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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

mit großem Eifer betreibt, haben niemals Spuren aufgezeigt, daß die vor¬
geschichtlichen Menschen schwächer oder unvollkommener gebildet gewesen seien
als die heutigen. Im Gegenteil, man hat oft genug geglaubt. Gebeine von
riesenhafter Größe zu finden, die schließlich doch niemals dasjenige Maß über¬
schritten, welches heute noch die größten unsers Geschlechts erreichen. Die
gespannte Erwartung, endlich einmal Übergangsstnfen vom Affen zum Menschen
zu finden, ist immer wieder getäuscht worden. Und die ältesten geschichtlichen
Überlieferungen, die wir besitzen, geben nie eine Andeutung, daß man die Ur¬
ahnen jemals in einem unvollkommeneren Zustande sich vorgestellt hätte. Viel¬
mehr finden wir überall wie bei Homer die Klage, daß die gewaltige Kraft
und selbst die Weisheit der Urahnen den Enkeln entschwunden sei. Das mag
freilich auch mit auf die Rechnung der poetischen Licenz zu setzen sein, aber
sicher spricht es nicht für die Theorie der beständig fortschreitenden Vervoll¬
kommnung. Wie lächerlich die Theorie der Entwicklung des Farbensinnes, die
zuerst von Mr. Gladstone angeregt wurde, zu Grunde gegangen ist, seit man
die Völker auf deu niedersten Stufen der Kultur untersucht hat, ist noch frisch
in unserm Gedächtnis. Man hätte sich diese große Mühe sparen können, wenn
man im Herodot die Aufzählung der mannichfaltigen Farben auf den Mauer-
zinnen von Ekbatana nachgesehen und nicht die Augen verschlossen hätte gegen
die Denkmäler der ältesten ägyptischen und assyrischen Kunst.¬

Überall aber, wo wir thatsächlich geschichtliche Dokumente aus dem Alter
tum besitzen, können wir sicher niemals auf eine geringere geistige Entwicklung
der Urheber schließe". Unsre Historiker scheinen auch frei von dieser phan¬
tastische" Theorie zu sein, nur die Naturforscher glauben sich noch diese Freiheit
gestatten zu können, umsomehr, je weniger historische Bildung sie haben. Mit
welcher Bewunderung sah nicht Macauley zu Thukydides empor! Wie ge¬
waltig verherrlichen nicht andre Schriftsteller den Cäsar! Und ob sich jemals
ein deutscher Gelehrter an Umfang des Wissens und alles durchdringendem
Scharfsinn dein Aristoteles vergleichen konnte, will mir sehr zweifelhaft er-
scheinen. Wie die Geschichte der Erdrinde von untergegangenen Wäldern und
Verschwundenen Tierformen berichtet, so spricht die Geschichte des Menschen¬
geschlechtes von vielen zu Grunde gegangnen Völkern, von verwüsteten Kulturen,
von zerstörte" Staate", vom Sieg der Barbarei über die edelste Bildung, und
der beständige Fortschritt zu höhern Bildungsstufen ist nnr ein Gedanke von
uns, der sich nirgends in der Erfahrung bestätigt findet. Alexander von Hum¬
boldt tröstete sich wohl, wenn ihm seine reiche Kenntnis ähnliche Betrachtungen
aufdränge" wollte, mit der Annahme, daß die Kurve der Entwicklung des
Menschengeschlechtes sich in Wellenlinien bewege, und es nnr für den Lebenden
ein unangenehmer Zufall sei, sich ans der absteigenden Linie einer Wellen-
crhebung zu finden; als solche erschien ihm nämlich die Geschichte seines Vater¬
landes in den fünfziger Jahren.


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

mit großem Eifer betreibt, haben niemals Spuren aufgezeigt, daß die vor¬
geschichtlichen Menschen schwächer oder unvollkommener gebildet gewesen seien
als die heutigen. Im Gegenteil, man hat oft genug geglaubt. Gebeine von
riesenhafter Größe zu finden, die schließlich doch niemals dasjenige Maß über¬
schritten, welches heute noch die größten unsers Geschlechts erreichen. Die
gespannte Erwartung, endlich einmal Übergangsstnfen vom Affen zum Menschen
zu finden, ist immer wieder getäuscht worden. Und die ältesten geschichtlichen
Überlieferungen, die wir besitzen, geben nie eine Andeutung, daß man die Ur¬
ahnen jemals in einem unvollkommeneren Zustande sich vorgestellt hätte. Viel¬
mehr finden wir überall wie bei Homer die Klage, daß die gewaltige Kraft
und selbst die Weisheit der Urahnen den Enkeln entschwunden sei. Das mag
freilich auch mit auf die Rechnung der poetischen Licenz zu setzen sein, aber
sicher spricht es nicht für die Theorie der beständig fortschreitenden Vervoll¬
kommnung. Wie lächerlich die Theorie der Entwicklung des Farbensinnes, die
zuerst von Mr. Gladstone angeregt wurde, zu Grunde gegangen ist, seit man
die Völker auf deu niedersten Stufen der Kultur untersucht hat, ist noch frisch
in unserm Gedächtnis. Man hätte sich diese große Mühe sparen können, wenn
man im Herodot die Aufzählung der mannichfaltigen Farben auf den Mauer-
zinnen von Ekbatana nachgesehen und nicht die Augen verschlossen hätte gegen
die Denkmäler der ältesten ägyptischen und assyrischen Kunst.¬

