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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

der Organisation darstellten, sondern weil sie nur für diejenigen Lebensbedingungen
vollkommen zweckmäßig eingerichtet waren, die bei irgend einer großen Um¬
wälzung aufhörten, da zu sein.

Die Paläontologie zeigt uns jedenfalls, daß die Mannichfaltigkeit der
Organismen in vorhistorischen Perioden größer war als heutzutage. Wenn es
früher Geschöpfe gab, die zwischen Vögeln, Fischen und Eidechsen die merk¬
würdigsten Übergänge und Verbindungen darstellten, so kann mau diesen Reich¬
tum der Bildungen unmöglich als eine niedere Stufe der Organisation be¬
trachten. Im Gegenteil, die Erde ist in historischen Zeiten nur ärmer an
organischen Formen geworden. Unsre heutige Erfahrung spricht von unter¬
gehenden und nussterbendeu Arten, aber niemals von neugeschaffenen, die sich
auf die Dauer erhalten. Noch deutlicher als bei den Tieren tritt uns die Ab¬
nahme der Mannichfaltigkeit und Großartigkeit der Gewächse in der Pflanzen¬
welt entgegen. Wir wissen bestimmt, daß ungeheure Waldgebiete in allen Erd¬
teilen durch den Einfluß der Menschen zu Grunde gegangen sind, und daß öde,
steinige Wüsten heutzutage nur zu häufig jedem Kulturbestrebeu Widerstand
leisten, obwohl sie früher von Wald und fruchtbaren Ackern bedeckt waren.
Wälder von der überschwänglichen Saft- und Kraftfülle, wie jene, die einst die
Bildung der Steinkohlen verursachten, sind heute auf der Oberfläche der Erde
auf mäßige Gebiete eingeschränkt. Wo bleibt da der Gedanke der beständig
fortschreitenden Vervollkommnung?

Aber noch weit weniger glückt es uns, diesen Gedanken in der Natur¬
geschichte des Menschengeschlechtes durchzuführen. Die ersten Schädel, die man
in der Kreideformation fand, mußten natürlich mikrozephal sein; die Anthro¬
pologen wollten durchaus, daß die ältesten Formen unsrer Urahnen unvoll¬
kommener entwickelt seien als die heute lebenden. Aber leider machte wieder die
weitere Erfahrung eiuen großen Strich durch die Theorie, da andre Funde
menschlicher Schädel und Knochen gemacht wurden, die sich in garnichts von
den vollkommensten Gestalten unsrer Zeit unterscheiden. Ja sogar künstlich be¬
arbeitete Gerätschaften, die man mit den Gebeinen der ältesten Menschen ge¬
funden hat, lassen es unzweifelhaft erscheinen, daß dieselben eine weit höhere
Kultur erworben haben mußten, als heute noch mauche Jnselbewohner der
Südsee besitzen. Dichter, die es lieben, naturwissenschaftliche Themata zu be¬
singen wie Scheffel und der Graf von Schack, haben uns freilich mit lebhaften
Farben geschildert, wie unvollkommen und roh die Urmenschen zwischen den
Ungeheuern der Urwelt traurige und angstvolle Tage verlebten; aber wo wir
in der That Neste der ältesten Menschen gefunden haben, spricht alles nur für
die Herrschaft, die schon damals die kräftigsten und begabtesten Menschen über
die Welt der Tiere und Pflanzen geübt haben. Dichter haben ja Freiheiten,
die dem strengen Forscher nicht zustehen.

Auch die Ausgrabungen im Diluvium und Alluvium, die man heutzutage


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

der Organisation darstellten, sondern weil sie nur für diejenigen Lebensbedingungen
vollkommen zweckmäßig eingerichtet waren, die bei irgend einer großen Um¬
wälzung aufhörten, da zu sein.

Die Paläontologie zeigt uns jedenfalls, daß die Mannichfaltigkeit der
Organismen in vorhistorischen Perioden größer war als heutzutage. Wenn es
früher Geschöpfe gab, die zwischen Vögeln, Fischen und Eidechsen die merk¬
würdigsten Übergänge und Verbindungen darstellten, so kann mau diesen Reich¬
tum der Bildungen unmöglich als eine niedere Stufe der Organisation be¬
trachten. Im Gegenteil, die Erde ist in historischen Zeiten nur ärmer an
organischen Formen geworden. Unsre heutige Erfahrung spricht von unter¬
gehenden und nussterbendeu Arten, aber niemals von neugeschaffenen, die sich
auf die Dauer erhalten. Noch deutlicher als bei den Tieren tritt uns die Ab¬
nahme der Mannichfaltigkeit und Großartigkeit der Gewächse in der Pflanzen¬
welt entgegen. Wir wissen bestimmt, daß ungeheure Waldgebiete in allen Erd¬
teilen durch den Einfluß der Menschen zu Grunde gegangen sind, und daß öde,
steinige Wüsten heutzutage nur zu häufig jedem Kulturbestrebeu Widerstand
leisten, obwohl sie früher von Wald und fruchtbaren Ackern bedeckt waren.
Wälder von der überschwänglichen Saft- und Kraftfülle, wie jene, die einst die
Bildung der Steinkohlen verursachten, sind heute auf der Oberfläche der Erde
auf mäßige Gebiete eingeschränkt. Wo bleibt da der Gedanke der beständig
fortschreitenden Vervollkommnung?

