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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gskar von Redwitz und sein neuester Roman.

bald sinkt sie zur Trivialität einer Alltagsgeschichte herab, auf die man im ge¬
sellschaftlichen Kreise halb gläubig, halb ungläubig hinhört, weil man innere
Begründung, Voraussetzungen und Motive des Erzählten nicht deutlich erkennt.
Redwitz berichtet den Verlauf der Dinge, aber er besitzt nicht die Kraft, ihn
uns so vorzuführen, daß wir mitlebcnd, anleitend hineingezogen würden. Wir
erfahren eine Menge Äußerlichkeiten, aber an wenigen Stellen können wir nach¬
fühlen, wie sie entstanden sind, auf Charakter und Gemüt der Handelnden ein¬
gewirkt haben. Fortwährend thun sich, obwohl der äußern Gestalt nach gar
keine Unterbrechungen vorhanden sind, klaffende Lücken auf, fast durchgehend
werden die Charaktere mehr durch Versicherungen ihres Erfinders als durch
ihre Handlungen und Reden dargestellt. Die Erfindung des Romans verlangt
eine Fülle von Einzelleben, verlangt die Enthüllung der feinsten seelischen Be¬
ziehungen, in denen Menschen zu einander stehen, verlangt einen folgerichtigen
und logischen Nachweis des Zusammenhanges überreizter Phantasie, träumerischen
Müßigganges und leiblicher wie seelischer Zerrüttung. In der Hauptsache schenkt
der Verfasser dies alles sich und seinen Lesern, und wenn er einen Anlauf
nimmt, es unmittelbar lebendig und stimmungsvoll vorzuführen, bleibt er ge¬
wöhnlich auf halbem Wege stehen. Die sittliche Überzeugung, von der er erfüllt
ist und die er auf den Leser zu übertragen wünscht, läßt ihn übersehen, daß
der Leser die poetische Gewißheit all dieser Gestalten und Entwicklungen noch
nicht hat, nach ihr verlangt, und sie durch bloße Versicherungen, es sei so ge¬
wesen, es habe sich so verhalten, nicht empfängt. Wir können gern zugeben,
das alles sei möglich, wahrscheinlich, bedauerlich, schmerzlich oder rührend, aber
wir würden es lieber so empfinden und erleben, und gelangen doch nur in sehr
wenigen Teilen und Szenen des Romans dazu. Eine eigentümliche Unfähigkeit,
das vielleicht richtig angeschaute und mit Liebe erfaßte Leben entsprechend warm,
sinnlich greifbar, farbenreich und überzeugend wiederzugeben, ein starker Mangel
an Situationsreiz, der bei dem fein empfindenden Lyriker doppelt auffällt, eine
Nüchternheit des Vortrages, der nicht mehr klare Einfachheit ist, sondern be¬
denklich ans Platte streift, machen es unmöglich, dem Roman "Hymen" eine
andre als eine rasch vergängliche Wirkung zuzusprechen. Wir sind nicht der
Meinung der naturalistischen Ästhetiker, daß die Lebensanschauung und Ge¬
sinnung, mit der ein Dichter die Dinge erfaßt und zu gestalten beginnt, etwas
Gleichgiltiges oder Untergeordnetes sei. Daß sie jedoch den Mangel wirklichen
Gestaltungsvermögens, überzeugender künstlerischer Kraft nicht aufzuheben oder
auszugleichen vermag, das bringt uns Redwitzens "Hymen" wieder einmal em¬
pfindlich, und da wir uns der Achtung vor dem edeln Vorsatze und Willen des
Dichters nicht leichtfertig entschlagen können, schmerzlich zum Bewußtsein.


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Gskar von Redwitz und sein neuester Roman.

