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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

engste zusammengehörten und einander zustrebten wie von einem gemeinsamen
Mittelpunkte bestimmt. Und so war es denn auch und muß auch wieder so
werden. Jetzt dagegen erscheint ihr enges Verhältnis oft wie unsicher geworden
oder gar in der Lösung begriffen, als ob sie auseinander strebten und sich inner¬
lich nichts weiter angingen, wohl gar einander abstießen.

Ein andrer Wechsel in ihrem Verhältnis ist alt und liegt in der natür¬
lichen Frage nach ihrer Rangordnung. Eigentlich natürlich ist diese Rangfrage
freilich nicht, sondern zufällig, weil man beim Aufzählen in Wort oder Ge¬
danken doch eins zuerst nehmen muß, was sich denn nach ihrer augenblicklichen
Wertschätzung richtet. Aber man thut, glaube ich, nicht recht, sie sich ernstlich
in einer Linie stehend zu denken, ich denke mir sie schon lange im Kreise stehend,
also mit einem gemeinsamen Mittelpunkte, dem sie dienen und aus dem sie
quellen. Doch ist der Wechsel in der Rangordnung wiederum begreiflich und
dadurch bedingt, daß die wechselnden Bedürfnisse der Zeiten eine wechselnde
Voranstellung, ein lebhafteres Suchen des Einen oder Andern mit sich bringen.
So stellte man im Beginn der neueren Entwicklung das Gute voran (recht
nötig bei der Versumpfung, aus der sich die Zeit zunächst herauszuarbeiten hatte),
nachher erhielt das Schöne den ersten Rang (man war inzwischen in reinerer
Höhe angelangt), jetzt hat ihn unverkennbar das Wahre, und das Gute und
Schöne sollen für ihre letzte Herstellung darauf warten, bis man mit dem
Wahren im Reinen sein wird.

Das Wahre voran und über allem, wer wollte das an sich irrig finden?
Ganz und auf alle Fälle unwidersprechlich erscheint es so ausgesprochen! Ja
aber: wo und was ist das Wahre? Diese achselzuckende Frage, weltgeschicht¬
lich berühmt aus dem Munde des Römers dort in Jerusalem Jesu gegenüber,
liegt wieder einmal so in der Luft verbreitet und so aufdringlich, daß sie einem
alle Tage mit Bangigkeit aufstoßen kann, als ob das Festeste, auf das alles
Andere gebaut werden soll für den vorschwebenden Neubau, sich auflösen wollte
und damit alles. Damit war es doch im vorigen Jahrhundert auch besser be¬
stellt, wo sich das Suchen der berufenen Geister nach dem Wahren im Ganzen
als ein gemeinsames, sicheres Vorwärtsdringen nach einem bestimmten Ziel¬
punkte darstellt, den das allgemein gefühlte Bedürfnis der Zeit aufstellte und
der in Kant erreicht erscheint. Das war eine glückliche Zeit, in der auch das
Wahre, Schöne, Gute in den Geistern mit einer Einheit auftreten, wie wohl
selten, vielleicht nie in der Geschichte der Menschheit. Daher denn auch die köst¬
lichen Früchte, von denen wir Enkel noch genießen oder leben; es wäre übel be¬
stellt um den Haushalt unseres Geistes, wenn sie ausgeräumt und weggeworfen
werden sollten, und doch nagt nun auch der Zeitgeist, der der Führer zu der
neuen Welt sein will, an ihnen oder ist beim Wegwerfen, weil sie zu dem
Wahren nicht völlig stimmen wollen, das ihm vorschwebt. Sie müssen ja zu¬
gleich in uns nachwachsen, wenn sie lebengebende Früchte für uns sein sollen,


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

engste zusammengehörten und einander zustrebten wie von einem gemeinsamen
Mittelpunkte bestimmt. Und so war es denn auch und muß auch wieder so
werden. Jetzt dagegen erscheint ihr enges Verhältnis oft wie unsicher geworden
oder gar in der Lösung begriffen, als ob sie auseinander strebten und sich inner¬
lich nichts weiter angingen, wohl gar einander abstießen.

Ein andrer Wechsel in ihrem Verhältnis ist alt und liegt in der natür¬
lichen Frage nach ihrer Rangordnung. Eigentlich natürlich ist diese Rangfrage
freilich nicht, sondern zufällig, weil man beim Aufzählen in Wort oder Ge¬
danken doch eins zuerst nehmen muß, was sich denn nach ihrer augenblicklichen
Wertschätzung richtet. Aber man thut, glaube ich, nicht recht, sie sich ernstlich
in einer Linie stehend zu denken, ich denke mir sie schon lange im Kreise stehend,
also mit einem gemeinsamen Mittelpunkte, dem sie dienen und aus dem sie
quellen. Doch ist der Wechsel in der Rangordnung wiederum begreiflich und
dadurch bedingt, daß die wechselnden Bedürfnisse der Zeiten eine wechselnde
Voranstellung, ein lebhafteres Suchen des Einen oder Andern mit sich bringen.
So stellte man im Beginn der neueren Entwicklung das Gute voran (recht
nötig bei der Versumpfung, aus der sich die Zeit zunächst herauszuarbeiten hatte),
nachher erhielt das Schöne den ersten Rang (man war inzwischen in reinerer
Höhe angelangt), jetzt hat ihn unverkennbar das Wahre, und das Gute und
Schöne sollen für ihre letzte Herstellung darauf warten, bis man mit dem
Wahren im Reinen sein wird.

