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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte.

durch absichtliche Irreleitung der Jury hervorgerufen werden, sondern um solche,
die ganz im Geiste des augenblicklich herrschenden allgemeinen Rechtöbewußtscius
gefällt werden. Wie ungesund und fehlerhaft muß aber das Rechtsbewußtsein
eines Volkes entwickelt sein, welches in dem Gerichtssaale nicht den Ort erblickt,
wo einzig und allein das Gesetz, es möge noch so mangelhaft und verbesserungs¬
bedürftig sein, so wie es ist, zur Anwendung gebracht werden muß. sondern ihn
mit der Stelle verwechselt, an welcher Gnade geübt oder ein Racheakt vollzogen
werden darf!

Übrigens mehren sich die Anzeichen, daß den Franzosen selber vor ihrer
Rechtsprechung bange wird. Es giebt unter ihnen zum Glück noch genug an¬
gesehene und einsichtsvolle Männer, welche das wahre Wesen der Rechtspflege
richtig erkennen und eindringlich davor warnen, daß die Strafjustiz zum Spiel¬
ball augenblicklicher Stimmungen und Strömungen gemacht werde. So hat
erst kürzlich ein hervorragendes Pariser Blatt an die Mitteilung mehrerer auf¬
fälligen Wahrsprüche aus neuester Zeit einige vortreffliche Bemerkungen geknüpft,
die uns so charakteristisch scheinen, daß sie wohl hier wiedergegeben werden
dürfen. "Die Urteile des Schwurgerichtes der Seine -- so schreibt das
^ourng.1 Vsdat8 vom 5. März d. I. -- folgen aufeinander, aber sie gleichen
einander nicht. Vorgestern hat die Jury einen Chemiker freigesprochen, der,
Ehemann und Familienvater, die Untreue seiner Geliebten mit Nevolverschüsscn
bestraft hatte. Gestern hat sie einen Geometer verurteilt, der sich mit Messer¬
stichen für die Wunden gerächt hatte, welche er seiner ehelichen Ehre zugefügt
glaubte. Das Schwurgericht der Seine hat offenbar über diese Dinge äußerst
feine Ansichten, oder vielmehr es hat darüber gar keine Ansicht. Es folgt
der Eingebung des Augenblicks. Man wiederholt ihm ja, daß es souverän
und unfehlbar sei. Es macht sich dies zu nutze, um sich alle möglichen Launen
zu gestatten. Aber mau muß bekennen, daß die Strafjustiz, unter solchen Um¬
ständen ausgeübt, viel von ihrem moralischen Ansehen und auch viel von ihrer
Praktischen Wirksamkeit einbüßt." Ähnliche Bedenken gelangen auch in dem
oben erwähnten Aufsätze von Desjardins zum Ausdrucke.




Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte.

durch absichtliche Irreleitung der Jury hervorgerufen werden, sondern um solche,
die ganz im Geiste des augenblicklich herrschenden allgemeinen Rechtöbewußtscius
gefällt werden. Wie ungesund und fehlerhaft muß aber das Rechtsbewußtsein
eines Volkes entwickelt sein, welches in dem Gerichtssaale nicht den Ort erblickt,
wo einzig und allein das Gesetz, es möge noch so mangelhaft und verbesserungs¬
bedürftig sein, so wie es ist, zur Anwendung gebracht werden muß. sondern ihn
mit der Stelle verwechselt, an welcher Gnade geübt oder ein Racheakt vollzogen
werden darf!

