Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gegensätze in der Lnltur des Mittelalters.

Noch ein andrer Gegensatz. In den Kloster- und Domschulen herrschte
die eisernste Strenge. Die Hauptregentin der Schule, die Grammatik, hat in
der einen Hand ein Radirmesser, in der andern die Geißel oder Peitsche. Stock¬
tragende Aufseher, Circatoren genannt, gingen auf und ab, notirten die Er¬
wachsenen, schlugen die Schüler und trieben sie mit der Rute nachts zwei Uhr
aus den Betten zum Gottesdienst. In geschlechtlicher Bewachung war alles aufs
Schönste geordnet, wenigstens mit peinlicher Bewachung bei Tag und Nacht.
Und diese Schüler wurden bald nachher zu weitern Studien in andre geistliche
Anstalten, z. B. zur Universität in Paris, entlassen. Wir werden erwarten,
daß in der großen Masse dieser endlich freigewordnen künftigen Geistlichen und
Äbte viele zu Grunde gingen, zumal niemand sie bis dahin zu wachsender
Selbstbestimmung angeleitet hatte. Aber es geht über alle Erwartung, wenn
wir bei Zeitgenossen lesen, daß unter den Augen der Bischöfe und geistlichen
Professoren vor den zahlreich geduldeten Bordellen in Paris sich die Freuden¬
mädchen an die Thüren stellten, die Domschüler von gestern in die Häuser
zogen und für die selten vorkommenden Weigerungen der keuscheren jungen
Leute keinen andern Erklärungsgrund hatten, als daß diese wohl Päderastie
treiben müßten. Wir werden darin ohne Zweifel Übertreibung sehen. Wenn
wir lesen, daß einer von diesen Studenten schreibt, der berühmte Wilhelm
von Champeaux, ein großer Scholastiker zu Paris, lehre so schön, daß man
glaube, es rede ein Engel vom Himmel und nicht ein Mensch, denn die Lieb¬
lichkeit seines Vortrciges und die Tiefe seiner Gedanken übersteige alles Mensch¬
liche, wenn wir bedenken, daß die frömmsten Dominikaner und Franziskaner
dort in Paris ihre bedeutende Wirksamkeit entfalteten, so kann es nicht so ganz
schlecht mit dem allgemeinen sittlichen Geist an der Universität gestanden haben.
Derb waren die Zeiten wohl, aber nicht durchgängig verkommen; man darf die
Vaganten unter den faulen und verdorbenen Schülern jener Zeit, Goliarden
genannt, so wenig zum Maßstabe der Gesamtheit machen, als ähnliche Aus¬
würflinge unsrer Zeit. Der eigentliche Gegensatz zwischen hocherfreulichen und
mitleiderregenden Erscheinungen des Mittelalters liegt überhaupt nicht sowohl
auf dem moralischen Gebiete als auf dem des Erkennens und der Geschmacks¬
kritik, wie dafür schon typische Bilder Zeugnis abgelegt haben. Wenn man nament¬
lich sieht, wie sich in sonst so blühenden geistlichen Schulstudien die Historiker der
Zeit so sehr albern verhalten, allerdings auch Geistliche, aber meist die gebil¬
detsten und erleuchtetsten Männer ihrer Klasse, so kommt man bald auf die
tiefern Gründe des Mangels. Es war die Pietät gegen die heilige Geschichte,
deren besonders farbigen alttestamentlichen Stoff sie dem Buchstaben nach für
vollkommene Offenbarung hielten, verbunden mit einer völligen Unbekanntschaft
mit den Gesetzen natürlicher und geistiger Entwicklung, daher kritikloses Hin¬
nehmen aller Überlieferung und kritiklos schöpferisches Ausfüllen der Lücken in
ihren Kenntnissen des Altertums. Diese tüchtigen Männer fanden es ganz


Gegensätze in der Lnltur des Mittelalters.

