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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Gegensätze in der Kultur des Mittelalters.

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Peitschenhieben oder Fasten willig gemacht werden. Der lateinische Text wurde
unermüdlich vorgesagt, verdeutscht, erläutert, aber es ging bei vielen nicht in
den Kopf; man mußte die Strafen bei Erwachsenen fallen lassen und sich be¬
gnügen, wenn sie die Mcmorirstoffe allein in ihrer Muttersprache wußten.
Immerhin ist es interessant, daß Karl der Große die erste Idee eines Volls-
schulzwangcs gefaßt hat.

In den Klosterschulen schwankten die Ansichten über den Wert der la¬
teinischen alten Autoren auf und ab. Es gab schon im neunten Jahrhundert
Geistliche, die im Vergil besser zu Hause waren als in den Evangelien, und
ein Mönch Probus hegte eine solche Begeisterung für Cicero und Vergil, daß
er theologisch beweisen wollte, der Erlöser habe sie bei der Höllenfahrt würdig
gemacht für die Schar der Seligen. Aber andre fanden so etwas bedenklich
nud wollten den Mönchen nur den Psalter zu lesen gestatten.

Es ist ein stattliches Verzeichnis von lateinischen Autoren, die in den
Klosterschulen in wachsender Übereinstimmung gelesen wurden; man könnte daraus
auf eine schöne Aneignung höherer Kultur schließen. Selbst lateinische Verse
wurden mit Leichtigkeit gemacht, auf Grund vielfachen Auswendiglernens. Auch
vom Griechischen ist hie und da die Rede, aber was selbst bei den besten da¬
maligen Gelehrten an Griechischem vorkommt, ist kläglich. Nichtsdestoweniger
sagt ein Kirchenvater von einem andern, er wolle nur erwähnen, daß derselbe
Hebräisch verstanden habe, denn daß er oxtinre Griechisch gekannt habe, sei selbst¬
verständlich. So geht das Verschiedne neben einander her. Zu der höhern
Bildung, dem Quadrivinm, gehörte bekanntlich auch die Astronomie, für die sich
auch Karl der Große sehr interessirte. Gerbert, später Papst Silvester II.. kam
durch sein astronomisches Wissen in so hohen Ruf. daß man fürchtete, er habe
einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Auch die Naturkunde der Alten
(Aratus. Plinius, Hyginus) wird von den Mönchsschulen zu Rate gezogen. Und
doch finden wir, daß das alles unter dem Einfluß der sonstigen Zeitströmung
zu nichts als Unsinn benutzt wird. Denn am Ende dieser Periode, in einer
Zeit, da Deutschland nach Janssen so glücklich war, verkündet der beste damalige
Astronom Stoffler als Ergebnis seiner langen Berechnungen, daß eine zweite
Sintflut in dem laufenden Jahre eintreten werde. Europa geriet natürlich in
Bestürzung, in Frankreich wurden einige halb verrückt. Ein kaiserlicher General
wollte die allgemeine Wanderung der erschreckten Bevölkerung dadurch regeln,
daß er auf den Rat des gelehrtesten spanischen Schulhauptes ein allgemeines
Nivellement der Erde veranstalten ließ. Aber es wäre auch das Alpentcrram
doch einmal von der Sintflut erreicht worden, da sie ja ehemals nach der Bibel
über die höchsten Berge ging. Endlich schlug ein Geistlicher Auriol, Professor
des kanonischen Rechts, ganz einfach vor. sich nach Nocchs Beispiel auf den Bau
von Archen zu legen, damit nicht ganz Europa ausstürbe. Welch eme Verbindung
von kritiklosen Unverstand mit Pietät gegenüber dieser kläglichen Wissenschaft!


Grenzboten II. 1337.
Gegensätze in der Kultur des Mittelalters.

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Peitschenhieben oder Fasten willig gemacht werden. Der lateinische Text wurde
unermüdlich vorgesagt, verdeutscht, erläutert, aber es ging bei vielen nicht in
den Kopf; man mußte die Strafen bei Erwachsenen fallen lassen und sich be¬
gnügen, wenn sie die Mcmorirstoffe allein in ihrer Muttersprache wußten.
Immerhin ist es interessant, daß Karl der Große die erste Idee eines Volls-
schulzwangcs gefaßt hat.

In den Klosterschulen schwankten die Ansichten über den Wert der la¬
teinischen alten Autoren auf und ab. Es gab schon im neunten Jahrhundert
Geistliche, die im Vergil besser zu Hause waren als in den Evangelien, und
ein Mönch Probus hegte eine solche Begeisterung für Cicero und Vergil, daß
er theologisch beweisen wollte, der Erlöser habe sie bei der Höllenfahrt würdig
gemacht für die Schar der Seligen. Aber andre fanden so etwas bedenklich
nud wollten den Mönchen nur den Psalter zu lesen gestatten.

