Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

die je ein Abschnitt der Prüfung in Anspruch nimmt, darf der Examinand seine
Zelle nicht verlassen; Nachtruhe kann er sich nur durch Anlehnen an die Rück¬
wand verschaffen; seine Kost erhalt er dnrch den Aufseher und einige dazu an¬
gestellte Diener; sie besteht aus etwas Fleisch, Brot, Reis und heißem Thee.
Ehe der Examinand in seine Zelle hineingeht, wird er genau von Kopf bis zu
Füßen untersucht, ob er nicht unerlaubte Hilfsmittel bei sich führt. Tinte und
Schreibepinsel darf er sich selbst mitbringen, aber nicht Papier, dieses erhält er,
mit kaiserlichem Stempel versehen, vom Aufseher, muß aber sehr viel dafür be¬
zahlen. Erst nachdem er in der Zelle Platz genommen hat, erhält der Exami¬
nand seine Prüfungsaufgaben, die im wesentlichen darin bestehen, daß er aus
den Klassikern, insbesondre aus dem Confucius, Aufsätze anzufertigen hat.

Die Werke des Confucius und seiner Jünger sind seit undenklicher Zeit
der Hauptgegenstand alles Studiums gewesen und daher auch die Hauptgegen-
stände der Prüfung. Seine wichtigsten Schriften sind die sogenannten Kings,
der N-King, der Thschnh-King, der Tschi-King, der Li-King und der Tschun-sieu.
Ihr Hauptinhalt bezieht sich auf Lehren der Moral und der bürgerlichen
Pflichten, sowie auf die ältere Geschichte Chinas. Außer diesen giebt es eine
Reihe älterer Werke, welche die kleinen Kings genannt werden, und die soge¬
nannten Neichsannalcn, ein chronologisch fortgeführtes Geschichtsbuch, welches
die Geschichte des Reiches noch von einer vor Christi Geburt liegenden Zeit
bis auf den heutigen Tag umfaßt. In der getreuen Wiedergabe von Abschnitten
und Auszüge" aus allen diesen Werken besteht nun die hauptsächliche bei den
Staatsprüfungen geforderte Leistung.

Zieht man das Maß der von den Examinatoren geleisteten Arbeit in Be¬
tracht, so sind sie unzweifelhaft am meisten zu beklagen, da sie sich durch Berge
confueischcr Weisheit hindurch zu arbeiten haben, denn die Zahl der gelieferten
Arbeiten beläuft sich auf Tausende. Der Umfang der einzelnen Arbeit ist be¬
schränkt; er darf nicht über 720 Schriftzeichen und nicht unter 360 umfassen.
Dennoch soll es nicht selten vorkommen, daß ein Examinand tot in seiner Zelle
gefunden wird.

Für die Stadt Peking ist der Termin dieser Staatsprüfung jedesmal ein
Ereignis, denn die Examinanden werden in der Regel von ihren Eltern, Ver¬
wandten und Freunden begleitet, die alle das Ergebnis der Prüfung abwarten
und die Gelegenheit zu einem Besuch der Hauptstadt benutzen. Eine Blattern¬
epidemie soll zu dieser Zeit in Peking nichts Ungewöhnliches sein, da sich die
Zahl der die Stadt besuchenden Fremden auf nicht weniger als 40 000 beläuft.

Die Anstrengung, der sich die Examinatoren zu unterziehen haben, ist, wie
man sich leicht vorstellen kann, so außerordentlich, daß sie unter der Bürde der
Arbeit nicht selten zusammenbrechen, und daß -- wie der Berichterstatter
Blackwvods erzählt -- Examinatoren vom höchsten Rang, von Schlaganfällen
betroffen, in die nächstliegenden Lazarete geschafft werden müssen. Ähnliche


Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

die je ein Abschnitt der Prüfung in Anspruch nimmt, darf der Examinand seine
Zelle nicht verlassen; Nachtruhe kann er sich nur durch Anlehnen an die Rück¬
wand verschaffen; seine Kost erhalt er dnrch den Aufseher und einige dazu an¬
gestellte Diener; sie besteht aus etwas Fleisch, Brot, Reis und heißem Thee.
Ehe der Examinand in seine Zelle hineingeht, wird er genau von Kopf bis zu
Füßen untersucht, ob er nicht unerlaubte Hilfsmittel bei sich führt. Tinte und
Schreibepinsel darf er sich selbst mitbringen, aber nicht Papier, dieses erhält er,
mit kaiserlichem Stempel versehen, vom Aufseher, muß aber sehr viel dafür be¬
zahlen. Erst nachdem er in der Zelle Platz genommen hat, erhält der Exami¬
nand seine Prüfungsaufgaben, die im wesentlichen darin bestehen, daß er aus
den Klassikern, insbesondre aus dem Confucius, Aufsätze anzufertigen hat.

Die Werke des Confucius und seiner Jünger sind seit undenklicher Zeit
der Hauptgegenstand alles Studiums gewesen und daher auch die Hauptgegen-
stände der Prüfung. Seine wichtigsten Schriften sind die sogenannten Kings,
der N-King, der Thschnh-King, der Tschi-King, der Li-King und der Tschun-sieu.
Ihr Hauptinhalt bezieht sich auf Lehren der Moral und der bürgerlichen
Pflichten, sowie auf die ältere Geschichte Chinas. Außer diesen giebt es eine
Reihe älterer Werke, welche die kleinen Kings genannt werden, und die soge¬
nannten Neichsannalcn, ein chronologisch fortgeführtes Geschichtsbuch, welches
die Geschichte des Reiches noch von einer vor Christi Geburt liegenden Zeit
bis auf den heutigen Tag umfaßt. In der getreuen Wiedergabe von Abschnitten
und Auszüge» aus allen diesen Werken besteht nun die hauptsächliche bei den
Staatsprüfungen geforderte Leistung.

Zieht man das Maß der von den Examinatoren geleisteten Arbeit in Be¬
tracht, so sind sie unzweifelhaft am meisten zu beklagen, da sie sich durch Berge
confueischcr Weisheit hindurch zu arbeiten haben, denn die Zahl der gelieferten
Arbeiten beläuft sich auf Tausende. Der Umfang der einzelnen Arbeit ist be¬
schränkt; er darf nicht über 720 Schriftzeichen und nicht unter 360 umfassen.
Dennoch soll es nicht selten vorkommen, daß ein Examinand tot in seiner Zelle
gefunden wird.

Für die Stadt Peking ist der Termin dieser Staatsprüfung jedesmal ein
Ereignis, denn die Examinanden werden in der Regel von ihren Eltern, Ver¬
wandten und Freunden begleitet, die alle das Ergebnis der Prüfung abwarten
und die Gelegenheit zu einem Besuch der Hauptstadt benutzen. Eine Blattern¬
epidemie soll zu dieser Zeit in Peking nichts Ungewöhnliches sein, da sich die
Zahl der die Stadt besuchenden Fremden auf nicht weniger als 40 000 beläuft.

Die Anstrengung, der sich die Examinatoren zu unterziehen haben, ist, wie
man sich leicht vorstellen kann, so außerordentlich, daß sie unter der Bürde der
Arbeit nicht selten zusammenbrechen, und daß — wie der Berichterstatter
Blackwvods erzählt — Examinatoren vom höchsten Rang, von Schlaganfällen
betroffen, in die nächstliegenden Lazarete geschafft werden müssen. Ähnliche