Das Wahre voran und über allem, wer wollte das an sich irrig finden?
Ganz und auf alle Fälle unwidersprechlich erscheint es so ausgesprochen! Ja
aber: wo und was ist das Wahre? Diese achselzuckende Frage, weltgeschicht¬
lich berühmt aus dem Munde des Römers dort in Jerusalem Jesu gegenüber,
liegt wieder einmal so in der Luft verbreitet und so aufdringlich, daß sie einem
alle Tage mit Bangigkeit aufstoßen kann, als ob das Festeste, auf das alles
Andere gebaut werden soll für den vorschwebenden Neubau, sich auflösen wollte
und damit alles. Damit war es doch im vorigen Jahrhundert auch besser be¬
stellt, wo sich das Suchen der berufenen Geister nach dem Wahren im Ganzen
als ein gemeinsames, sicheres Vorwärtsdringen nach einem bestimmten Ziel¬
punkte darstellt, den das allgemein gefühlte Bedürfnis der Zeit aufstellte und
der in Kant erreicht erscheint. Das war eine glückliche Zeit, in der auch das
Wahre, Schöne, Gute in den Geistern mit einer Einheit auftreten, wie wohl
selten, vielleicht nie in der Geschichte der Menschheit. Daher denn auch die köst¬
lichen Früchte, von denen wir Enkel noch genießen oder leben; es wäre übel be¬
stellt um den Haushalt unseres Geistes, wenn sie ausgeräumt und weggeworfen
werden sollten, und doch nagt nun auch der Zeitgeist, der der Führer zu der
neuen Welt sein will, an ihnen oder ist beim Wegwerfen, weil sie zu dem
Wahren nicht völlig stimmen wollen, das ihm vorschwebt. Sie müssen ja zu¬
gleich in uns nachwachsen, wenn sie lebengebende Früchte für uns sein sollen,


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[0253] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. engste zusammengehörten und einander zustrebten wie von einem gemeinsamen Mittelpunkte bestimmt. Und so war es denn auch und muß auch wieder so werden. Jetzt dagegen erscheint ihr enges Verhältnis oft wie unsicher geworden oder gar in der Lösung begriffen, als ob sie auseinander strebten und sich inner¬ lich nichts weiter angingen, wohl gar einander abstießen. Ein andrer Wechsel in ihrem Verhältnis ist alt und liegt in der natür¬ lichen Frage nach ihrer Rangordnung. Eigentlich natürlich ist diese Rangfrage freilich nicht, sondern zufällig, weil man beim Aufzählen in Wort oder Ge¬ danken doch eins zuerst nehmen muß, was sich denn nach ihrer augenblicklichen Wertschätzung richtet. Aber man thut, glaube ich, nicht recht, sie sich ernstlich in einer Linie stehend zu denken, ich denke mir sie schon lange im Kreise stehend, also mit einem gemeinsamen Mittelpunkte, dem sie dienen und aus dem sie quellen. Doch ist der Wechsel in der Rangordnung wiederum begreiflich und dadurch bedingt, daß die wechselnden Bedürfnisse der Zeiten eine wechselnde Voranstellung, ein lebhafteres Suchen des Einen oder Andern mit sich bringen. So stellte man im Beginn der neueren Entwicklung das Gute voran (recht nötig bei der Versumpfung, aus der sich die Zeit zunächst herauszuarbeiten hatte), nachher erhielt das Schöne den ersten Rang (man war inzwischen in reinerer Höhe angelangt), jetzt hat ihn unverkennbar das Wahre, und das Gute und Schöne sollen für ihre letzte Herstellung darauf warten, bis man mit dem Wahren im Reinen sein wird. Das Wahre voran und über allem, wer wollte das an sich irrig finden? Ganz und auf alle Fälle unwidersprechlich erscheint es so ausgesprochen! Ja aber: wo und was ist das Wahre? Diese achselzuckende Frage, weltgeschicht¬ lich berühmt aus dem Munde des Römers dort in Jerusalem Jesu gegenüber, liegt wieder einmal so in der Luft verbreitet und so aufdringlich, daß sie einem alle Tage mit Bangigkeit aufstoßen kann, als ob das Festeste, auf das alles Andere gebaut werden soll für den vorschwebenden Neubau, sich auflösen wollte und damit alles. Damit war es doch im vorigen Jahrhundert auch besser be¬ stellt, wo sich das Suchen der berufenen Geister nach dem Wahren im Ganzen als ein gemeinsames, sicheres Vorwärtsdringen nach einem bestimmten Ziel¬ punkte darstellt, den das allgemein gefühlte Bedürfnis der Zeit aufstellte und der in Kant erreicht erscheint. Das war eine glückliche Zeit, in der auch das Wahre, Schöne, Gute in den Geistern mit einer Einheit auftreten, wie wohl selten, vielleicht nie in der Geschichte der Menschheit. Daher denn auch die köst¬ lichen Früchte, von denen wir Enkel noch genießen oder leben; es wäre übel be¬ stellt um den Haushalt unseres Geistes, wenn sie ausgeräumt und weggeworfen werden sollten, und doch nagt nun auch der Zeitgeist, der der Führer zu der neuen Welt sein will, an ihnen oder ist beim Wegwerfen, weil sie zu dem Wahren nicht völlig stimmen wollen, das ihm vorschwebt. Sie müssen ja zu¬ gleich in uns nachwachsen, wenn sie lebengebende Früchte für uns sein sollen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/253>, abgerufen am 22.06.2024.