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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Aus demselben Grunde ist es falsch, sich das Sittengesetz aus dem rohen
Naturzustande des Menschen entwickeln zu lassen. Die Erfahrung zeigt uns
heute noch Völkerstämme genug, die niemals durch die Belehrung höher kul-
tivirter Genossen auf eine edlere Stufe der Gesittung emporgehoben wurden.
Wo es aber geschehen ist, da führen überall die Überlieferungen nicht auf eine
langsam fortschreitende Entwicklung der religiösen und sittlichen Begriffe zurück,
sondern auf gewaltige große Gesetzgeber und Religionsstifter, die man nicht
ohne Grund mit göttlichen Ehren bedachte und feierte. Es ist kein Zeichen
einer gesunden Kritik, wenn man bestrebt ist, die Verdienste solcher hervor¬
ragenden Menschen zu verkleinern zu Gunsten einer allmählich fortschreitenden
Entwicklung derselben Gedanken in den breiten Massen des Volkes. Mag auch
die Phantasie der Sänger und Dichter manches hinzugesetzt haben, immer bleibt
es doch wahr, daß an unbedeutende Menschen sich die Sage überhaupt nicht
anschließt. Nichts ist aber natürlicher, als daß in alleu Völkern, die es über¬
haupt zu einer gewissen Kulturstufe gebracht haben, der erste Antrieb dazu von
einzelnen überlegenen Persönlichkeiten ausgegangen ist. Die Wahrnehmung
unermeßlichen Unglückes und Leidens, welches der Naturzustand im Laufe der
Zeiten mit sich brachte, war es, der einzelne hochbegabte Heroen zur Einkehr
in sich selbst und nach vielen innern Kämpfen zum öffentlichen Auftreten be¬
wog, um uun dem Volke zu offenbaren, was sie zu seinem Heil in ihrer
Selbstbesinnung gefunden hatten. Ohne allen Mystizismus bleibt das Wort
in Geltung, daß Religion und Sittengesetz offenbart, verkündet und gelehrt
werden, aber niemals sich von selbst entwickeln. Denn sie ruhen auf der
Idee der Freiheit des Menschen.

Was sich entwickelt, ist immer eine Erscheinung in Zeit und Raum oder
in der Zeit allein, aber niemals das, was wir uns von Zeit und Raum un¬
abhängig denken müssen. Die Formen des religiösen Lebens, die Kirchen haben
sich entwickelt und entwickeln sich noch, aber die Religion ist für die Ewigkeit
verkündigt, und wir machen sie uns dann am vollkommensten zu eigen, wenn
wir in den Geist des ursprünglichen Begründers einzudringen suchen. Auch die
Philosophen, welche die Welt mit dem Gesetze der Entwicklung glücklich zu macheu
bestrebt sind, können nichts weiter als im besten Falle uns von einigen Harten
und Schroffheiten der kirchlichen Satzungen befreien, aber eine bessere oder gar
eine ganz neue Religion nud ein besseres Sittengesetz können sie nicht erfinden,
als Christus verkündet hat. Denn dieses ruht auf der allertiefsten Erkenntnis
des menschlichen Wesens überhaupt.

Auch im politische" und sozialen Leben entwickelt sich die Freiheit nicht
von selbst, sondern sie wird gegeben oder genommen, erkämpft und verteidigt
oder geraubt und unterdrückt. Die Verfassungen bestimmen das Maß der
Freiheit, und die Aufgabe der Gesetzgeber ist es nicht etwa, beständig ein ma߬
loses Streben nach Freiheit zu fördern, sondern sorgfältig festzusetzen, welches


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

Aus demselben Grunde ist es falsch, sich das Sittengesetz aus dem rohen
Naturzustande des Menschen entwickeln zu lassen. Die Erfahrung zeigt uns
heute noch Völkerstämme genug, die niemals durch die Belehrung höher kul-
tivirter Genossen auf eine edlere Stufe der Gesittung emporgehoben wurden.
Wo es aber geschehen ist, da führen überall die Überlieferungen nicht auf eine
langsam fortschreitende Entwicklung der religiösen und sittlichen Begriffe zurück,
sondern auf gewaltige große Gesetzgeber und Religionsstifter, die man nicht
ohne Grund mit göttlichen Ehren bedachte und feierte. Es ist kein Zeichen
einer gesunden Kritik, wenn man bestrebt ist, die Verdienste solcher hervor¬
ragenden Menschen zu verkleinern zu Gunsten einer allmählich fortschreitenden
Entwicklung derselben Gedanken in den breiten Massen des Volkes. Mag auch
die Phantasie der Sänger und Dichter manches hinzugesetzt haben, immer bleibt
es doch wahr, daß an unbedeutende Menschen sich die Sage überhaupt nicht
anschließt. Nichts ist aber natürlicher, als daß in alleu Völkern, die es über¬
haupt zu einer gewissen Kulturstufe gebracht haben, der erste Antrieb dazu von
einzelnen überlegenen Persönlichkeiten ausgegangen ist. Die Wahrnehmung
unermeßlichen Unglückes und Leidens, welches der Naturzustand im Laufe der
Zeiten mit sich brachte, war es, der einzelne hochbegabte Heroen zur Einkehr
in sich selbst und nach vielen innern Kämpfen zum öffentlichen Auftreten be¬
wog, um uun dem Volke zu offenbaren, was sie zu seinem Heil in ihrer
Selbstbesinnung gefunden hatten. Ohne allen Mystizismus bleibt das Wort
in Geltung, daß Religion und Sittengesetz offenbart, verkündet und gelehrt
werden, aber niemals sich von selbst entwickeln. Denn sie ruhen auf der
Idee der Freiheit des Menschen.

