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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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und aus diesem bald ein Kaiser wurde, vielfach als hohe Weisheit gepriesen.
Seltsam genug erlebte Grevy den Tag, wo ihm dieselbe Stellung zu Teil
wurde, welche er damals nicht bloß als überflüssig, sondern auch als gefährlich
für die Republik bezeichnet hatte. Indes verwaltete er sein Amt als Präsident
bis auf die letzte Krisis durchaus im Sinne seiner ursprünglichen Idee. Er
bemühte sich, nach Möglichkeit nur Titel und Ornament zu sein, er zeigte nie
und nirgends, daß er eine eigne Ansicht und einen eignen Willen habe, er
empfing all sein Licht vom Parlament. Neutraler als der gewissenhafteste
konstitutionelle Monarch, nahm er bereitwillig jeden Minister an, welcher der
Mehrheit der Gesetzgebung recht zu sein schien. Der Fall des Ministeriums
Goblet aber machte dieser Entsagung und Zurückhaltung ein Ende. Er zeigte
sich seitdem in einer ganz neuen Rolle, in welcher er wählte und ablehnte und
bisweilen seiner Abneigung gegen einzelne Ministerkandidaten einen Ausdruck
gab, der an Hartnäckigkeit grenzte. Das neue Kabinet ist ihm nicht von der
Deputirtenkammer gegeben, sondern von ihm gewählt worden. Die Not zwang
ihn zu diesem Wege, aber es ist fraglich, wie weit und wohin er auf ihm
kommen wird. Präsident Grevy scheint fortan etwa wie der Präsident der
Vereinigten Staaten "regieren" zu wollen, der sich selbst seine obersten Exekutiv¬
beamten sucht und nicht an Übereinstimmung seiner Wahl mit dem Willen des
Repräsentantenhauses gebunden ist. Was für Umstände haben ihn zu solchem
Aufgeben seiner bisherigen Gewohnheiten bewogen? Was hat ihn zu dieser
Abwendung von dem obersten Grundsatze des Parlamentarismus genötigt?
Die Antwort lautet: die innere wie die auswärtige Lage Frankreichs. Im
Innern haben die gemäßigten Republikaner ihr Programm verwirklicht. Die
Franzosen erfreuen sich aller Segnungen, welche diese Partei in ihrer Mappe
führte: sie besitzen das allgemeine Stimmrecht, gewählte Regierer, verantwort¬
liche Minister, die freieste Presse, unbeschränktes Vereins- und Versammluugs-
rccht und einen von der Kirche vollständig abgelösten Unterricht, kurz alles,
was die Liberalsten nnter dem Kaiserreiche verlangten. Es giebt indes ein
radikales Programm, welches weitergehende Forderungen erhebt und hinter
welchem eine Partei steht, die allerdings fast nur in Paris und andern Gro߬
städten viele Anhänger zählt, sie aber hier dicht beisummen hat und das, was
ihr an der Zahl mangelt, durch Ungestüm und Rücksichtslosigkeit ersetzt. Hier
verlangt man vor allem Aufhebung des Konkordats mit Rom, vollständige
Trennung des Staates von der Kirche und Beseitigung des Budgets für die
Angelegenheiten des Kultus, d. h. Streichung aller Ausgaben des Staates für
Geistliche und kirchliche Anstalten ohne irgendwelche Entschädigung. Das wäre
eine offenbare Ungerechtigkeit, eine einfache Beraubung. Zur Zeit der ersten
Revolution besaß die katholische Kirche in Frankreich sehr bedeutende Güter,
durch Zwangsverfahren bewog man sie, diese herzugeben, wogegen sie bestimmte
Ansprüche an die Staatskasse erwarb, welche ihr die Erhaltung ihres Gottes-


und aus diesem bald ein Kaiser wurde, vielfach als hohe Weisheit gepriesen.
Seltsam genug erlebte Grevy den Tag, wo ihm dieselbe Stellung zu Teil
wurde, welche er damals nicht bloß als überflüssig, sondern auch als gefährlich
für die Republik bezeichnet hatte. Indes verwaltete er sein Amt als Präsident
bis auf die letzte Krisis durchaus im Sinne seiner ursprünglichen Idee. Er
bemühte sich, nach Möglichkeit nur Titel und Ornament zu sein, er zeigte nie
und nirgends, daß er eine eigne Ansicht und einen eignen Willen habe, er
empfing all sein Licht vom Parlament. Neutraler als der gewissenhafteste
konstitutionelle Monarch, nahm er bereitwillig jeden Minister an, welcher der
Mehrheit der Gesetzgebung recht zu sein schien. Der Fall des Ministeriums
Goblet aber machte dieser Entsagung und Zurückhaltung ein Ende. Er zeigte
sich seitdem in einer ganz neuen Rolle, in welcher er wählte und ablehnte und
bisweilen seiner Abneigung gegen einzelne Ministerkandidaten einen Ausdruck
gab, der an Hartnäckigkeit grenzte. Das neue Kabinet ist ihm nicht von der
Deputirtenkammer gegeben, sondern von ihm gewählt worden. Die Not zwang
ihn zu diesem Wege, aber es ist fraglich, wie weit und wohin er auf ihm
kommen wird. Präsident Grevy scheint fortan etwa wie der Präsident der
Vereinigten Staaten „regieren" zu wollen, der sich selbst seine obersten Exekutiv¬
beamten sucht und nicht an Übereinstimmung seiner Wahl mit dem Willen des
Repräsentantenhauses gebunden ist. Was für Umstände haben ihn zu solchem
Aufgeben seiner bisherigen Gewohnheiten bewogen? Was hat ihn zu dieser
Abwendung von dem obersten Grundsatze des Parlamentarismus genötigt?
Die Antwort lautet: die innere wie die auswärtige Lage Frankreichs. Im
Innern haben die gemäßigten Republikaner ihr Programm verwirklicht. Die
Franzosen erfreuen sich aller Segnungen, welche diese Partei in ihrer Mappe
führte: sie besitzen das allgemeine Stimmrecht, gewählte Regierer, verantwort¬
liche Minister, die freieste Presse, unbeschränktes Vereins- und Versammluugs-
rccht und einen von der Kirche vollständig abgelösten Unterricht, kurz alles,
was die Liberalsten nnter dem Kaiserreiche verlangten. Es giebt indes ein
radikales Programm, welches weitergehende Forderungen erhebt und hinter
welchem eine Partei steht, die allerdings fast nur in Paris und andern Gro߬
städten viele Anhänger zählt, sie aber hier dicht beisummen hat und das, was
ihr an der Zahl mangelt, durch Ungestüm und Rücksichtslosigkeit ersetzt. Hier
verlangt man vor allem Aufhebung des Konkordats mit Rom, vollständige
Trennung des Staates von der Kirche und Beseitigung des Budgets für die
Angelegenheiten des Kultus, d. h. Streichung aller Ausgaben des Staates für
Geistliche und kirchliche Anstalten ohne irgendwelche Entschädigung. Das wäre
eine offenbare Ungerechtigkeit, eine einfache Beraubung. Zur Zeit der ersten
Revolution besaß die katholische Kirche in Frankreich sehr bedeutende Güter,
durch Zwangsverfahren bewog man sie, diese herzugeben, wogegen sie bestimmte
Ansprüche an die Staatskasse erwarb, welche ihr die Erhaltung ihres Gottes-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/538>, abgerufen am 17.09.2024.