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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gskar von Redwitz und sein neuester Roman.

dem Romane liegt wirklich eine fruchtbare poetische Idee zu Grunde. Die Wahr¬
heit, daß in jeder Ehe die beiden, die sie schließen, zum eignen Schicksal ein
andres hinzunehmen und zu durchleben haben und umso höher stehen, je früher
sie von dieser Erkenntnis durchdrungen werden, die wundersam verschiedne Wirkung
der Ehe auf scheinbar gleiche Verhältnisse und endlich jene innerliche Unlöslichkcit
der Ehe, welche, unabhängig von kirchlichen und staatlichen Gesetzen, waltet und
sich geltend macht, im gcgenbildlichen Geschick einer ganzen Reihe von Gestalten
zu verkörpern, ist eine Aufgabe, des größten Dichters wert. Wenn der Gedanke
oder vielmehr der Gedankenkreis, um den es sich hier handelte, in rein künst¬
lerischer Form zu seinem vollen Rechte kommen sollte, müßte er "in einander
gegenübergestellten, sich in einander abspiegelnden Gebilden" (Goethe) dargestellt
werden. Jedoch auch in einfacherer Erzählungsform läßt er sich verkörpern,
und wenn ihm in solcher auch nur teilweise sein Recht würde, so schlösse dies
die tiefere poetische Wirkung nicht ans. Wären nur die Erfindung, die Ge¬
staltung der Geschichte vou unmittelbarem, überzeugenden Leben erfüllt, wären die
Menschen derselben individuell beseelt, wäre jene geheimnisvolle poetische Grund¬
stimmung vorhanden, welche aus dem gänzlichen Erfülltsein des Dichters von
seinem Gebilde wie eine Art Atmosphäre emporsteigt!

Von alledem ist nun leider in Redwitzens "Hymen" wenig oder nichts zu
spüren. Über der ganzen Erfindung und Gestaltung des Romans liegt ein
Hauch der UnWirklichkeit, der Unreife, welcher die letzten Absichten des Dichters
zerstört und angesichts der Weltkenntnis und Erfahrung, die Herr von Redwitz
haben muß, fast unbegreiflich sein würde, wenn man sich nicht erinnerte, wie
mächtig die überlieferten herkömmlichen Typen, Situationen und Phrasen in
der Litteratur namentlich dann sind, wenn neben dem poetischen ein tendenziöser
Zweck erreicht werden soll.

Der Held und die Heldin der traurig lehrreichen Begebenheit, neben welchen
alle übrigen Mithandelnden gewissermaßen als Nebenfiguren erscheinen, sind
Herr Werner von Goos und seine Gattin Irene, welche uns zu Beginn
des Buches als Fräulein Irene von Klinger-Welletz begegnet, die Tochter eines
biedern Laudedclmannspaares, das als völlig "normal" geschildert wird und
eigentlich ein wenig verwundert ist, wie es zu einer sinnig poetischen und schwär¬
merisch angehauchten Tochter kommt. "Leider" streift ein längerer Aufenthalt
in Berlin die praktischen Einwirkungen der Mutter vollends ab und befestigt das
junge Mädchen in ihrer schwärmerischen Lebensauffassung, und vor allem in
musikalischen Neigungen, die für ein wohlerzognes Landfräulein zu ernst und
zu tief sind. Werner von Goos ist ein junger Kavalier aus altem Hause,
einer der reichsten jungen Männer der Provinz, aber "mit müden, verschleierten
Augen, die auf einen ganz zcrfcchrnen, ja sogar unheimlichen Charakter deuten."
Er ist infolge einer grundverkchrten, vor allem unedelmcinnischen Erziehung,
eines bedenklichen Überschusses der Phantasie über Verstand und Willen und


Gskar von Redwitz und sein neuester Roman.

dem Romane liegt wirklich eine fruchtbare poetische Idee zu Grunde. Die Wahr¬
heit, daß in jeder Ehe die beiden, die sie schließen, zum eignen Schicksal ein
andres hinzunehmen und zu durchleben haben und umso höher stehen, je früher
sie von dieser Erkenntnis durchdrungen werden, die wundersam verschiedne Wirkung
der Ehe auf scheinbar gleiche Verhältnisse und endlich jene innerliche Unlöslichkcit
der Ehe, welche, unabhängig von kirchlichen und staatlichen Gesetzen, waltet und
sich geltend macht, im gcgenbildlichen Geschick einer ganzen Reihe von Gestalten
zu verkörpern, ist eine Aufgabe, des größten Dichters wert. Wenn der Gedanke
oder vielmehr der Gedankenkreis, um den es sich hier handelte, in rein künst¬
lerischer Form zu seinem vollen Rechte kommen sollte, müßte er „in einander
gegenübergestellten, sich in einander abspiegelnden Gebilden" (Goethe) dargestellt
werden. Jedoch auch in einfacherer Erzählungsform läßt er sich verkörpern,
und wenn ihm in solcher auch nur teilweise sein Recht würde, so schlösse dies
die tiefere poetische Wirkung nicht ans. Wären nur die Erfindung, die Ge¬
staltung der Geschichte vou unmittelbarem, überzeugenden Leben erfüllt, wären die
Menschen derselben individuell beseelt, wäre jene geheimnisvolle poetische Grund¬
stimmung vorhanden, welche aus dem gänzlichen Erfülltsein des Dichters von
seinem Gebilde wie eine Art Atmosphäre emporsteigt!

