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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Oskar von Redwitz und sein neuester Roman,

Redwitz geradezu ein völlig andres Publikum, als das, welches vor Jahrzehnten
der "Amaranth" zugejauchzt und von dem Drama "Sieglinde" eine neue Ära
des deutschen Theaters erwartet hatte. Immer aber blieb das eigentümliche
Mißverhältnis zwischen dem bedeutenden und in gewissem Sinne anspruchsvollen
Namen des Dichters und zwischen Arbeiten bestehen, die diesen Namen schwerlich
begründet hätten. Im Vergleich mit zahlreichen andern Produkten der modernen
schönen Litteratur durften die genannten Werke Geltung beanspruchen, im Ver¬
gleich mit den Erwartungen, die man an Redwitzens erstes Auftreten geknüpft
hatte, hielten sie nicht Stich, Sobald man sie vonseiten der dichterischen Ab¬
sicht, auf die Lebensanschauung und innere Gesinnung hin prüfte, gehörten
sie zu deu vortrefflichsten Leistungen der jüngsten Litteraturperiode, sobald die
schöpferische Phantasie, die selbständige, ureigne Gestaltungskraft in Frage kam,
rückten sie zu jenen mittlern Werken herab, in denen ein Bestreben nach höhern
Wirkungen, bleibenden Eindrücken dem Hörer und Leser fast schmerzlich fühlbar
wird. Ein fein subjektives Element spricht aus derartigen Werken den empfäng¬
lichen Sinn gewimieud an, wirft Licht auf einzelne Situationen und verklärt die
Züge der Gestalten in gewissen Augenblicken. Unmittelbar darauf aber sieht
sich der Teilnehmende wieder in Schatten und Nebel versetzt, erblickt statt leben¬
diger und fesselnder Menschengesichter wieder die typischen Striche, welche Ge¬
sichter andeuten sollen.

Leider gilt dies alles, ja sogar in verstärktem Maße, von dem neuen Romane
Hymen (Berlin, W. Hertz), welchen Redwitz vor kurzem veröffentlicht hat. Wenn
eine Anzahl von Kritikern und Referenten ihn als ein vortreffliches Werk rühmt,
so braucht dabei nicht notwendig bewußte Unwahrheit vorzuliegen. Sehr viele
Menschen habe" sich längst gewöhnt, das Zeichen für die Sache zu nehmen und
die Absicht bei einem poetischen Werke für die Ausführung gelten zu lassen.
Fragt man dem neuesten Romane des Dichters gegenüber lediglich nach der Ab¬
sicht, hält man sich an den edeln Ernst, welcher die Erfindung von "Hymen"
geleitet hat, vergegenwärtigt man sich vor allem andern den tiefen Glauben
des Verfassers an die Kraft und Wirkung reiner Lcbensmächte, betont man
endlich einzelne sehr hübsche und anmutige Bilder und Wendungen, fo kann
man wohl zu einem günstigen Ergebnis gelangen. Ohnehin ist es eine üble,
aber weitverbreitete Kritikergewohnheit, den Maßstab bald zu verkürzen, bald zu
verlängern, und während sich der Parteigegner gefallen lassen muß, sein Werk
mit dem längsten gemessen zu sehen, hat nach der Meinung vieler der Partei-
gcnosse Anspruch darauf, den kürzesten angelegt zu erhalten. Doch damit ist
nichts gewonnen. Daß ein Buch von Redwitz sich vom Leihbibliothekenfutter
unterscheiden wird und muß, weiß der verständige Leser, ehe er es aufschlägt.
Daß auch "Hymen" sich dieser an sich nicht großen Auszeichnung erfreut und
daneben von den vortrefflichsten Lebensgrundsätzen erfüllt ist, braucht wohl kaum
erst hervorgehoben zu werden. Und was in ästhetischem Sinne mehr bedeutet:


Oskar von Redwitz und sein neuester Roman,

Redwitz geradezu ein völlig andres Publikum, als das, welches vor Jahrzehnten
der „Amaranth" zugejauchzt und von dem Drama „Sieglinde" eine neue Ära
des deutschen Theaters erwartet hatte. Immer aber blieb das eigentümliche
Mißverhältnis zwischen dem bedeutenden und in gewissem Sinne anspruchsvollen
Namen des Dichters und zwischen Arbeiten bestehen, die diesen Namen schwerlich
begründet hätten. Im Vergleich mit zahlreichen andern Produkten der modernen
schönen Litteratur durften die genannten Werke Geltung beanspruchen, im Ver¬
gleich mit den Erwartungen, die man an Redwitzens erstes Auftreten geknüpft
hatte, hielten sie nicht Stich, Sobald man sie vonseiten der dichterischen Ab¬
sicht, auf die Lebensanschauung und innere Gesinnung hin prüfte, gehörten
sie zu deu vortrefflichsten Leistungen der jüngsten Litteraturperiode, sobald die
schöpferische Phantasie, die selbständige, ureigne Gestaltungskraft in Frage kam,
rückten sie zu jenen mittlern Werken herab, in denen ein Bestreben nach höhern
Wirkungen, bleibenden Eindrücken dem Hörer und Leser fast schmerzlich fühlbar
wird. Ein fein subjektives Element spricht aus derartigen Werken den empfäng¬
lichen Sinn gewimieud an, wirft Licht auf einzelne Situationen und verklärt die
Züge der Gestalten in gewissen Augenblicken. Unmittelbar darauf aber sieht
sich der Teilnehmende wieder in Schatten und Nebel versetzt, erblickt statt leben¬
diger und fesselnder Menschengesichter wieder die typischen Striche, welche Ge¬
sichter andeuten sollen.