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201527"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_214" prev="#ID_213"> die je ein Abschnitt der Prüfung in Anspruch nimmt, darf der Examinand seine<lb/>
Zelle nicht verlassen; Nachtruhe kann er sich nur durch Anlehnen an die Rück¬<lb/>
wand verschaffen; seine Kost erhalt er dnrch den Aufseher und einige dazu an¬<lb/>
gestellte Diener; sie besteht aus etwas Fleisch, Brot, Reis und heißem Thee.<lb/>
Ehe der Examinand in seine Zelle hineingeht, wird er genau von Kopf bis zu<lb/>
Füßen untersucht, ob er nicht unerlaubte Hilfsmittel bei sich führt. Tinte und<lb/>
Schreibepinsel darf er sich selbst mitbringen, aber nicht Papier, dieses erhält er,<lb/>
mit kaiserlichem Stempel versehen, vom Aufseher, muß aber sehr viel dafür be¬<lb/>
zahlen. Erst nachdem er in der Zelle Platz genommen hat, erhält der Exami¬<lb/>
nand seine Prüfungsaufgaben, die im wesentlichen darin bestehen, daß er aus<lb/>
den Klassikern, insbesondre aus dem Confucius, Aufsätze anzufertigen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_215"> Die Werke des Confucius und seiner Jünger sind seit undenklicher Zeit<lb/>
der Hauptgegenstand alles Studiums gewesen und daher auch die Hauptgegen-<lb/>
stände der Prüfung. Seine wichtigsten Schriften sind die sogenannten Kings,<lb/>
der N-King, der Thschnh-King, der Tschi-King, der Li-King und der Tschun-sieu.<lb/>
Ihr Hauptinhalt bezieht sich auf Lehren der Moral und der bürgerlichen<lb/>
Pflichten, sowie auf die ältere Geschichte Chinas. Außer diesen giebt es eine<lb/>
Reihe älterer Werke, welche die kleinen Kings genannt werden, und die soge¬<lb/>
nannten Neichsannalcn, ein chronologisch fortgeführtes Geschichtsbuch, welches<lb/>
die Geschichte des Reiches noch von einer vor Christi Geburt liegenden Zeit<lb/>
bis auf den heutigen Tag umfaßt. In der getreuen Wiedergabe von Abschnitten<lb/>
und Auszüge» aus allen diesen Werken besteht nun die hauptsächliche bei den<lb/>
Staatsprüfungen geforderte Leistung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_216"> Zieht man das Maß der von den Examinatoren geleisteten Arbeit in Be¬<lb/>
tracht, so sind sie unzweifelhaft am meisten zu beklagen, da sie sich durch Berge<lb/>
confueischcr Weisheit hindurch zu arbeiten haben, denn die Zahl der gelieferten<lb/>
Arbeiten beläuft sich auf Tausende. Der Umfang der einzelnen Arbeit ist be¬<lb/>
schränkt; er darf nicht über 720 Schriftzeichen und nicht unter 360 umfassen.<lb/>
Dennoch soll es nicht selten vorkommen, daß ein Examinand tot in seiner Zelle<lb/>
gefunden wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_217"> Für die Stadt Peking ist der Termin dieser Staatsprüfung jedesmal ein<lb/>
Ereignis, denn die Examinanden werden in der Regel von ihren Eltern, Ver¬<lb/>
wandten und Freunden begleitet, die alle das Ergebnis der Prüfung abwarten<lb/>
und die Gelegenheit zu einem Besuch der Hauptstadt benutzen. Eine Blattern¬<lb/>
epidemie soll zu dieser Zeit in Peking nichts Ungewöhnliches sein, da sich die<lb/>
Zahl der die Stadt besuchenden Fremden auf nicht weniger als 40 000 beläuft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_218" next="#ID_219"> Die Anstrengung, der sich die Examinatoren zu unterziehen haben, ist, wie<lb/>
man sich leicht vorstellen kann, so außerordentlich, daß sie unter der Bürde der<lb/>
Arbeit nicht selten zusammenbrechen, und daß &#x2014; wie der Berichterstatter<lb/>