Was sich entwickelt, ist immer eine Erscheinung in Zeit und Raum oder
in der Zeit allein, aber niemals das, was wir uns von Zeit und Raum un¬
abhängig denken müssen. Die Formen des religiösen Lebens, die Kirchen haben
sich entwickelt und entwickeln sich noch, aber die Religion ist für die Ewigkeit
verkündigt, und wir machen sie uns dann am vollkommensten zu eigen, wenn
wir in den Geist des ursprünglichen Begründers einzudringen suchen. Auch die
Philosophen, welche die Welt mit dem Gesetze der Entwicklung glücklich zu macheu
bestrebt sind, können nichts weiter als im besten Falle uns von einigen Harten
und Schroffheiten der kirchlichen Satzungen befreien, aber eine bessere oder gar
eine ganz neue Religion nud ein besseres Sittengesetz können sie nicht erfinden,
als Christus verkündet hat. Denn dieses ruht auf der allertiefsten Erkenntnis
des menschlichen Wesens überhaupt.

Auch im politische» und sozialen Leben entwickelt sich die Freiheit nicht
von selbst, sondern sie wird gegeben oder genommen, erkämpft und verteidigt
oder geraubt und unterdrückt. Die Verfassungen bestimmen das Maß der
Freiheit, und die Aufgabe der Gesetzgeber ist es nicht etwa, beständig ein ma߬
loses Streben nach Freiheit zu fördern, sondern sorgfältig festzusetzen, welches


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[0364] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. Aus demselben Grunde ist es falsch, sich das Sittengesetz aus dem rohen Naturzustande des Menschen entwickeln zu lassen. Die Erfahrung zeigt uns heute noch Völkerstämme genug, die niemals durch die Belehrung höher kul- tivirter Genossen auf eine edlere Stufe der Gesittung emporgehoben wurden. Wo es aber geschehen ist, da führen überall die Überlieferungen nicht auf eine langsam fortschreitende Entwicklung der religiösen und sittlichen Begriffe zurück, sondern auf gewaltige große Gesetzgeber und Religionsstifter, die man nicht ohne Grund mit göttlichen Ehren bedachte und feierte. Es ist kein Zeichen einer gesunden Kritik, wenn man bestrebt ist, die Verdienste solcher hervor¬ ragenden Menschen zu verkleinern zu Gunsten einer allmählich fortschreitenden Entwicklung derselben Gedanken in den breiten Massen des Volkes. Mag auch die Phantasie der Sänger und Dichter manches hinzugesetzt haben, immer bleibt es doch wahr, daß an unbedeutende Menschen sich die Sage überhaupt nicht anschließt. Nichts ist aber natürlicher, als daß in alleu Völkern, die es über¬ haupt zu einer gewissen Kulturstufe gebracht haben, der erste Antrieb dazu von einzelnen überlegenen Persönlichkeiten ausgegangen ist. Die Wahrnehmung unermeßlichen Unglückes und Leidens, welches der Naturzustand im Laufe der Zeiten mit sich brachte, war es, der einzelne hochbegabte Heroen zur Einkehr in sich selbst und nach vielen innern Kämpfen zum öffentlichen Auftreten be¬ wog, um uun dem Volke zu offenbaren, was sie zu seinem Heil in ihrer Selbstbesinnung gefunden hatten. Ohne allen Mystizismus bleibt das Wort in Geltung, daß Religion und Sittengesetz offenbart, verkündet und gelehrt werden, aber niemals sich von selbst entwickeln. Denn sie ruhen auf der Idee der Freiheit des Menschen. Was sich entwickelt, ist immer eine Erscheinung in Zeit und Raum oder in der Zeit allein, aber niemals das, was wir uns von Zeit und Raum un¬ abhängig denken müssen. Die Formen des religiösen Lebens, die Kirchen haben sich entwickelt und entwickeln sich noch, aber die Religion ist für die Ewigkeit verkündigt, und wir machen sie uns dann am vollkommensten zu eigen, wenn wir in den Geist des ursprünglichen Begründers einzudringen suchen. Auch die Philosophen, welche die Welt mit dem Gesetze der Entwicklung glücklich zu macheu bestrebt sind, können nichts weiter als im besten Falle uns von einigen Harten und Schroffheiten der kirchlichen Satzungen befreien, aber eine bessere oder gar eine ganz neue Religion nud ein besseres Sittengesetz können sie nicht erfinden, als Christus verkündet hat. Denn dieses ruht auf der allertiefsten Erkenntnis des menschlichen Wesens überhaupt. Auch im politische» und sozialen Leben entwickelt sich die Freiheit nicht von selbst, sondern sie wird gegeben oder genommen, erkämpft und verteidigt oder geraubt und unterdrückt. Die Verfassungen bestimmen das Maß der Freiheit, und die Aufgabe der Gesetzgeber ist es nicht etwa, beständig ein ma߬ loses Streben nach Freiheit zu fördern, sondern sorgfältig festzusetzen, welches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/364>, abgerufen am 17.09.2024.