Von alledem ist nun leider in Redwitzens „Hymen" wenig oder nichts zu
spüren. Über der ganzen Erfindung und Gestaltung des Romans liegt ein
Hauch der UnWirklichkeit, der Unreife, welcher die letzten Absichten des Dichters
zerstört und angesichts der Weltkenntnis und Erfahrung, die Herr von Redwitz
haben muß, fast unbegreiflich sein würde, wenn man sich nicht erinnerte, wie
mächtig die überlieferten herkömmlichen Typen, Situationen und Phrasen in
der Litteratur namentlich dann sind, wenn neben dem poetischen ein tendenziöser
Zweck erreicht werden soll.

Der Held und die Heldin der traurig lehrreichen Begebenheit, neben welchen
alle übrigen Mithandelnden gewissermaßen als Nebenfiguren erscheinen, sind
Herr Werner von Goos und seine Gattin Irene, welche uns zu Beginn
des Buches als Fräulein Irene von Klinger-Welletz begegnet, die Tochter eines
biedern Laudedclmannspaares, das als völlig „normal" geschildert wird und
eigentlich ein wenig verwundert ist, wie es zu einer sinnig poetischen und schwär¬
merisch angehauchten Tochter kommt. „Leider" streift ein längerer Aufenthalt
in Berlin die praktischen Einwirkungen der Mutter vollends ab und befestigt das
junge Mädchen in ihrer schwärmerischen Lebensauffassung, und vor allem in
musikalischen Neigungen, die für ein wohlerzognes Landfräulein zu ernst und
zu tief sind. Werner von Goos ist ein junger Kavalier aus altem Hause,
einer der reichsten jungen Männer der Provinz, aber „mit müden, verschleierten
Augen, die auf einen ganz zcrfcchrnen, ja sogar unheimlichen Charakter deuten."
Er ist infolge einer grundverkchrten, vor allem unedelmcinnischen Erziehung,
eines bedenklichen Überschusses der Phantasie über Verstand und Willen und


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[0247] Gskar von Redwitz und sein neuester Roman. dem Romane liegt wirklich eine fruchtbare poetische Idee zu Grunde. Die Wahr¬ heit, daß in jeder Ehe die beiden, die sie schließen, zum eignen Schicksal ein andres hinzunehmen und zu durchleben haben und umso höher stehen, je früher sie von dieser Erkenntnis durchdrungen werden, die wundersam verschiedne Wirkung der Ehe auf scheinbar gleiche Verhältnisse und endlich jene innerliche Unlöslichkcit der Ehe, welche, unabhängig von kirchlichen und staatlichen Gesetzen, waltet und sich geltend macht, im gcgenbildlichen Geschick einer ganzen Reihe von Gestalten zu verkörpern, ist eine Aufgabe, des größten Dichters wert. Wenn der Gedanke oder vielmehr der Gedankenkreis, um den es sich hier handelte, in rein künst¬ lerischer Form zu seinem vollen Rechte kommen sollte, müßte er „in einander gegenübergestellten, sich in einander abspiegelnden Gebilden" (Goethe) dargestellt werden. Jedoch auch in einfacherer Erzählungsform läßt er sich verkörpern, und wenn ihm in solcher auch nur teilweise sein Recht würde, so schlösse dies die tiefere poetische Wirkung nicht ans. Wären nur die Erfindung, die Ge¬ staltung der Geschichte vou unmittelbarem, überzeugenden Leben erfüllt, wären die Menschen derselben individuell beseelt, wäre jene geheimnisvolle poetische Grund¬ stimmung vorhanden, welche aus dem gänzlichen Erfülltsein des Dichters von seinem Gebilde wie eine Art Atmosphäre emporsteigt! Von alledem ist nun leider in Redwitzens „Hymen" wenig oder nichts zu spüren. Über der ganzen Erfindung und Gestaltung des Romans liegt ein Hauch der UnWirklichkeit, der Unreife, welcher die letzten Absichten des Dichters zerstört und angesichts der Weltkenntnis und Erfahrung, die Herr von Redwitz haben muß, fast unbegreiflich sein würde, wenn man sich nicht erinnerte, wie mächtig die überlieferten herkömmlichen Typen, Situationen und Phrasen in der Litteratur namentlich dann sind, wenn neben dem poetischen ein tendenziöser Zweck erreicht werden soll. Der Held und die Heldin der traurig lehrreichen Begebenheit, neben welchen alle übrigen Mithandelnden gewissermaßen als Nebenfiguren erscheinen, sind Herr Werner von Goos und seine Gattin Irene, welche uns zu Beginn des Buches als Fräulein Irene von Klinger-Welletz begegnet, die Tochter eines biedern Laudedclmannspaares, das als völlig „normal" geschildert wird und eigentlich ein wenig verwundert ist, wie es zu einer sinnig poetischen und schwär¬ merisch angehauchten Tochter kommt. „Leider" streift ein längerer Aufenthalt in Berlin die praktischen Einwirkungen der Mutter vollends ab und befestigt das junge Mädchen in ihrer schwärmerischen Lebensauffassung, und vor allem in musikalischen Neigungen, die für ein wohlerzognes Landfräulein zu ernst und zu tief sind. Werner von Goos ist ein junger Kavalier aus altem Hause, einer der reichsten jungen Männer der Provinz, aber „mit müden, verschleierten Augen, die auf einen ganz zcrfcchrnen, ja sogar unheimlichen Charakter deuten." Er ist infolge einer grundverkchrten, vor allem unedelmcinnischen Erziehung, eines bedenklichen Überschusses der Phantasie über Verstand und Willen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/247>, abgerufen am 28.09.2024.