Aber noch weit weniger glückt es uns, diesen Gedanken in der Natur¬
geschichte des Menschengeschlechtes durchzuführen. Die ersten Schädel, die man
in der Kreideformation fand, mußten natürlich mikrozephal sein; die Anthro¬
pologen wollten durchaus, daß die ältesten Formen unsrer Urahnen unvoll¬
kommener entwickelt seien als die heute lebenden. Aber leider machte wieder die
weitere Erfahrung eiuen großen Strich durch die Theorie, da andre Funde
menschlicher Schädel und Knochen gemacht wurden, die sich in garnichts von
den vollkommensten Gestalten unsrer Zeit unterscheiden. Ja sogar künstlich be¬
arbeitete Gerätschaften, die man mit den Gebeinen der ältesten Menschen ge¬
funden hat, lassen es unzweifelhaft erscheinen, daß dieselben eine weit höhere
Kultur erworben haben mußten, als heute noch mauche Jnselbewohner der
Südsee besitzen. Dichter, die es lieben, naturwissenschaftliche Themata zu be¬
singen wie Scheffel und der Graf von Schack, haben uns freilich mit lebhaften
Farben geschildert, wie unvollkommen und roh die Urmenschen zwischen den
Ungeheuern der Urwelt traurige und angstvolle Tage verlebten; aber wo wir
in der That Neste der ältesten Menschen gefunden haben, spricht alles nur für
die Herrschaft, die schon damals die kräftigsten und begabtesten Menschen über
die Welt der Tiere und Pflanzen geübt haben. Dichter haben ja Freiheiten,
die dem strengen Forscher nicht zustehen.

Auch die Ausgrabungen im Diluvium und Alluvium, die man heutzutage


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[0324] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. der Organisation darstellten, sondern weil sie nur für diejenigen Lebensbedingungen vollkommen zweckmäßig eingerichtet waren, die bei irgend einer großen Um¬ wälzung aufhörten, da zu sein. Die Paläontologie zeigt uns jedenfalls, daß die Mannichfaltigkeit der Organismen in vorhistorischen Perioden größer war als heutzutage. Wenn es früher Geschöpfe gab, die zwischen Vögeln, Fischen und Eidechsen die merk¬ würdigsten Übergänge und Verbindungen darstellten, so kann mau diesen Reich¬ tum der Bildungen unmöglich als eine niedere Stufe der Organisation be¬ trachten. Im Gegenteil, die Erde ist in historischen Zeiten nur ärmer an organischen Formen geworden. Unsre heutige Erfahrung spricht von unter¬ gehenden und nussterbendeu Arten, aber niemals von neugeschaffenen, die sich auf die Dauer erhalten. Noch deutlicher als bei den Tieren tritt uns die Ab¬ nahme der Mannichfaltigkeit und Großartigkeit der Gewächse in der Pflanzen¬ welt entgegen. Wir wissen bestimmt, daß ungeheure Waldgebiete in allen Erd¬ teilen durch den Einfluß der Menschen zu Grunde gegangen sind, und daß öde, steinige Wüsten heutzutage nur zu häufig jedem Kulturbestrebeu Widerstand leisten, obwohl sie früher von Wald und fruchtbaren Ackern bedeckt waren. Wälder von der überschwänglichen Saft- und Kraftfülle, wie jene, die einst die Bildung der Steinkohlen verursachten, sind heute auf der Oberfläche der Erde auf mäßige Gebiete eingeschränkt. Wo bleibt da der Gedanke der beständig fortschreitenden Vervollkommnung? Aber noch weit weniger glückt es uns, diesen Gedanken in der Natur¬ geschichte des Menschengeschlechtes durchzuführen. Die ersten Schädel, die man in der Kreideformation fand, mußten natürlich mikrozephal sein; die Anthro¬ pologen wollten durchaus, daß die ältesten Formen unsrer Urahnen unvoll¬ kommener entwickelt seien als die heute lebenden. Aber leider machte wieder die weitere Erfahrung eiuen großen Strich durch die Theorie, da andre Funde menschlicher Schädel und Knochen gemacht wurden, die sich in garnichts von den vollkommensten Gestalten unsrer Zeit unterscheiden. Ja sogar künstlich be¬ arbeitete Gerätschaften, die man mit den Gebeinen der ältesten Menschen ge¬ funden hat, lassen es unzweifelhaft erscheinen, daß dieselben eine weit höhere Kultur erworben haben mußten, als heute noch mauche Jnselbewohner der Südsee besitzen. Dichter, die es lieben, naturwissenschaftliche Themata zu be¬ singen wie Scheffel und der Graf von Schack, haben uns freilich mit lebhaften Farben geschildert, wie unvollkommen und roh die Urmenschen zwischen den Ungeheuern der Urwelt traurige und angstvolle Tage verlebten; aber wo wir in der That Neste der ältesten Menschen gefunden haben, spricht alles nur für die Herrschaft, die schon damals die kräftigsten und begabtesten Menschen über die Welt der Tiere und Pflanzen geübt haben. Dichter haben ja Freiheiten, die dem strengen Forscher nicht zustehen. Auch die Ausgrabungen im Diluvium und Alluvium, die man heutzutage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/324>, abgerufen am 17.09.2024.