Noch ein andrer Gegensatz. In den Kloster- und Domschulen herrschte
die eisernste Strenge. Die Hauptregentin der Schule, die Grammatik, hat in
der einen Hand ein Radirmesser, in der andern die Geißel oder Peitsche. Stock¬
tragende Aufseher, Circatoren genannt, gingen auf und ab, notirten die Er¬
wachsenen, schlugen die Schüler und trieben sie mit der Rute nachts zwei Uhr
aus den Betten zum Gottesdienst. In geschlechtlicher Bewachung war alles aufs
Schönste geordnet, wenigstens mit peinlicher Bewachung bei Tag und Nacht.
Und diese Schüler wurden bald nachher zu weitern Studien in andre geistliche
Anstalten, z. B. zur Universität in Paris, entlassen. Wir werden erwarten,
daß in der großen Masse dieser endlich freigewordnen künftigen Geistlichen und
Äbte viele zu Grunde gingen, zumal niemand sie bis dahin zu wachsender
Selbstbestimmung angeleitet hatte. Aber es geht über alle Erwartung, wenn
wir bei Zeitgenossen lesen, daß unter den Augen der Bischöfe und geistlichen
Professoren vor den zahlreich geduldeten Bordellen in Paris sich die Freuden¬
mädchen an die Thüren stellten, die Domschüler von gestern in die Häuser
zogen und für die selten vorkommenden Weigerungen der keuscheren jungen
Leute keinen andern Erklärungsgrund hatten, als daß diese wohl Päderastie
treiben müßten. Wir werden darin ohne Zweifel Übertreibung sehen. Wenn
wir lesen, daß einer von diesen Studenten schreibt, der berühmte Wilhelm
von Champeaux, ein großer Scholastiker zu Paris, lehre so schön, daß man
glaube, es rede ein Engel vom Himmel und nicht ein Mensch, denn die Lieb¬
lichkeit seines Vortrciges und die Tiefe seiner Gedanken übersteige alles Mensch¬
liche, wenn wir bedenken, daß die frömmsten Dominikaner und Franziskaner
dort in Paris ihre bedeutende Wirksamkeit entfalteten, so kann es nicht so ganz
schlecht mit dem allgemeinen sittlichen Geist an der Universität gestanden haben.
Derb waren die Zeiten wohl, aber nicht durchgängig verkommen; man darf die
Vaganten unter den faulen und verdorbenen Schülern jener Zeit, Goliarden
genannt, so wenig zum Maßstabe der Gesamtheit machen, als ähnliche Aus¬
würflinge unsrer Zeit. Der eigentliche Gegensatz zwischen hocherfreulichen und
mitleiderregenden Erscheinungen des Mittelalters liegt überhaupt nicht sowohl
auf dem moralischen Gebiete als auf dem des Erkennens und der Geschmacks¬
kritik, wie dafür schon typische Bilder Zeugnis abgelegt haben. Wenn man nament¬
lich sieht, wie sich in sonst so blühenden geistlichen Schulstudien die Historiker der
Zeit so sehr albern verhalten, allerdings auch Geistliche, aber meist die gebil¬
detsten und erleuchtetsten Männer ihrer Klasse, so kommt man bald auf die
tiefern Gründe des Mangels. Es war die Pietät gegen die heilige Geschichte,
deren besonders farbigen alttestamentlichen Stoff sie dem Buchstaben nach für
vollkommene Offenbarung hielten, verbunden mit einer völligen Unbekanntschaft
mit den Gesetzen natürlicher und geistiger Entwicklung, daher kritikloses Hin¬
nehmen aller Überlieferung und kritiklos schöpferisches Ausfüllen der Lücken in
ihren Kenntnissen des Altertums. Diese tüchtigen Männer fanden es ganz


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0330" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288783"/>
          <fw type="header" place="top"> Gegensätze in der Lnltur des Mittelalters.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_961" next="#ID_962"> Noch ein andrer Gegensatz. In den Kloster- und Domschulen herrschte<lb/>
