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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

kleinen Geschwister und zum Teil auch der Wirtschaft wegen den Vater nicht
begleiten. So wurden mein Bruder und ich dazu auserlesen. Zu uns dreien
gesellte sich noch eine vierte, höchst wunderliche und in mancher Beziehung auch
komische Persönlichkeit, in welche der Vater, ich weiß nicht genau warum, großes
Vertrauen setzte. Allerdings kannte Lehmann -- dies war des Auserkorenen
Name -- den Badeort, da er denselben früher schon besucht hatte. Er konnte
deshalb als Ratgeber immerhin benutzt werden, wenn auch nur mit großer
Vorsicht. Als Gefährte und Begleiter in Teplitz selbst aber war der Mann
durchaus nicht zu empfehlen, da sein bloßes Erscheinen schon unter Unbekannten
einen Zusammenlauf von Menschen hervorrufen konnte.

Dieser unser Begleiter und, wenn man will, Reisemarschall war an beiden
Armen gelähmt. Obwohl von hoher Statur, ging er doch immer gebückt, das
unschöne, blatternarbige, selten gewaschene, immer aber mit braunen Tabaks¬
tüpfeln bedeckte Gesicht vorgestreckt, gewöhnlich sehr rasch, indem seine langen,
hagern Armee mit weitgespreizten Fingern fortwährend wie zwei Perpendikel
hin- und herschlenkerten. Er war ein sehr eifriger Kirchgänger, der sogar keine
der wöchentlichen Betstunden zu versäumen pflegte, beschäftigte sich daheim fast
ausnahmslos mit Bibellesen, dachte in seiner Weise viel über Religion nach und
unterhielt sich gern über kirchliche Angelegenheiten. Meinen Vater verehrte er
als Prediger sehr, was er offen aussprach; deshalb erzählte er ihm auch manch¬
mal den einen oder andern seiner originellen Träume, die er gleich selbst aus¬
legte. So wunderlich diese Deutungen des wunderlichen Kauzes auch waren,
der Vater hörte stets geduldig zu und blieb immer ernsthaft dabei.

Lehmann war ein Mensch fast ohne alle Bedürfnisse, zufrieden mit der
dürftigsten Wohnung, der kümmerlichsten Nahrung. Wollte also jemand in
Erfahrung bringen, wie man sich in der Fremde möglichst billig durchschlage,
so mußte in dem eifrigen Kirchgänger, der stark zu den Herrnhutern hinneigte,
die passendste Persönlichkeit gefunden sein. Als rüstiger Fußgänger hatte er
selbstverständlich die fünfzehn Meilen bis nach Teplitz zurückgelegt und zwar
in zwei Tagen, wie er uns mit großer Selbstzufriedenheit erzählte. Auch dies¬
mal würde er in derselben Weise den Badeort aufgesucht haben, wäre ihm vom
Vater nicht ein Platz ans dem Wagen, dessen wir uns bedienen wollten, ange¬
boten worden. Stolz auf so große Ehre, nahm er das Anerbieten an mit dem
Versprechen, uns auf der Rückreise, die auf des beredten Mannes wiederholtes
Anraten zu Fuß gemacht werden sollte, den allerkürzesten Weg zu führen.

Wir Knaben versprachen uns viel Spaß von dem alten gelähmten Manne,
der immer guten Humors war und Dinge aufs Tapet brachte, die wohl ge¬
eignet sein konnten, uns unterwegs die Zeit angenehm zu vertreiben. Der
Vater hieß manches gut, was der Alte ihm vorsprach, und so wurde denn fest¬
gesetzt, daß man sich gegenseitig in Teplitz stets im Auge behalten und, wo es
nötig sein möchte, mit Rat und That unterstützen wolle.


Jugenderinnerungen.

kleinen Geschwister und zum Teil auch der Wirtschaft wegen den Vater nicht
begleiten. So wurden mein Bruder und ich dazu auserlesen. Zu uns dreien
gesellte sich noch eine vierte, höchst wunderliche und in mancher Beziehung auch
komische Persönlichkeit, in welche der Vater, ich weiß nicht genau warum, großes
Vertrauen setzte. Allerdings kannte Lehmann — dies war des Auserkorenen
Name — den Badeort, da er denselben früher schon besucht hatte. Er konnte
deshalb als Ratgeber immerhin benutzt werden, wenn auch nur mit großer
Vorsicht. Als Gefährte und Begleiter in Teplitz selbst aber war der Mann
durchaus nicht zu empfehlen, da sein bloßes Erscheinen schon unter Unbekannten
einen Zusammenlauf von Menschen hervorrufen konnte.

Dieser unser Begleiter und, wenn man will, Reisemarschall war an beiden
Armen gelähmt. Obwohl von hoher Statur, ging er doch immer gebückt, das
unschöne, blatternarbige, selten gewaschene, immer aber mit braunen Tabaks¬
tüpfeln bedeckte Gesicht vorgestreckt, gewöhnlich sehr rasch, indem seine langen,
hagern Armee mit weitgespreizten Fingern fortwährend wie zwei Perpendikel
hin- und herschlenkerten. Er war ein sehr eifriger Kirchgänger, der sogar keine
der wöchentlichen Betstunden zu versäumen pflegte, beschäftigte sich daheim fast
ausnahmslos mit Bibellesen, dachte in seiner Weise viel über Religion nach und
unterhielt sich gern über kirchliche Angelegenheiten. Meinen Vater verehrte er
als Prediger sehr, was er offen aussprach; deshalb erzählte er ihm auch manch¬
mal den einen oder andern seiner originellen Träume, die er gleich selbst aus¬
legte. So wunderlich diese Deutungen des wunderlichen Kauzes auch waren,
der Vater hörte stets geduldig zu und blieb immer ernsthaft dabei.

Lehmann war ein Mensch fast ohne alle Bedürfnisse, zufrieden mit der
dürftigsten Wohnung, der kümmerlichsten Nahrung. Wollte also jemand in
Erfahrung bringen, wie man sich in der Fremde möglichst billig durchschlage,
so mußte in dem eifrigen Kirchgänger, der stark zu den Herrnhutern hinneigte,
die passendste Persönlichkeit gefunden sein. Als rüstiger Fußgänger hatte er
selbstverständlich die fünfzehn Meilen bis nach Teplitz zurückgelegt und zwar
in zwei Tagen, wie er uns mit großer Selbstzufriedenheit erzählte. Auch dies¬
mal würde er in derselben Weise den Badeort aufgesucht haben, wäre ihm vom
Vater nicht ein Platz ans dem Wagen, dessen wir uns bedienen wollten, ange¬
boten worden. Stolz auf so große Ehre, nahm er das Anerbieten an mit dem
Versprechen, uns auf der Rückreise, die auf des beredten Mannes wiederholtes
Anraten zu Fuß gemacht werden sollte, den allerkürzesten Weg zu führen.

Wir Knaben versprachen uns viel Spaß von dem alten gelähmten Manne,
der immer guten Humors war und Dinge aufs Tapet brachte, die wohl ge¬
eignet sein konnten, uns unterwegs die Zeit angenehm zu vertreiben. Der
Vater hieß manches gut, was der Alte ihm vorsprach, und so wurde denn fest¬
gesetzt, daß man sich gegenseitig in Teplitz stets im Auge behalten und, wo es
nötig sein möchte, mit Rat und That unterstützen wolle.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/102>, abgerufen am 17.09.2024.