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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Russische Skizzen,

liegt, mit ganzer Energie bemächtigt, und zwar keineswegs erst seit Peter dem
Großen, denn die schwedische Herrschaft bildet hier nnr eine kaum hundertjährige
Episode. Es wäre ein großer Irrtum, Petersburg so schlechthin als eine künst¬
liche Schöpfung zu bezeichnen; wie wäre es auch sonst in den noch nicht zwei-
hundert Jahren seines Bestehens auf eine Einwohnerzahl von fast einer Million
gewachsen! -- es ist vielmehr die glänzende Erbin des alten stolzen Groß-
Nowgvrod, und nur eine unerhörte, höchst unwahrscheinliche Katastrophe könnte
die russische Macht von diesem Posten und aus ihren baltischen Vorlanden
wieder vertreiben, die sie nicht entbehren kann, so wenig wie diese ohne ihr
weites Hinterland zu bestehen vermöchten.

Denn, wie abendländisch sich vieles auch aufnehmen mag, wie sehr Peters¬
burg an nationalrussischem Gehalt hinter Moskau zurücksteht, der Thpus des
Straßen- und Volkslebens ist doch auch hier durchaus russisch. Zwar leben
5l)--60 000 Deutsche in der Stadt, zum Teil in angesehenen amtlichen Stel¬
lungen oder an der Spitze großer Geschäfte, Fabriken und Speditionsfirmen,
sodaß Petersburg wirklich als eine Art deutscher Kolonie erscheinen kann, eine
verspätete Gründung hansischen Unternehmungsgeistes; aber es wäre ganz falsch,
es sich deshalb als halbdeutsch vorzustellen oder zu glauben, man könne,
etwa wie in Kopenhagen, jeden Gebildeten auf gut Glück deutsch anreden oder
in jedem Geschäfte deutsch sprechen. Das ist keineswegs der Fall. Russisch
und nur russisch sind die Straßeuaufschriften, mit verschwindenden Ausnahmen
auch die Firmen, unter denen relativ nur sehr wenige dvppelsprachige sich finden,
so viele Geschäftsinhaber auch deutsche Namen tragen. Nur die zahlreiche"
Buchhandlungen zeigen in ihren Auslagen deutsche Literatur in Masse, und
zwei selbständige Zeitungen erscheinen ausschließlich in deutscher Sprache, der
"Herold" und die "Se. Petersburger Zeitung," während das französische .7c>uriM
as 3t. ?ötörsbc>in'A Negierungsorgan ist. Ganz und gar russisches Gepräge
trägt vor allem auch der Fahrverkehr, besonders seine wichtigsten Vermittler,
die "Jswoschtschik," die Droschkenkutscher (das Wort bedeutet ebenso den Rossc-
lenker wie das Gefährt). Da hocken diese echt nationalen Charakterfiguren auf
dem Bock ihres kleinen offnen, kaum zweisitzigen Wagens mit dem Pferde in
der Gabel und im Bogen (Duga), an dem das Glöckchen hängt, sie selbst im
langen, dunkelblauen Kasten, um den Leib die bunte Binde, auf dein oft wenig
gepflegten, meist blonden Haar den sonderbar geformten, niedrigen, schmcll-
krämpigcn, schwarzen Filzhut, Leute des verschiedensten Alters, vom graubärtigen
Greise bis zum halbwüchsigen Knaben herab. Sie haben keine festen Standorte,
keine Taxe, aber sie sind überall; sie bieten, wenn sie irgend welches Bedürfnis
des Wanderers voraussetzen -- und ein solches pflegt sich bei den ungeheuern
Entfernungen Petersburgs sehr bald einzustellen -- mit unerschöpflicher Bered¬
samkeit ihre Dienste an, besonders an den Bahnhöfen und vor den Hotels,
immer freundlich, gutmütig, dankbar für eine kleine Extravergütung, an die sie


Russische Skizzen,

liegt, mit ganzer Energie bemächtigt, und zwar keineswegs erst seit Peter dem
Großen, denn die schwedische Herrschaft bildet hier nnr eine kaum hundertjährige
Episode. Es wäre ein großer Irrtum, Petersburg so schlechthin als eine künst¬
liche Schöpfung zu bezeichnen; wie wäre es auch sonst in den noch nicht zwei-
hundert Jahren seines Bestehens auf eine Einwohnerzahl von fast einer Million
gewachsen! — es ist vielmehr die glänzende Erbin des alten stolzen Groß-
Nowgvrod, und nur eine unerhörte, höchst unwahrscheinliche Katastrophe könnte
die russische Macht von diesem Posten und aus ihren baltischen Vorlanden
wieder vertreiben, die sie nicht entbehren kann, so wenig wie diese ohne ihr
weites Hinterland zu bestehen vermöchten.