die eisernste Strenge. Die Hauptregentin der Schule, die Grammatik, hat in<lb/>
der einen Hand ein Radirmesser, in der andern die Geißel oder Peitsche. Stock¬<lb/>
tragende Aufseher, Circatoren genannt, gingen auf und ab, notirten die Er¬<lb/>
wachsenen, schlugen die Schüler und trieben sie mit der Rute nachts zwei Uhr<lb/>
aus den Betten zum Gottesdienst. In geschlechtlicher Bewachung war alles aufs<lb/>
Schönste geordnet, wenigstens mit peinlicher Bewachung bei Tag und Nacht.<lb/>
Und diese Schüler wurden bald nachher zu weitern Studien in andre geistliche<lb/>
Anstalten, z. B. zur Universität in Paris, entlassen. Wir werden erwarten,<lb/>
daß in der großen Masse dieser endlich freigewordnen künftigen Geistlichen und<lb/>
Äbte viele zu Grunde gingen, zumal niemand sie bis dahin zu wachsender<lb/>
Selbstbestimmung angeleitet hatte. Aber es geht über alle Erwartung, wenn<lb/>
wir bei Zeitgenossen lesen, daß unter den Augen der Bischöfe und geistlichen<lb/>
Professoren vor den zahlreich geduldeten Bordellen in Paris sich die Freuden¬<lb/>
mädchen an die Thüren stellten, die Domschüler von gestern in die Häuser<lb/>
zogen und für die selten vorkommenden Weigerungen der keuscheren jungen<lb/>
Leute keinen andern Erklärungsgrund hatten, als daß diese wohl Päderastie<lb/>
treiben müßten. Wir werden darin ohne Zweifel Übertreibung sehen. Wenn<lb/>
wir lesen, daß einer von diesen Studenten schreibt, der berühmte Wilhelm<lb/>
von Champeaux, ein großer Scholastiker zu Paris, lehre so schön, daß man<lb/>
glaube, es rede ein Engel vom Himmel und nicht ein Mensch, denn die Lieb¬<lb/>
lichkeit seines Vortrciges und die Tiefe seiner Gedanken übersteige alles Mensch¬<lb/>
liche, wenn wir bedenken, daß die frömmsten Dominikaner und Franziskaner<lb/>
dort in Paris ihre bedeutende Wirksamkeit entfalteten, so kann es nicht so ganz<lb/>
schlecht mit dem allgemeinen sittlichen Geist an der Universität gestanden haben.<lb/>
Derb waren die Zeiten wohl, aber nicht durchgängig verkommen; man darf die<lb/>
Vaganten unter den faulen und verdorbenen Schülern jener Zeit, Goliarden<lb/>
genannt, so wenig zum Maßstabe der Gesamtheit machen, als ähnliche Aus¬<lb/>
würflinge unsrer Zeit. Der eigentliche Gegensatz zwischen hocherfreulichen und<lb/>
mitleiderregenden Erscheinungen des Mittelalters liegt überhaupt nicht sowohl<lb/>
auf dem moralischen Gebiete als auf dem des Erkennens und der Geschmacks¬<lb/>
kritik, wie dafür schon typische Bilder Zeugnis abgelegt haben. Wenn man nament¬<lb/>
lich sieht, wie sich in sonst so blühenden geistlichen Schulstudien die Historiker der<lb/>
Zeit so sehr albern verhalten, allerdings auch Geistliche, aber meist die gebil¬<lb/>
detsten und erleuchtetsten Männer ihrer Klasse, so kommt man bald auf die<lb/>
tiefern Gründe des Mangels. Es war die Pietät gegen die heilige Geschichte,<lb/>
deren besonders farbigen alttestamentlichen Stoff sie dem Buchstaben nach für<lb/>
vollkommene Offenbarung hielten, verbunden mit einer völligen Unbekanntschaft<lb/>
mit den Gesetzen natürlicher und geistiger Entwicklung, daher kritikloses Hin¬<lb/>
nehmen aller Überlieferung und kritiklos schöpferisches Ausfüllen der Lücken in<lb/>