Es ist ein stattliches Verzeichnis von lateinischen Autoren, die in den
Klosterschulen in wachsender Übereinstimmung gelesen wurden; man könnte daraus
auf eine schöne Aneignung höherer Kultur schließen. Selbst lateinische Verse
wurden mit Leichtigkeit gemacht, auf Grund vielfachen Auswendiglernens. Auch
vom Griechischen ist hie und da die Rede, aber was selbst bei den besten da¬
maligen Gelehrten an Griechischem vorkommt, ist kläglich. Nichtsdestoweniger
sagt ein Kirchenvater von einem andern, er wolle nur erwähnen, daß derselbe
Hebräisch verstanden habe, denn daß er oxtinre Griechisch gekannt habe, sei selbst¬
verständlich. So geht das Verschiedne neben einander her. Zu der höhern
Bildung, dem Quadrivinm, gehörte bekanntlich auch die Astronomie, für die sich
auch Karl der Große sehr interessirte. Gerbert, später Papst Silvester II.. kam
durch sein astronomisches Wissen in so hohen Ruf. daß man fürchtete, er habe
einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Auch die Naturkunde der Alten
(Aratus. Plinius, Hyginus) wird von den Mönchsschulen zu Rate gezogen. Und
doch finden wir, daß das alles unter dem Einfluß der sonstigen Zeitströmung
zu nichts als Unsinn benutzt wird. Denn am Ende dieser Periode, in einer
Zeit, da Deutschland nach Janssen so glücklich war, verkündet der beste damalige
Astronom Stoffler als Ergebnis seiner langen Berechnungen, daß eine zweite
Sintflut in dem laufenden Jahre eintreten werde. Europa geriet natürlich in
Bestürzung, in Frankreich wurden einige halb verrückt. Ein kaiserlicher General
wollte die allgemeine Wanderung der erschreckten Bevölkerung dadurch regeln,
daß er auf den Rat des gelehrtesten spanischen Schulhauptes ein allgemeines
Nivellement der Erde veranstalten ließ. Aber es wäre auch das Alpentcrram
doch einmal von der Sintflut erreicht worden, da sie ja ehemals nach der Bibel
über die höchsten Berge ging. Endlich schlug ein Geistlicher Auriol, Professor
des kanonischen Rechts, ganz einfach vor. sich nach Nocchs Beispiel auf den Bau
von Archen zu legen, damit nicht ganz Europa ausstürbe. Welch eme Verbindung
von kritiklosen Unverstand mit Pietät gegenüber dieser kläglichen Wissenschaft!


Grenzboten II. 1337.
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[0329] Gegensätze in der Kultur des Mittelalters. __ Peitschenhieben oder Fasten willig gemacht werden. Der lateinische Text wurde unermüdlich vorgesagt, verdeutscht, erläutert, aber es ging bei vielen nicht in den Kopf; man mußte die Strafen bei Erwachsenen fallen lassen und sich be¬ gnügen, wenn sie die Mcmorirstoffe allein in ihrer Muttersprache wußten. Immerhin ist es interessant, daß Karl der Große die erste Idee eines Volls- schulzwangcs gefaßt hat. In den Klosterschulen schwankten die Ansichten über den Wert der la¬ teinischen alten Autoren auf und ab. Es gab schon im neunten Jahrhundert Geistliche, die im Vergil besser zu Hause waren als in den Evangelien, und ein Mönch Probus hegte eine solche Begeisterung für Cicero und Vergil, daß er theologisch beweisen wollte, der Erlöser habe sie bei der Höllenfahrt würdig gemacht für die Schar der Seligen. Aber andre fanden so etwas bedenklich nud wollten den Mönchen nur den Psalter zu lesen gestatten. Es ist ein stattliches Verzeichnis von lateinischen Autoren, die in den Klosterschulen in wachsender Übereinstimmung gelesen wurden; man könnte daraus auf eine schöne Aneignung höherer Kultur schließen. Selbst lateinische Verse wurden mit Leichtigkeit gemacht, auf Grund vielfachen Auswendiglernens. Auch vom Griechischen ist hie und da die Rede, aber was selbst bei den besten da¬ maligen Gelehrten an Griechischem vorkommt, ist kläglich. Nichtsdestoweniger sagt ein Kirchenvater von einem andern, er wolle nur erwähnen, daß derselbe Hebräisch verstanden habe, denn daß er oxtinre Griechisch gekannt habe, sei selbst¬ verständlich. So geht das Verschiedne neben einander her. Zu der höhern Bildung, dem Quadrivinm, gehörte bekanntlich auch die Astronomie, für die sich auch Karl der Große sehr interessirte. Gerbert, später Papst Silvester II.. kam durch sein astronomisches Wissen in so hohen Ruf. daß man fürchtete, er habe einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Auch die Naturkunde der Alten (Aratus. Plinius, Hyginus) wird von den Mönchsschulen zu Rate gezogen. Und doch finden wir, daß das alles unter dem Einfluß der sonstigen Zeitströmung zu nichts als Unsinn benutzt wird. Denn am Ende dieser Periode, in einer Zeit, da Deutschland nach Janssen so glücklich war, verkündet der beste damalige Astronom Stoffler als Ergebnis seiner langen Berechnungen, daß eine zweite Sintflut in dem laufenden Jahre eintreten werde. Europa geriet natürlich in Bestürzung, in Frankreich wurden einige halb verrückt. Ein kaiserlicher General wollte die allgemeine Wanderung der erschreckten Bevölkerung dadurch regeln, daß er auf den Rat des gelehrtesten spanischen Schulhauptes ein allgemeines Nivellement der Erde veranstalten ließ. Aber es wäre auch das Alpentcrram doch einmal von der Sintflut erreicht worden, da sie ja ehemals nach der Bibel über die höchsten Berge ging. Endlich schlug ein Geistlicher Auriol, Professor des kanonischen Rechts, ganz einfach vor. sich nach Nocchs Beispiel auf den Bau von Archen zu legen, damit nicht ganz Europa ausstürbe. Welch eme Verbindung von kritiklosen Unverstand mit Pietät gegenüber dieser kläglichen Wissenschaft! Grenzboten II. 1337.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/329>, abgerufen am 17.09.2024.