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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

einer einheitlichen Organisation der gesamten protestantischen Küche aufs aller-
schwerste empfunden wird. Gerade weil die Freiheit von jeder Autorität noch
keineswegs die einzige Bedingung für die Entwicklung neuer organischer Ein¬
richtungen ausmacht, darum kranken die verschiedenen Färbungen der protestan¬
tischen Kirche an einer verhängnisvollen Schwäche, welche sie gegenüber der
festen Organisation der römischen Kirche in die ungünstigste Stellung versetzt,
wenn es einmal auf einen Kampf der geistigen Kräfte ankommt.

Aber wie ist es denn nun möglich, daß wir so reichliche Klagen mit noch
viel weiter reichenden Andeutungen im Hintergrunde erheben können über die
Freiheit, die doch das höchste Gut des Menschen sein soll? Der Grund ist
eben die Verbindung der Freiheit mit dem Gedanken der Entwicklung, die man
unrechtmäßig vollzogen hat. Der Begriff der Entwicklung enthalt die Kate¬
gorien von Ursache und Wirkung mit einer Hindeutung auf eme Idee, die sich
der Erkenntnis durch unsre Verstandesfuuktivnen vollständig entzieht. Gerade
wie der zweckmäßige Plan, nach welchem ein Organismus erbaut lst, einem
Wesen und Ursprünge nach nicht von uns begriffen werden kann, so ,se auch
die Freiheit eine Idee, die wir mit dem Verstände nicht erfassen können. Wir
finden die Freiheit nicht im ganzen Gebiete der Naturwissenschaft, so weit wir
auch unsre Forschungen ausdehnen mögen. Die Naturerscheinungen b.eden uns
WerM nur notwendige Kausalität. Die Freiheit finden wir nur in uns wenn
wir uns besinnen ans unsern göttlichen Ursprung. Der Sklave in Fes ein. la
selbst der in den Banden der sinnlichen Leidenschaft oder des Schmerzes liegende
Mensch kann sich zur Freiheit in seinem Innern erheben, das ist der Sinn aller
Märtyrergeschichten. Das macht die Freiheit zum höchsten Gute des Menschen¬
geschlechts. Aber wir sehen sie nicht, wir erfahren sie nicht wissenschaftlich, wir dürfen
die Kategorien der Ursache und Wirkung garnicht auf sie anwende... Denn
aller Irrtum in allen Wissenschaften entspringt nach dem Ausspruche Kants
daraus, daß wir die Kategorien des Denkens auf Dinge anwenden die außer¬
halb aller mögliche.. Erfahrung liegen. Die Möglichkeit unsrer gesamten theo¬
retischen Erkenntnis erstreckt sich nicht weiter als ans Erscheinungen, se. es de.
"Herr oder des innern Sinnes, niemals aber auf Ideen, die nicht im Gebiete
der sinnlichen Erscheinung liegen. Daher entwickelt sich die Freiheit nicht, denn
sie ist unabhängig von dem Begriff der Kausalität. Sie ist auch nicht die einzige
Bedingung für'die Entwicklung andrer Anlagen, wenn man sie nicht in ganz b -
schränktem Sinne auffassen will. Mit der bloßen Beseitigung von bestimmten Hin¬
dernissen, die dem Wachstum oder der Entwicklung von Organismen en gegcn-
stehen. ist doch der Begriff der Freiheit nicht erschöpft. Und oft genug bewahrt sich
Goethes Wort, daß zwischen engen Mauern die Bäume am höchsten wach en. o. y.
d°b selbst äußere Hindernisse und Erschwerungen die Entwicklung nicht zu hemmen
sondern sogar zu fördern scheinen. Die wahre Freiheit kann weder sich von selbst
entwickeln, "och die einzige Ursache für die Entwicklung andrer Anlagen sein.


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

einer einheitlichen Organisation der gesamten protestantischen Küche aufs aller-
schwerste empfunden wird. Gerade weil die Freiheit von jeder Autorität noch
keineswegs die einzige Bedingung für die Entwicklung neuer organischer Ein¬
richtungen ausmacht, darum kranken die verschiedenen Färbungen der protestan¬
tischen Kirche an einer verhängnisvollen Schwäche, welche sie gegenüber der
festen Organisation der römischen Kirche in die ungünstigste Stellung versetzt,
wenn es einmal auf einen Kampf der geistigen Kräfte ankommt.

