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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gine Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

Zufälle treten auch bei den Examinanden ein, bei denen ja diese Prüfung
nichts mehr und nichts weniger ist, als der Schlußakt einer langjährigen, un¬
unterbrochenen, geistlosen Gedächtnisarbeit.

Fast sollte man es für unmöglich halten, daß irgend jemand sich freiwillig
solcher Buße unterziehe; es ist aber zu berücksichtigen, daß es in diesem selt¬
samen Lande in der That keinen andern Weg giebt, um den höchsten Ehrgeiz
zu befriedigen. Wer diese Prüfung das erste mal nicht besteht, meldet sich fast
immer wieder zum nächsten Termin, eine Beschränkung in der Zahl der Wieder¬
holungen giebt es nicht, und so kommt es, daß eine große Zahl einmal und
immer wieder Durchgefallener in der Ablegung oder dem Versuch zur Ablegung
dieser Prüfung ihren Lebensberuf findet, und sich diesem hingiebt, bis sie ent¬
weder Erfolg haben, oder dabei körperlich und geistig zu Grunde gehen.

Es giebt viele, die den Versuch bis in ein hohes Alter fortsetzen, und nicht
selten sieht man unter den Examinanden ehrwürdige Graubärte im Alter von
siebzig bis achtzig Jahren. Solche Leute werden dann, auch wenn sie -- wie
gewöhnlich -- nicht bestehen, in Anerkennung ihrer Ausdauer vom Kaiser aus¬
gezeichnet; er verleiht ihnen einen der Sache entsprechenden ehrenvollen Titel.

Wie schon erwähnt, kommt es vor, daß Examinanden in ihren Zellen tot
gefunden werden. Auch das mit ihnen eingeschlagene Verfahren ist sehr seltsam.
Weil es nämlich streng verboten ist, während der Dauer der Prüfung das
Thor zu öffnen, so schlägt man in die änßere Umwallungsmauer ein Loch und
wirft die Leichname da hinaus, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Wer, nachdem er diese Prüfung bestanden hat, als Tjin-ezc oder
Obergelehrter seinem Ehrgeiz noch ein weiteres Feld öffnen will, meldet sich zu
der "Kanzlerprüfung," die im kaiserlichen Palast, und zwar in dem Saale
stattfindet, in welchem angeblich Se. himmlische Majestät selbst den Ministern
confucische Weisheit predigt. Der Kaiser hat bei der Prüfung den Vorsitz,
und die Examinanden, welche die Prüfung bestehen, werden von Sr. Majestät
zur Tafel befohlen, die höchste Ehre, die einem Sterblichen hienieden zu Teil
werden kaun. Merkwürdigerweise sitzt aber jeder Geladene an einem besondern
kleinen Tische.

Die hier erwähnte auserlesene Klasse von Gelehrten bildet die Han-Lin,
was auf Deutsch etwa "Kanzler der Gelahrtheit" heißen würde. Aus ihnen
werden die Minister, die höchsten Beamten des Reiches und -- die Mitglieder
der Examinations-Kommissionen entnommen, für die der Hauptstadt sowohl, wie
für die in den Provinzen und kleineren Schulkreisen.

Erwähnenswert ist noch die Einrichtung, daß die Examinatoren die Namen
der Verfasser der Arbeiten, welche ihnen zur Prüfung vorgelegt werden, nicht
kennen dürfen; der Examinator, dem nachgewiesen wird, daß er irgend welche
Bevorzugung hat eintreten lassen, verfällt ohne Gnade der schimpflichen Todes¬
strafe des Vauchaufschneidens.


Gine Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

Zufälle treten auch bei den Examinanden ein, bei denen ja diese Prüfung
nichts mehr und nichts weniger ist, als der Schlußakt einer langjährigen, un¬
unterbrochenen, geistlosen Gedächtnisarbeit.

Fast sollte man es für unmöglich halten, daß irgend jemand sich freiwillig
solcher Buße unterziehe; es ist aber zu berücksichtigen, daß es in diesem selt¬
samen Lande in der That keinen andern Weg giebt, um den höchsten Ehrgeiz
zu befriedigen. Wer diese Prüfung das erste mal nicht besteht, meldet sich fast
immer wieder zum nächsten Termin, eine Beschränkung in der Zahl der Wieder¬
holungen giebt es nicht, und so kommt es, daß eine große Zahl einmal und
immer wieder Durchgefallener in der Ablegung oder dem Versuch zur Ablegung
dieser Prüfung ihren Lebensberuf findet, und sich diesem hingiebt, bis sie ent¬
weder Erfolg haben, oder dabei körperlich und geistig zu Grunde gehen.

Es giebt viele, die den Versuch bis in ein hohes Alter fortsetzen, und nicht
selten sieht man unter den Examinanden ehrwürdige Graubärte im Alter von
siebzig bis achtzig Jahren. Solche Leute werden dann, auch wenn sie — wie
gewöhnlich — nicht bestehen, in Anerkennung ihrer Ausdauer vom Kaiser aus¬
gezeichnet; er verleiht ihnen einen der Sache entsprechenden ehrenvollen Titel.

Wie schon erwähnt, kommt es vor, daß Examinanden in ihren Zellen tot
gefunden werden. Auch das mit ihnen eingeschlagene Verfahren ist sehr seltsam.
Weil es nämlich streng verboten ist, während der Dauer der Prüfung das
Thor zu öffnen, so schlägt man in die änßere Umwallungsmauer ein Loch und
wirft die Leichname da hinaus, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Wer, nachdem er diese Prüfung bestanden hat, als Tjin-ezc oder
Obergelehrter seinem Ehrgeiz noch ein weiteres Feld öffnen will, meldet sich zu
der „Kanzlerprüfung," die im kaiserlichen Palast, und zwar in dem Saale
stattfindet, in welchem angeblich Se. himmlische Majestät selbst den Ministern
confucische Weisheit predigt. Der Kaiser hat bei der Prüfung den Vorsitz,
und die Examinanden, welche die Prüfung bestehen, werden von Sr. Majestät
zur Tafel befohlen, die höchste Ehre, die einem Sterblichen hienieden zu Teil
werden kaun. Merkwürdigerweise sitzt aber jeder Geladene an einem besondern
kleinen Tische.

Die hier erwähnte auserlesene Klasse von Gelehrten bildet die Han-Lin,
was auf Deutsch etwa „Kanzler der Gelahrtheit" heißen würde. Aus ihnen
werden die Minister, die höchsten Beamten des Reiches und — die Mitglieder
der Examinations-Kommissionen entnommen, für die der Hauptstadt sowohl, wie
für die in den Provinzen und kleineren Schulkreisen.

Erwähnenswert ist noch die Einrichtung, daß die Examinatoren die Namen
der Verfasser der Arbeiten, welche ihnen zur Prüfung vorgelegt werden, nicht
kennen dürfen; der Examinator, dem nachgewiesen wird, daß er irgend welche
Bevorzugung hat eintreten lassen, verfällt ohne Gnade der schimpflichen Todes¬
strafe des Vauchaufschneidens.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/99>, abgerufen am 22.07.2024.