ihren Kenntnissen des Altertums. Diese tüchtigen Männer fanden es ganz</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0330] Gegensätze in der Lnltur des Mittelalters. Noch ein andrer Gegensatz. In den Kloster- und Domschulen herrschte die eisernste Strenge. Die Hauptregentin der Schule, die Grammatik, hat in der einen Hand ein Radirmesser, in der andern die Geißel oder Peitsche. Stock¬ tragende Aufseher, Circatoren genannt, gingen auf und ab, notirten die Er¬ wachsenen, schlugen die Schüler und trieben sie mit der Rute nachts zwei Uhr aus den Betten zum Gottesdienst. In geschlechtlicher Bewachung war alles aufs Schönste geordnet, wenigstens mit peinlicher Bewachung bei Tag und Nacht. Und diese Schüler wurden bald nachher zu weitern Studien in andre geistliche Anstalten, z. B. zur Universität in Paris, entlassen. Wir werden erwarten, daß in der großen Masse dieser endlich freigewordnen künftigen Geistlichen und Äbte viele zu Grunde gingen, zumal niemand sie bis dahin zu wachsender Selbstbestimmung angeleitet hatte. Aber es geht über alle Erwartung, wenn wir bei Zeitgenossen lesen, daß unter den Augen der Bischöfe und geistlichen Professoren vor den zahlreich geduldeten Bordellen in Paris sich die Freuden¬ mädchen an die Thüren stellten, die Domschüler von gestern in die Häuser zogen und für die selten vorkommenden Weigerungen der keuscheren jungen Leute keinen andern Erklärungsgrund hatten, als daß diese wohl Päderastie treiben müßten. Wir werden darin ohne Zweifel Übertreibung sehen. Wenn wir lesen, daß einer von diesen Studenten schreibt, der berühmte Wilhelm von Champeaux, ein großer Scholastiker zu Paris, lehre so schön, daß man glaube, es rede ein Engel vom Himmel und nicht ein Mensch, denn die Lieb¬ lichkeit seines Vortrciges und die Tiefe seiner Gedanken übersteige alles Mensch¬ liche, wenn wir bedenken, daß die frömmsten Dominikaner und Franziskaner dort in Paris ihre bedeutende Wirksamkeit entfalteten, so kann es nicht so ganz schlecht mit dem allgemeinen sittlichen Geist an der Universität gestanden haben. Derb waren die Zeiten wohl, aber nicht durchgängig verkommen; man darf die Vaganten unter den faulen und verdorbenen Schülern jener Zeit, Goliarden genannt, so wenig zum Maßstabe der Gesamtheit machen, als ähnliche Aus¬ würflinge unsrer Zeit. Der eigentliche Gegensatz zwischen hocherfreulichen und mitleiderregenden Erscheinungen des Mittelalters liegt überhaupt nicht sowohl auf dem moralischen Gebiete als auf dem des Erkennens und der Geschmacks¬ kritik, wie dafür schon typische Bilder Zeugnis abgelegt haben. Wenn man nament¬ lich sieht, wie sich in sonst so blühenden geistlichen Schulstudien die Historiker der Zeit so sehr albern verhalten, allerdings auch Geistliche, aber meist die gebil¬ detsten und erleuchtetsten Männer ihrer Klasse, so kommt man bald auf die tiefern Gründe des Mangels. Es war die Pietät gegen die heilige Geschichte, deren besonders farbigen alttestamentlichen Stoff sie dem Buchstaben nach für vollkommene Offenbarung hielten, verbunden mit einer völligen Unbekanntschaft mit den Gesetzen natürlicher und geistiger Entwicklung, daher kritikloses Hin¬ nehmen aller Überlieferung und kritiklos schöpferisches Ausfüllen der Lücken in ihren Kenntnissen des Altertums. Diese tüchtigen Männer fanden es ganz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/330
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/330>, abgerufen am 17.09.2024.