Aber wie ist es denn nun möglich, daß wir so reichliche Klagen mit noch
viel weiter reichenden Andeutungen im Hintergrunde erheben können über die
Freiheit, die doch das höchste Gut des Menschen sein soll? Der Grund ist
eben die Verbindung der Freiheit mit dem Gedanken der Entwicklung, die man
unrechtmäßig vollzogen hat. Der Begriff der Entwicklung enthalt die Kate¬
gorien von Ursache und Wirkung mit einer Hindeutung auf eme Idee, die sich
der Erkenntnis durch unsre Verstandesfuuktivnen vollständig entzieht. Gerade
wie der zweckmäßige Plan, nach welchem ein Organismus erbaut lst, einem
Wesen und Ursprünge nach nicht von uns begriffen werden kann, so ,se auch
die Freiheit eine Idee, die wir mit dem Verstände nicht erfassen können. Wir
finden die Freiheit nicht im ganzen Gebiete der Naturwissenschaft, so weit wir
auch unsre Forschungen ausdehnen mögen. Die Naturerscheinungen b.eden uns
WerM nur notwendige Kausalität. Die Freiheit finden wir nur in uns wenn
wir uns besinnen ans unsern göttlichen Ursprung. Der Sklave in Fes ein. la
selbst der in den Banden der sinnlichen Leidenschaft oder des Schmerzes liegende
Mensch kann sich zur Freiheit in seinem Innern erheben, das ist der Sinn aller
Märtyrergeschichten. Das macht die Freiheit zum höchsten Gute des Menschen¬
geschlechts. Aber wir sehen sie nicht, wir erfahren sie nicht wissenschaftlich, wir dürfen
die Kategorien der Ursache und Wirkung garnicht auf sie anwende... Denn
aller Irrtum in allen Wissenschaften entspringt nach dem Ausspruche Kants
daraus, daß wir die Kategorien des Denkens auf Dinge anwenden die außer¬
halb aller mögliche.. Erfahrung liegen. Die Möglichkeit unsrer gesamten theo¬
retischen Erkenntnis erstreckt sich nicht weiter als ans Erscheinungen, se. es de.
"Herr oder des innern Sinnes, niemals aber auf Ideen, die nicht im Gebiete
der sinnlichen Erscheinung liegen. Daher entwickelt sich die Freiheit nicht, denn
sie ist unabhängig von dem Begriff der Kausalität. Sie ist auch nicht die einzige
Bedingung für'die Entwicklung andrer Anlagen, wenn man sie nicht in ganz b -
schränktem Sinne auffassen will. Mit der bloßen Beseitigung von bestimmten Hin¬
dernissen, die dem Wachstum oder der Entwicklung von Organismen en gegcn-
stehen. ist doch der Begriff der Freiheit nicht erschöpft. Und oft genug bewahrt sich
Goethes Wort, daß zwischen engen Mauern die Bäume am höchsten wach en. o. y.
d°b selbst äußere Hindernisse und Erschwerungen die Entwicklung nicht zu hemmen
sondern sogar zu fördern scheinen. Die wahre Freiheit kann weder sich von selbst
entwickeln, „och die einzige Ursache für die Entwicklung andrer Anlagen sein.


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[0363] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. einer einheitlichen Organisation der gesamten protestantischen Küche aufs aller- schwerste empfunden wird. Gerade weil die Freiheit von jeder Autorität noch keineswegs die einzige Bedingung für die Entwicklung neuer organischer Ein¬ richtungen ausmacht, darum kranken die verschiedenen Färbungen der protestan¬ tischen Kirche an einer verhängnisvollen Schwäche, welche sie gegenüber der festen Organisation der römischen Kirche in die ungünstigste Stellung versetzt, wenn es einmal auf einen Kampf der geistigen Kräfte ankommt. Aber wie ist es denn nun möglich, daß wir so reichliche Klagen mit noch viel weiter reichenden Andeutungen im Hintergrunde erheben können über die Freiheit, die doch das höchste Gut des Menschen sein soll? Der Grund ist eben die Verbindung der Freiheit mit dem Gedanken der Entwicklung, die man unrechtmäßig vollzogen hat. Der Begriff der Entwicklung enthalt die Kate¬ gorien von Ursache und Wirkung mit einer Hindeutung auf eme Idee, die sich der Erkenntnis durch unsre Verstandesfuuktivnen vollständig entzieht. Gerade wie der zweckmäßige Plan, nach welchem ein Organismus erbaut lst, einem Wesen und Ursprünge nach nicht von uns begriffen werden kann, so ,se auch die Freiheit eine Idee, die wir mit dem Verstände nicht erfassen können. Wir finden die Freiheit nicht im ganzen Gebiete der Naturwissenschaft, so weit wir auch unsre Forschungen ausdehnen mögen. Die Naturerscheinungen b.eden uns WerM nur notwendige Kausalität. Die Freiheit finden wir nur in uns wenn wir uns besinnen ans unsern göttlichen Ursprung. Der Sklave in Fes ein. la selbst der in den Banden der sinnlichen Leidenschaft oder des Schmerzes liegende Mensch kann sich zur Freiheit in seinem Innern erheben, das ist der Sinn aller Märtyrergeschichten. Das macht die Freiheit zum höchsten Gute des Menschen¬ geschlechts. Aber wir sehen sie nicht, wir erfahren sie nicht wissenschaftlich, wir dürfen die Kategorien der Ursache und Wirkung garnicht auf sie anwende... Denn aller Irrtum in allen Wissenschaften entspringt nach dem Ausspruche Kants daraus, daß wir die Kategorien des Denkens auf Dinge anwenden die außer¬ halb aller mögliche.. Erfahrung liegen. Die Möglichkeit unsrer gesamten theo¬ retischen Erkenntnis erstreckt sich nicht weiter als ans Erscheinungen, se. es de. "Herr oder des innern Sinnes, niemals aber auf Ideen, die nicht im Gebiete der sinnlichen Erscheinung liegen. Daher entwickelt sich die Freiheit nicht, denn sie ist unabhängig von dem Begriff der Kausalität. Sie ist auch nicht die einzige Bedingung für'die Entwicklung andrer Anlagen, wenn man sie nicht in ganz b - schränktem Sinne auffassen will. Mit der bloßen Beseitigung von bestimmten Hin¬ dernissen, die dem Wachstum oder der Entwicklung von Organismen en gegcn- stehen. ist doch der Begriff der Freiheit nicht erschöpft. Und oft genug bewahrt sich Goethes Wort, daß zwischen engen Mauern die Bäume am höchsten wach en. o. y. d°b selbst äußere Hindernisse und Erschwerungen die Entwicklung nicht zu hemmen sondern sogar zu fördern scheinen. Die wahre Freiheit kann weder sich von selbst entwickeln, „och die einzige Ursache für die Entwicklung andrer Anlagen sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/363>, abgerufen am 17.09.2024.