorauszusetzen wäre und was nicht alles noch, bis die Erkenntnis ihre tägliche Wirkung im Leben haben könnte, also ihr wahres Ziel ergriffe. Da habe ich denn für den Hausgebrauch eine Betrachtung zur Hand, die mir eben aus der Bangigkeit kam, in die einen jener Stand der Dinge wohl versetzen kann, eine Betrachtung, wie das Gute gerade an und mit dem Wahren gleichsam von selber wachsen kann, wenn man diesem auf rechtem Wege nachgeht. Der erste Anlaß dazu kam mir zufällig sehr früh, in der Zeit der ersten Lesewut des Knaben, wo sich für das nachherige Denken die ersten, oft blei¬ benden Gleise in der Seele eingraben. Ich kam da zuerst mit über Theater¬ stücke, es waren die Stücke für Kinder in Weißes Kinderfreund, der damals noch in Gunst war (der Verfasser war noch nicht dreißig Jahre tot), sie fesselten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/254>, abgerufen am 22.06.2024.