bald sinkt sie zur Trivialität einer Alltagsgeschichte herab, auf die man im ge¬
sellschaftlichen Kreise halb gläubig, halb ungläubig hinhört, weil man innere
Begründung, Voraussetzungen und Motive des Erzählten nicht deutlich erkennt.
Redwitz berichtet den Verlauf der Dinge, aber er besitzt nicht die Kraft, ihn
uns so vorzuführen, daß wir mitlebcnd, anleitend hineingezogen würden. Wir
erfahren eine Menge Äußerlichkeiten, aber an wenigen Stellen können wir nach¬
fühlen, wie sie entstanden sind, auf Charakter und Gemüt der Handelnden ein¬
gewirkt haben. Fortwährend thun sich, obwohl der äußern Gestalt nach gar
keine Unterbrechungen vorhanden sind, klaffende Lücken auf, fast durchgehend
werden die Charaktere mehr durch Versicherungen ihres Erfinders als durch
ihre Handlungen und Reden dargestellt. Die Erfindung des Romans verlangt
eine Fülle von Einzelleben, verlangt die Enthüllung der feinsten seelischen Be¬
ziehungen, in denen Menschen zu einander stehen, verlangt einen folgerichtigen
und logischen Nachweis des Zusammenhanges überreizter Phantasie, träumerischen
Müßigganges und leiblicher wie seelischer Zerrüttung. In der Hauptsache schenkt
der Verfasser dies alles sich und seinen Lesern, und wenn er einen Anlauf
nimmt, es unmittelbar lebendig und stimmungsvoll vorzuführen, bleibt er ge¬
wöhnlich auf halbem Wege stehen. Die sittliche Überzeugung, von der er erfüllt
ist und die er auf den Leser zu übertragen wünscht, läßt ihn übersehen, daß
der Leser die poetische Gewißheit all dieser Gestalten und Entwicklungen noch
nicht hat, nach ihr verlangt, und sie durch bloße Versicherungen, es sei so ge¬
wesen, es habe sich so verhalten, nicht empfängt. Wir können gern zugeben,
das alles sei möglich, wahrscheinlich, bedauerlich, schmerzlich oder rührend, aber
wir würden es lieber so empfinden und erleben, und gelangen doch nur in sehr
wenigen Teilen und Szenen des Romans dazu. Eine eigentümliche Unfähigkeit,
das vielleicht richtig angeschaute und mit Liebe erfaßte Leben entsprechend warm,
sinnlich greifbar, farbenreich und überzeugend wiederzugeben, ein starker Mangel
an Situationsreiz, der bei dem fein empfindenden Lyriker doppelt auffällt, eine
Nüchternheit des Vortrages, der nicht mehr klare Einfachheit ist, sondern be¬
denklich ans Platte streift, machen es unmöglich, dem Roman „Hymen" eine
andre als eine rasch vergängliche Wirkung zuzusprechen. Wir sind nicht der
Meinung der naturalistischen Ästhetiker, daß die Lebensanschauung und Ge¬
sinnung, mit der ein Dichter die Dinge erfaßt und zu gestalten beginnt, etwas
Gleichgiltiges oder Untergeordnetes sei. Daß sie jedoch den Mangel wirklichen
Gestaltungsvermögens, überzeugender künstlerischer Kraft nicht aufzuheben oder
auszugleichen vermag, das bringt uns Redwitzens „Hymen" wieder einmal em¬
pfindlich, und da wir uns der Achtung vor dem edeln Vorsatze und Willen des
Dichters nicht leichtfertig entschlagen können, schmerzlich zum Bewußtsein.


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[0251] Gskar von Redwitz und sein neuester Roman. bald sinkt sie zur Trivialität einer Alltagsgeschichte herab, auf die man im ge¬ sellschaftlichen Kreise halb gläubig, halb ungläubig hinhört, weil man innere Begründung, Voraussetzungen und Motive des Erzählten nicht deutlich erkennt. Redwitz berichtet den Verlauf der Dinge, aber er besitzt nicht die Kraft, ihn uns so vorzuführen, daß wir mitlebcnd, anleitend hineingezogen würden. Wir erfahren eine Menge Äußerlichkeiten, aber an wenigen Stellen können wir nach¬ fühlen, wie sie entstanden sind, auf Charakter und Gemüt der Handelnden ein¬ gewirkt haben. Fortwährend thun sich, obwohl der äußern Gestalt nach gar keine Unterbrechungen vorhanden sind, klaffende Lücken auf, fast durchgehend werden die Charaktere mehr durch Versicherungen ihres Erfinders als durch ihre Handlungen und Reden dargestellt. Die Erfindung des Romans verlangt eine Fülle von Einzelleben, verlangt die Enthüllung der feinsten seelischen Be¬ ziehungen, in denen Menschen zu einander stehen, verlangt einen folgerichtigen und logischen Nachweis des Zusammenhanges überreizter Phantasie, träumerischen Müßigganges und leiblicher wie seelischer Zerrüttung. In der Hauptsache schenkt der Verfasser dies alles sich und seinen Lesern, und wenn er einen Anlauf nimmt, es unmittelbar lebendig und stimmungsvoll vorzuführen, bleibt er ge¬ wöhnlich auf halbem Wege stehen. Die sittliche Überzeugung, von der er erfüllt ist und die er auf den Leser zu übertragen wünscht, läßt ihn übersehen, daß der Leser die poetische Gewißheit all dieser Gestalten und Entwicklungen noch nicht hat, nach ihr verlangt, und sie durch bloße Versicherungen, es sei so ge¬ wesen, es habe sich so verhalten, nicht empfängt. Wir können gern zugeben, das alles sei möglich, wahrscheinlich, bedauerlich, schmerzlich oder rührend, aber wir würden es lieber so empfinden und erleben, und gelangen doch nur in sehr wenigen Teilen und Szenen des Romans dazu. Eine eigentümliche Unfähigkeit, das vielleicht richtig angeschaute und mit Liebe erfaßte Leben entsprechend warm, sinnlich greifbar, farbenreich und überzeugend wiederzugeben, ein starker Mangel an Situationsreiz, der bei dem fein empfindenden Lyriker doppelt auffällt, eine Nüchternheit des Vortrages, der nicht mehr klare Einfachheit ist, sondern be¬ denklich ans Platte streift, machen es unmöglich, dem Roman „Hymen" eine andre als eine rasch vergängliche Wirkung zuzusprechen. Wir sind nicht der Meinung der naturalistischen Ästhetiker, daß die Lebensanschauung und Ge¬ sinnung, mit der ein Dichter die Dinge erfaßt und zu gestalten beginnt, etwas Gleichgiltiges oder Untergeordnetes sei. Daß sie jedoch den Mangel wirklichen Gestaltungsvermögens, überzeugender künstlerischer Kraft nicht aufzuheben oder auszugleichen vermag, das bringt uns Redwitzens „Hymen" wieder einmal em¬ pfindlich, und da wir uns der Achtung vor dem edeln Vorsatze und Willen des Dichters nicht leichtfertig entschlagen können, schmerzlich zum Bewußtsein. »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/251>, abgerufen am 22.06.2024.