Übrigens mehren sich die Anzeichen, daß den Franzosen selber vor ihrer
Rechtsprechung bange wird. Es giebt unter ihnen zum Glück noch genug an¬
gesehene und einsichtsvolle Männer, welche das wahre Wesen der Rechtspflege
richtig erkennen und eindringlich davor warnen, daß die Strafjustiz zum Spiel¬
ball augenblicklicher Stimmungen und Strömungen gemacht werde. So hat
erst kürzlich ein hervorragendes Pariser Blatt an die Mitteilung mehrerer auf¬
fälligen Wahrsprüche aus neuester Zeit einige vortreffliche Bemerkungen geknüpft,
die uns so charakteristisch scheinen, daß sie wohl hier wiedergegeben werden
dürfen. „Die Urteile des Schwurgerichtes der Seine — so schreibt das
^ourng.1 Vsdat8 vom 5. März d. I. — folgen aufeinander, aber sie gleichen
einander nicht. Vorgestern hat die Jury einen Chemiker freigesprochen, der,
Ehemann und Familienvater, die Untreue seiner Geliebten mit Nevolverschüsscn
bestraft hatte. Gestern hat sie einen Geometer verurteilt, der sich mit Messer¬
stichen für die Wunden gerächt hatte, welche er seiner ehelichen Ehre zugefügt
glaubte. Das Schwurgericht der Seine hat offenbar über diese Dinge äußerst
feine Ansichten, oder vielmehr es hat darüber gar keine Ansicht. Es folgt
der Eingebung des Augenblicks. Man wiederholt ihm ja, daß es souverän
und unfehlbar sei. Es macht sich dies zu nutze, um sich alle möglichen Launen
zu gestatten. Aber mau muß bekennen, daß die Strafjustiz, unter solchen Um¬
ständen ausgeübt, viel von ihrem moralischen Ansehen und auch viel von ihrer
Praktischen Wirksamkeit einbüßt." Ähnliche Bedenken gelangen auch in dem
oben erwähnten Aufsätze von Desjardins zum Ausdrucke.




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[0141] Die Rechtsprechung der französischen Schwurgerichte. durch absichtliche Irreleitung der Jury hervorgerufen werden, sondern um solche, die ganz im Geiste des augenblicklich herrschenden allgemeinen Rechtöbewußtscius gefällt werden. Wie ungesund und fehlerhaft muß aber das Rechtsbewußtsein eines Volkes entwickelt sein, welches in dem Gerichtssaale nicht den Ort erblickt, wo einzig und allein das Gesetz, es möge noch so mangelhaft und verbesserungs¬ bedürftig sein, so wie es ist, zur Anwendung gebracht werden muß. sondern ihn mit der Stelle verwechselt, an welcher Gnade geübt oder ein Racheakt vollzogen werden darf! Übrigens mehren sich die Anzeichen, daß den Franzosen selber vor ihrer Rechtsprechung bange wird. Es giebt unter ihnen zum Glück noch genug an¬ gesehene und einsichtsvolle Männer, welche das wahre Wesen der Rechtspflege richtig erkennen und eindringlich davor warnen, daß die Strafjustiz zum Spiel¬ ball augenblicklicher Stimmungen und Strömungen gemacht werde. So hat erst kürzlich ein hervorragendes Pariser Blatt an die Mitteilung mehrerer auf¬ fälligen Wahrsprüche aus neuester Zeit einige vortreffliche Bemerkungen geknüpft, die uns so charakteristisch scheinen, daß sie wohl hier wiedergegeben werden dürfen. „Die Urteile des Schwurgerichtes der Seine — so schreibt das ^ourng.1 Vsdat8 vom 5. März d. I. — folgen aufeinander, aber sie gleichen einander nicht. Vorgestern hat die Jury einen Chemiker freigesprochen, der, Ehemann und Familienvater, die Untreue seiner Geliebten mit Nevolverschüsscn bestraft hatte. Gestern hat sie einen Geometer verurteilt, der sich mit Messer¬ stichen für die Wunden gerächt hatte, welche er seiner ehelichen Ehre zugefügt glaubte. Das Schwurgericht der Seine hat offenbar über diese Dinge äußerst feine Ansichten, oder vielmehr es hat darüber gar keine Ansicht. Es folgt der Eingebung des Augenblicks. Man wiederholt ihm ja, daß es souverän und unfehlbar sei. Es macht sich dies zu nutze, um sich alle möglichen Launen zu gestatten. Aber mau muß bekennen, daß die Strafjustiz, unter solchen Um¬ ständen ausgeübt, viel von ihrem moralischen Ansehen und auch viel von ihrer Praktischen Wirksamkeit einbüßt." Ähnliche Bedenken gelangen auch in dem oben erwähnten Aufsätze von Desjardins zum Ausdrucke.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/141>, abgerufen am 17.09.2024.