Leider gilt dies alles, ja sogar in verstärktem Maße, von dem neuen Romane
Hymen (Berlin, W. Hertz), welchen Redwitz vor kurzem veröffentlicht hat. Wenn
eine Anzahl von Kritikern und Referenten ihn als ein vortreffliches Werk rühmt,
so braucht dabei nicht notwendig bewußte Unwahrheit vorzuliegen. Sehr viele
Menschen habe» sich längst gewöhnt, das Zeichen für die Sache zu nehmen und
die Absicht bei einem poetischen Werke für die Ausführung gelten zu lassen.
Fragt man dem neuesten Romane des Dichters gegenüber lediglich nach der Ab¬
sicht, hält man sich an den edeln Ernst, welcher die Erfindung von „Hymen"
geleitet hat, vergegenwärtigt man sich vor allem andern den tiefen Glauben
des Verfassers an die Kraft und Wirkung reiner Lcbensmächte, betont man
endlich einzelne sehr hübsche und anmutige Bilder und Wendungen, fo kann
man wohl zu einem günstigen Ergebnis gelangen. Ohnehin ist es eine üble,
aber weitverbreitete Kritikergewohnheit, den Maßstab bald zu verkürzen, bald zu
verlängern, und während sich der Parteigegner gefallen lassen muß, sein Werk
mit dem längsten gemessen zu sehen, hat nach der Meinung vieler der Partei-
gcnosse Anspruch darauf, den kürzesten angelegt zu erhalten. Doch damit ist
nichts gewonnen. Daß ein Buch von Redwitz sich vom Leihbibliothekenfutter
unterscheiden wird und muß, weiß der verständige Leser, ehe er es aufschlägt.
Daß auch „Hymen" sich dieser an sich nicht großen Auszeichnung erfreut und
daneben von den vortrefflichsten Lebensgrundsätzen erfüllt ist, braucht wohl kaum
erst hervorgehoben zu werden. Und was in ästhetischem Sinne mehr bedeutet:


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[0246] Oskar von Redwitz und sein neuester Roman, Redwitz geradezu ein völlig andres Publikum, als das, welches vor Jahrzehnten der „Amaranth" zugejauchzt und von dem Drama „Sieglinde" eine neue Ära des deutschen Theaters erwartet hatte. Immer aber blieb das eigentümliche Mißverhältnis zwischen dem bedeutenden und in gewissem Sinne anspruchsvollen Namen des Dichters und zwischen Arbeiten bestehen, die diesen Namen schwerlich begründet hätten. Im Vergleich mit zahlreichen andern Produkten der modernen schönen Litteratur durften die genannten Werke Geltung beanspruchen, im Ver¬ gleich mit den Erwartungen, die man an Redwitzens erstes Auftreten geknüpft hatte, hielten sie nicht Stich, Sobald man sie vonseiten der dichterischen Ab¬ sicht, auf die Lebensanschauung und innere Gesinnung hin prüfte, gehörten sie zu deu vortrefflichsten Leistungen der jüngsten Litteraturperiode, sobald die schöpferische Phantasie, die selbständige, ureigne Gestaltungskraft in Frage kam, rückten sie zu jenen mittlern Werken herab, in denen ein Bestreben nach höhern Wirkungen, bleibenden Eindrücken dem Hörer und Leser fast schmerzlich fühlbar wird. Ein fein subjektives Element spricht aus derartigen Werken den empfäng¬ lichen Sinn gewimieud an, wirft Licht auf einzelne Situationen und verklärt die Züge der Gestalten in gewissen Augenblicken. Unmittelbar darauf aber sieht sich der Teilnehmende wieder in Schatten und Nebel versetzt, erblickt statt leben¬ diger und fesselnder Menschengesichter wieder die typischen Striche, welche Ge¬ sichter andeuten sollen. Leider gilt dies alles, ja sogar in verstärktem Maße, von dem neuen Romane Hymen (Berlin, W. Hertz), welchen Redwitz vor kurzem veröffentlicht hat. Wenn eine Anzahl von Kritikern und Referenten ihn als ein vortreffliches Werk rühmt, so braucht dabei nicht notwendig bewußte Unwahrheit vorzuliegen. Sehr viele Menschen habe» sich längst gewöhnt, das Zeichen für die Sache zu nehmen und die Absicht bei einem poetischen Werke für die Ausführung gelten zu lassen. Fragt man dem neuesten Romane des Dichters gegenüber lediglich nach der Ab¬ sicht, hält man sich an den edeln Ernst, welcher die Erfindung von „Hymen" geleitet hat, vergegenwärtigt man sich vor allem andern den tiefen Glauben des Verfassers an die Kraft und Wirkung reiner Lcbensmächte, betont man endlich einzelne sehr hübsche und anmutige Bilder und Wendungen, fo kann man wohl zu einem günstigen Ergebnis gelangen. Ohnehin ist es eine üble, aber weitverbreitete Kritikergewohnheit, den Maßstab bald zu verkürzen, bald zu verlängern, und während sich der Parteigegner gefallen lassen muß, sein Werk mit dem längsten gemessen zu sehen, hat nach der Meinung vieler der Partei- gcnosse Anspruch darauf, den kürzesten angelegt zu erhalten. Doch damit ist nichts gewonnen. Daß ein Buch von Redwitz sich vom Leihbibliothekenfutter unterscheiden wird und muß, weiß der verständige Leser, ehe er es aufschlägt. Daß auch „Hymen" sich dieser an sich nicht großen Auszeichnung erfreut und daneben von den vortrefflichsten Lebensgrundsätzen erfüllt ist, braucht wohl kaum erst hervorgehoben zu werden. Und was in ästhetischem Sinne mehr bedeutet:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/246>, abgerufen am 21.10.2024.