Blackwvods erzählt &#x2014; Examinatoren vom höchsten Rang, von Schlaganfällen<lb/>
betroffen, in die nächstliegenden Lazarete geschafft werden müssen. Ähnliche</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0098] Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte. die je ein Abschnitt der Prüfung in Anspruch nimmt, darf der Examinand seine Zelle nicht verlassen; Nachtruhe kann er sich nur durch Anlehnen an die Rück¬ wand verschaffen; seine Kost erhalt er dnrch den Aufseher und einige dazu an¬ gestellte Diener; sie besteht aus etwas Fleisch, Brot, Reis und heißem Thee. Ehe der Examinand in seine Zelle hineingeht, wird er genau von Kopf bis zu Füßen untersucht, ob er nicht unerlaubte Hilfsmittel bei sich führt. Tinte und Schreibepinsel darf er sich selbst mitbringen, aber nicht Papier, dieses erhält er, mit kaiserlichem Stempel versehen, vom Aufseher, muß aber sehr viel dafür be¬ zahlen. Erst nachdem er in der Zelle Platz genommen hat, erhält der Exami¬ nand seine Prüfungsaufgaben, die im wesentlichen darin bestehen, daß er aus den Klassikern, insbesondre aus dem Confucius, Aufsätze anzufertigen hat. Die Werke des Confucius und seiner Jünger sind seit undenklicher Zeit der Hauptgegenstand alles Studiums gewesen und daher auch die Hauptgegen- stände der Prüfung. Seine wichtigsten Schriften sind die sogenannten Kings, der N-King, der Thschnh-King, der Tschi-King, der Li-King und der Tschun-sieu. Ihr Hauptinhalt bezieht sich auf Lehren der Moral und der bürgerlichen Pflichten, sowie auf die ältere Geschichte Chinas. Außer diesen giebt es eine Reihe älterer Werke, welche die kleinen Kings genannt werden, und die soge¬ nannten Neichsannalcn, ein chronologisch fortgeführtes Geschichtsbuch, welches die Geschichte des Reiches noch von einer vor Christi Geburt liegenden Zeit bis auf den heutigen Tag umfaßt. In der getreuen Wiedergabe von Abschnitten und Auszüge» aus allen diesen Werken besteht nun die hauptsächliche bei den Staatsprüfungen geforderte Leistung. Zieht man das Maß der von den Examinatoren geleisteten Arbeit in Be¬ tracht, so sind sie unzweifelhaft am meisten zu beklagen, da sie sich durch Berge confueischcr Weisheit hindurch zu arbeiten haben, denn die Zahl der gelieferten Arbeiten beläuft sich auf Tausende. Der Umfang der einzelnen Arbeit ist be¬ schränkt; er darf nicht über 720 Schriftzeichen und nicht unter 360 umfassen. Dennoch soll es nicht selten vorkommen, daß ein Examinand tot in seiner Zelle gefunden wird. Für die Stadt Peking ist der Termin dieser Staatsprüfung jedesmal ein Ereignis, denn die Examinanden werden in der Regel von ihren Eltern, Ver¬ wandten und Freunden begleitet, die alle das Ergebnis der Prüfung abwarten und die Gelegenheit zu einem Besuch der Hauptstadt benutzen. Eine Blattern¬ epidemie soll zu dieser Zeit in Peking nichts Ungewöhnliches sein, da sich die Zahl der die Stadt besuchenden Fremden auf nicht weniger als 40 000 beläuft. Die Anstrengung, der sich die Examinatoren zu unterziehen haben, ist, wie man sich leicht vorstellen kann, so außerordentlich, daß sie unter der Bürde der Arbeit nicht selten zusammenbrechen, und daß — wie der Berichterstatter Blackwvods erzählt — Examinatoren vom höchsten Rang, von Schlaganfällen betroffen, in die nächstliegenden Lazarete geschafft werden müssen. Ähnliche

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/98
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/98>, abgerufen am 22.07.2024.