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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Gegensätze in der Kultur des Mttelalters.

ihren innern Wert und ihre Wahrheit, so sammelt die mittelalterliche Welt,
soweit sie überhaupt noch der Kultur zugewandt ist, viel Herrliches, Berühmtes
in sich auf, freut sich dessen, soweit es nicht mit dem Christentum der Über¬
lieferung im Streit zu stehen scheint; aber sie hat weder Lust noch Fähigkeit,
an diesen Stoffen Kritik zu üben, am wenigsten die Kritik, die sich auf die
ewigen Gesetze der Natur und des Menschengeistes mit Bewußtsein gründet.
Denn wenn es auch einigen Schulhänptern nicht zu kühn schien, in ihren
Lieblingsschriftstellern einige Verbesserungen durch Konjektur anzubringen, so ist
das doch eine Ausnahme, und selbst diese Kühnheit mußte entschuldigt werden
dadurch, daß die "Alten" es auch schon so gemacht hätten. Die Sache ist denn
auch völlig harmlos.

Es mögen nun einige der Gegensätze aufgeführt werden, von denen wir
sprechen. Wir gehen von einer leider zu wenig bekannten Preisschrift Spechts
"Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis
zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts" (Stuttgart, 1885) aus. Sie zeigt
an der Hand der mühsam gesammelten Quellen, daß die Kirche des Mittel¬
alters um die Fortpflanzung der gewöhnlichen Bildung wirklich die Verdienste
gehabt hat, die man ihr eine Zeit lang abzusprechen Lust hatte. In den Klöstern
war eine "innere" mönchische Schule, die wesentlich die künftigen Geistlichen
erzog (die xusri MM), aber auch Adliche, die nicht gerade unbedingt Geist¬
liche werden sollten. Das letztere kam noch gewöhnlicher bei der "äußern"
Schule vor, die im allgemeinen ebenso wie die innere "nach der Überlieferung
der Römer" unterrichtete, aber weniger mönchisch die Schüler in Zucht hielt
und auch Unbemittelte nicht ausschloß.

Wesentlich trieb man Latein, und hier wieder vor allem die lateinische
Bibelübersetzung des Hieronymus. Einer besondern Gunst erfreuten sich die
Psalmen, die auch von solchen Schülern auswendig gelernt wurden, die den
Text nur lesen, aber nicht verstehen konnten. Der Pädagog Sabor würde hier
schon seinen Spruch anbringen, daß das tief blicken läßt. Damals war das
nicht auffallend. Die Synode von 789 (Aachen) sagt: "In jedem Kloster und
Domstift sollen Schulen sein, in welchen die Knaben die Psalmen, die Buch¬
staben, den Gesang, das Berechnen der kirchlichen Festtage und die Grammatik
erlernen." Also die Psalmen lernten sie auch ohne Buchstaben, durch Vorsagen
wahrscheinlich.

Der große Kaiser Karl fand für seine Pläne viele Willigkeit bei den höhern
Geistlichen, aber unübersteigliche Schwierigkeiten bei der Masse. Man erließ
die Strafbestimmung -- und da ist schon einer der wunderlichen Gegensätze --,
daß jeder, der durchaus nicht lernen wolle, mit Schlägen und Fasten bei Wasser
und Brot solle gezüchtigt werden, bis er alles -- das apostolische und Athana-
sianische Symbolum und das Vaterunser -- lateinisch herzusagen wisse. Wer
sich dagegen wehre, solle an den (Gerichts-) Hof gebracht, Weiber aber sollten mit


Gegensätze in der Kultur des Mttelalters.

ihren innern Wert und ihre Wahrheit, so sammelt die mittelalterliche Welt,
soweit sie überhaupt noch der Kultur zugewandt ist, viel Herrliches, Berühmtes
in sich auf, freut sich dessen, soweit es nicht mit dem Christentum der Über¬
lieferung im Streit zu stehen scheint; aber sie hat weder Lust noch Fähigkeit,
an diesen Stoffen Kritik zu üben, am wenigsten die Kritik, die sich auf die
ewigen Gesetze der Natur und des Menschengeistes mit Bewußtsein gründet.
Denn wenn es auch einigen Schulhänptern nicht zu kühn schien, in ihren
Lieblingsschriftstellern einige Verbesserungen durch Konjektur anzubringen, so ist
das doch eine Ausnahme, und selbst diese Kühnheit mußte entschuldigt werden
dadurch, daß die „Alten" es auch schon so gemacht hätten. Die Sache ist denn
auch völlig harmlos.

Es mögen nun einige der Gegensätze aufgeführt werden, von denen wir
sprechen. Wir gehen von einer leider zu wenig bekannten Preisschrift Spechts
„Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis
zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts" (Stuttgart, 1885) aus. Sie zeigt
an der Hand der mühsam gesammelten Quellen, daß die Kirche des Mittel¬
alters um die Fortpflanzung der gewöhnlichen Bildung wirklich die Verdienste
gehabt hat, die man ihr eine Zeit lang abzusprechen Lust hatte. In den Klöstern
war eine „innere" mönchische Schule, die wesentlich die künftigen Geistlichen
erzog (die xusri MM), aber auch Adliche, die nicht gerade unbedingt Geist¬
liche werden sollten. Das letztere kam noch gewöhnlicher bei der „äußern"
Schule vor, die im allgemeinen ebenso wie die innere „nach der Überlieferung
der Römer" unterrichtete, aber weniger mönchisch die Schüler in Zucht hielt
und auch Unbemittelte nicht ausschloß.