Überall aber, wo wir thatsächlich geschichtliche Dokumente aus dem Alter
tum besitzen, können wir sicher niemals auf eine geringere geistige Entwicklung
der Urheber schließe». Unsre Historiker scheinen auch frei von dieser phan¬
tastische« Theorie zu sein, nur die Naturforscher glauben sich noch diese Freiheit
gestatten zu können, umsomehr, je weniger historische Bildung sie haben. Mit
welcher Bewunderung sah nicht Macauley zu Thukydides empor! Wie ge¬
waltig verherrlichen nicht andre Schriftsteller den Cäsar! Und ob sich jemals
ein deutscher Gelehrter an Umfang des Wissens und alles durchdringendem
Scharfsinn dein Aristoteles vergleichen konnte, will mir sehr zweifelhaft er-
scheinen. Wie die Geschichte der Erdrinde von untergegangenen Wäldern und
Verschwundenen Tierformen berichtet, so spricht die Geschichte des Menschen¬
geschlechtes von vielen zu Grunde gegangnen Völkern, von verwüsteten Kulturen,
von zerstörte» Staate», vom Sieg der Barbarei über die edelste Bildung, und
der beständige Fortschritt zu höhern Bildungsstufen ist nnr ein Gedanke von
uns, der sich nirgends in der Erfahrung bestätigt findet. Alexander von Hum¬
boldt tröstete sich wohl, wenn ihm seine reiche Kenntnis ähnliche Betrachtungen
aufdränge» wollte, mit der Annahme, daß die Kurve der Entwicklung des
Menschengeschlechtes sich in Wellenlinien bewege, und es nnr für den Lebenden
ein unangenehmer Zufall sei, sich ans der absteigenden Linie einer Wellen-
crhebung zu finden; als solche erschien ihm nämlich die Geschichte seines Vater¬
landes in den fünfziger Jahren.


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[0325] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. mit großem Eifer betreibt, haben niemals Spuren aufgezeigt, daß die vor¬ geschichtlichen Menschen schwächer oder unvollkommener gebildet gewesen seien als die heutigen. Im Gegenteil, man hat oft genug geglaubt. Gebeine von riesenhafter Größe zu finden, die schließlich doch niemals dasjenige Maß über¬ schritten, welches heute noch die größten unsers Geschlechts erreichen. Die gespannte Erwartung, endlich einmal Übergangsstnfen vom Affen zum Menschen zu finden, ist immer wieder getäuscht worden. Und die ältesten geschichtlichen Überlieferungen, die wir besitzen, geben nie eine Andeutung, daß man die Ur¬ ahnen jemals in einem unvollkommeneren Zustande sich vorgestellt hätte. Viel¬ mehr finden wir überall wie bei Homer die Klage, daß die gewaltige Kraft und selbst die Weisheit der Urahnen den Enkeln entschwunden sei. Das mag freilich auch mit auf die Rechnung der poetischen Licenz zu setzen sein, aber sicher spricht es nicht für die Theorie der beständig fortschreitenden Vervoll¬ kommnung. Wie lächerlich die Theorie der Entwicklung des Farbensinnes, die zuerst von Mr. Gladstone angeregt wurde, zu Grunde gegangen ist, seit man die Völker auf deu niedersten Stufen der Kultur untersucht hat, ist noch frisch in unserm Gedächtnis. Man hätte sich diese große Mühe sparen können, wenn man im Herodot die Aufzählung der mannichfaltigen Farben auf den Mauer- zinnen von Ekbatana nachgesehen und nicht die Augen verschlossen hätte gegen die Denkmäler der ältesten ägyptischen und assyrischen Kunst.¬ Überall aber, wo wir thatsächlich geschichtliche Dokumente aus dem Alter tum besitzen, können wir sicher niemals auf eine geringere geistige Entwicklung der Urheber schließe». Unsre Historiker scheinen auch frei von dieser phan¬ tastische« Theorie zu sein, nur die Naturforscher glauben sich noch diese Freiheit gestatten zu können, umsomehr, je weniger historische Bildung sie haben. Mit welcher Bewunderung sah nicht Macauley zu Thukydides empor! Wie ge¬ waltig verherrlichen nicht andre Schriftsteller den Cäsar! Und ob sich jemals ein deutscher Gelehrter an Umfang des Wissens und alles durchdringendem Scharfsinn dein Aristoteles vergleichen konnte, will mir sehr zweifelhaft er- scheinen. Wie die Geschichte der Erdrinde von untergegangenen Wäldern und Verschwundenen Tierformen berichtet, so spricht die Geschichte des Menschen¬ geschlechtes von vielen zu Grunde gegangnen Völkern, von verwüsteten Kulturen, von zerstörte» Staate», vom Sieg der Barbarei über die edelste Bildung, und der beständige Fortschritt zu höhern Bildungsstufen ist nnr ein Gedanke von uns, der sich nirgends in der Erfahrung bestätigt findet. Alexander von Hum¬ boldt tröstete sich wohl, wenn ihm seine reiche Kenntnis ähnliche Betrachtungen aufdränge» wollte, mit der Annahme, daß die Kurve der Entwicklung des Menschengeschlechtes sich in Wellenlinien bewege, und es nnr für den Lebenden ein unangenehmer Zufall sei, sich ans der absteigenden Linie einer Wellen- crhebung zu finden; als solche erschien ihm nämlich die Geschichte seines Vater¬ landes in den fünfziger Jahren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/325>, abgerufen am 17.09.2024.