Denn, wie abendländisch sich vieles auch aufnehmen mag, wie sehr Peters¬
burg an nationalrussischem Gehalt hinter Moskau zurücksteht, der Thpus des
Straßen- und Volkslebens ist doch auch hier durchaus russisch. Zwar leben
5l)—60 000 Deutsche in der Stadt, zum Teil in angesehenen amtlichen Stel¬
lungen oder an der Spitze großer Geschäfte, Fabriken und Speditionsfirmen,
sodaß Petersburg wirklich als eine Art deutscher Kolonie erscheinen kann, eine
verspätete Gründung hansischen Unternehmungsgeistes; aber es wäre ganz falsch,
es sich deshalb als halbdeutsch vorzustellen oder zu glauben, man könne,
etwa wie in Kopenhagen, jeden Gebildeten auf gut Glück deutsch anreden oder
in jedem Geschäfte deutsch sprechen. Das ist keineswegs der Fall. Russisch
und nur russisch sind die Straßeuaufschriften, mit verschwindenden Ausnahmen
auch die Firmen, unter denen relativ nur sehr wenige dvppelsprachige sich finden,
so viele Geschäftsinhaber auch deutsche Namen tragen. Nur die zahlreiche»
Buchhandlungen zeigen in ihren Auslagen deutsche Literatur in Masse, und
zwei selbständige Zeitungen erscheinen ausschließlich in deutscher Sprache, der
„Herold" und die „Se. Petersburger Zeitung," während das französische .7c>uriM
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trägt vor allem auch der Fahrverkehr, besonders seine wichtigsten Vermittler,
die „Jswoschtschik," die Droschkenkutscher (das Wort bedeutet ebenso den Rossc-
lenker wie das Gefährt). Da hocken diese echt nationalen Charakterfiguren auf
dem Bock ihres kleinen offnen, kaum zweisitzigen Wagens mit dem Pferde in
der Gabel und im Bogen (Duga), an dem das Glöckchen hängt, sie selbst im
langen, dunkelblauen Kasten, um den Leib die bunte Binde, auf dein oft wenig
gepflegten, meist blonden Haar den sonderbar geformten, niedrigen, schmcll-
krämpigcn, schwarzen Filzhut, Leute des verschiedensten Alters, vom graubärtigen
Greise bis zum halbwüchsigen Knaben herab. Sie haben keine festen Standorte,
keine Taxe, aber sie sind überall; sie bieten, wenn sie irgend welches Bedürfnis
des Wanderers voraussetzen — und ein solches pflegt sich bei den ungeheuern
Entfernungen Petersburgs sehr bald einzustellen — mit unerschöpflicher Bered¬
samkeit ihre Dienste an, besonders an den Bahnhöfen und vor den Hotels,
immer freundlich, gutmütig, dankbar für eine kleine Extravergütung, an die sie


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[0444] Russische Skizzen, liegt, mit ganzer Energie bemächtigt, und zwar keineswegs erst seit Peter dem Großen, denn die schwedische Herrschaft bildet hier nnr eine kaum hundertjährige Episode. Es wäre ein großer Irrtum, Petersburg so schlechthin als eine künst¬ liche Schöpfung zu bezeichnen; wie wäre es auch sonst in den noch nicht zwei- hundert Jahren seines Bestehens auf eine Einwohnerzahl von fast einer Million gewachsen! — es ist vielmehr die glänzende Erbin des alten stolzen Groß- Nowgvrod, und nur eine unerhörte, höchst unwahrscheinliche Katastrophe könnte die russische Macht von diesem Posten und aus ihren baltischen Vorlanden wieder vertreiben, die sie nicht entbehren kann, so wenig wie diese ohne ihr weites Hinterland zu bestehen vermöchten. Denn, wie abendländisch sich vieles auch aufnehmen mag, wie sehr Peters¬ burg an nationalrussischem Gehalt hinter Moskau zurücksteht, der Thpus des Straßen- und Volkslebens ist doch auch hier durchaus russisch. Zwar leben 5l)—60 000 Deutsche in der Stadt, zum Teil in angesehenen amtlichen Stel¬ lungen oder an der Spitze großer Geschäfte, Fabriken und Speditionsfirmen, sodaß Petersburg wirklich als eine Art deutscher Kolonie erscheinen kann, eine verspätete Gründung hansischen Unternehmungsgeistes; aber es wäre ganz falsch, es sich deshalb als halbdeutsch vorzustellen oder zu glauben, man könne, etwa wie in Kopenhagen, jeden Gebildeten auf gut Glück deutsch anreden oder in jedem Geschäfte deutsch sprechen. Das ist keineswegs der Fall. Russisch und nur russisch sind die Straßeuaufschriften, mit verschwindenden Ausnahmen auch die Firmen, unter denen relativ nur sehr wenige dvppelsprachige sich finden, so viele Geschäftsinhaber auch deutsche Namen tragen. Nur die zahlreiche» Buchhandlungen zeigen in ihren Auslagen deutsche Literatur in Masse, und zwei selbständige Zeitungen erscheinen ausschließlich in deutscher Sprache, der „Herold" und die „Se. Petersburger Zeitung," während das französische .7c>uriM as 3t. ?ötörsbc>in'A Negierungsorgan ist. Ganz und gar russisches Gepräge trägt vor allem auch der Fahrverkehr, besonders seine wichtigsten Vermittler, die „Jswoschtschik," die Droschkenkutscher (das Wort bedeutet ebenso den Rossc- lenker wie das Gefährt). Da hocken diese echt nationalen Charakterfiguren auf dem Bock ihres kleinen offnen, kaum zweisitzigen Wagens mit dem Pferde in der Gabel und im Bogen (Duga), an dem das Glöckchen hängt, sie selbst im langen, dunkelblauen Kasten, um den Leib die bunte Binde, auf dein oft wenig gepflegten, meist blonden Haar den sonderbar geformten, niedrigen, schmcll- krämpigcn, schwarzen Filzhut, Leute des verschiedensten Alters, vom graubärtigen Greise bis zum halbwüchsigen Knaben herab. Sie haben keine festen Standorte, keine Taxe, aber sie sind überall; sie bieten, wenn sie irgend welches Bedürfnis des Wanderers voraussetzen — und ein solches pflegt sich bei den ungeheuern Entfernungen Petersburgs sehr bald einzustellen — mit unerschöpflicher Bered¬ samkeit ihre Dienste an, besonders an den Bahnhöfen und vor den Hotels, immer freundlich, gutmütig, dankbar für eine kleine Extravergütung, an die sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/444>, abgerufen am 17.09.2024.