Wesentlich trieb man Latein, und hier wieder vor allem die lateinische
Bibelübersetzung des Hieronymus. Einer besondern Gunst erfreuten sich die
Psalmen, die auch von solchen Schülern auswendig gelernt wurden, die den
Text nur lesen, aber nicht verstehen konnten. Der Pädagog Sabor würde hier
schon seinen Spruch anbringen, daß das tief blicken läßt. Damals war das
nicht auffallend. Die Synode von 789 (Aachen) sagt: „In jedem Kloster und
Domstift sollen Schulen sein, in welchen die Knaben die Psalmen, die Buch¬
staben, den Gesang, das Berechnen der kirchlichen Festtage und die Grammatik
erlernen." Also die Psalmen lernten sie auch ohne Buchstaben, durch Vorsagen
wahrscheinlich.

Der große Kaiser Karl fand für seine Pläne viele Willigkeit bei den höhern
Geistlichen, aber unübersteigliche Schwierigkeiten bei der Masse. Man erließ
die Strafbestimmung — und da ist schon einer der wunderlichen Gegensätze —,
daß jeder, der durchaus nicht lernen wolle, mit Schlägen und Fasten bei Wasser
und Brot solle gezüchtigt werden, bis er alles — das apostolische und Athana-
sianische Symbolum und das Vaterunser — lateinisch herzusagen wisse. Wer
sich dagegen wehre, solle an den (Gerichts-) Hof gebracht, Weiber aber sollten mit


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[0328] Gegensätze in der Kultur des Mttelalters. ihren innern Wert und ihre Wahrheit, so sammelt die mittelalterliche Welt, soweit sie überhaupt noch der Kultur zugewandt ist, viel Herrliches, Berühmtes in sich auf, freut sich dessen, soweit es nicht mit dem Christentum der Über¬ lieferung im Streit zu stehen scheint; aber sie hat weder Lust noch Fähigkeit, an diesen Stoffen Kritik zu üben, am wenigsten die Kritik, die sich auf die ewigen Gesetze der Natur und des Menschengeistes mit Bewußtsein gründet. Denn wenn es auch einigen Schulhänptern nicht zu kühn schien, in ihren Lieblingsschriftstellern einige Verbesserungen durch Konjektur anzubringen, so ist das doch eine Ausnahme, und selbst diese Kühnheit mußte entschuldigt werden dadurch, daß die „Alten" es auch schon so gemacht hätten. Die Sache ist denn auch völlig harmlos. Es mögen nun einige der Gegensätze aufgeführt werden, von denen wir sprechen. Wir gehen von einer leider zu wenig bekannten Preisschrift Spechts „Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts" (Stuttgart, 1885) aus. Sie zeigt an der Hand der mühsam gesammelten Quellen, daß die Kirche des Mittel¬ alters um die Fortpflanzung der gewöhnlichen Bildung wirklich die Verdienste gehabt hat, die man ihr eine Zeit lang abzusprechen Lust hatte. In den Klöstern war eine „innere" mönchische Schule, die wesentlich die künftigen Geistlichen erzog (die xusri MM), aber auch Adliche, die nicht gerade unbedingt Geist¬ liche werden sollten. Das letztere kam noch gewöhnlicher bei der „äußern" Schule vor, die im allgemeinen ebenso wie die innere „nach der Überlieferung der Römer" unterrichtete, aber weniger mönchisch die Schüler in Zucht hielt und auch Unbemittelte nicht ausschloß. Wesentlich trieb man Latein, und hier wieder vor allem die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus. Einer besondern Gunst erfreuten sich die Psalmen, die auch von solchen Schülern auswendig gelernt wurden, die den Text nur lesen, aber nicht verstehen konnten. Der Pädagog Sabor würde hier schon seinen Spruch anbringen, daß das tief blicken läßt. Damals war das nicht auffallend. Die Synode von 789 (Aachen) sagt: „In jedem Kloster und Domstift sollen Schulen sein, in welchen die Knaben die Psalmen, die Buch¬ staben, den Gesang, das Berechnen der kirchlichen Festtage und die Grammatik erlernen." Also die Psalmen lernten sie auch ohne Buchstaben, durch Vorsagen wahrscheinlich. Der große Kaiser Karl fand für seine Pläne viele Willigkeit bei den höhern Geistlichen, aber unübersteigliche Schwierigkeiten bei der Masse. Man erließ die Strafbestimmung — und da ist schon einer der wunderlichen Gegensätze —, daß jeder, der durchaus nicht lernen wolle, mit Schlägen und Fasten bei Wasser und Brot solle gezüchtigt werden, bis er alles — das apostolische und Athana- sianische Symbolum und das Vaterunser — lateinisch herzusagen wisse. Wer sich dagegen wehre, solle an den (Gerichts-) Hof gebracht, Weiber aber sollten mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/328>, abgerufen am 17.09.2024.