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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

sich viel Raum, der tiefer und tiefer ward, je länger man hineinstarrte, bis es
schließlich schien, als grenze er an die Unendlichkeit. Und es sah aus, als er¬
glänzte aus der tiefsten Tiefe, dort, wohin das Auge nicht mehr reichen konnte,
ein gedämpftes Licht, das wechselnd und geheimnisvoll war wie der Sternen¬
schimmer in der Nacht. Ein Antlitz nach dem andern tauchte in diesem Lichte
auf und verschwand wieder, ohne daß man es Hütte halten können. Dem alten
Jens wollte es scheinen, daß Gesichter, die er einst gekannt und über die er
selber den Grabeshügel gewölbt hatte, vor ihni aufstiegen und ihm zulächelten;
aber ehe er sich noch richtig darauf besinnen konnte, waren sie auch schon wieder
fort. Und als seine Augen auf die bleichen Scharen fielen, die der Gestalt
des Todes folgten, da bildeten sie zwei mächtige, weiße Flügel, die zum Himmel
aufflogen.

Hast du sie gesehen? fragte Tippe eifrig.

Gewiß habe ich sie gesehen! antwortete der alte Jens, aber es klang, als
wären seine Gedanken weit, weit fort. Es war mir, als stünde sie da vor mir,
eben so jung, so sanft und gut, wie ich sie in meiner Jugendzeit gesehen habe,
vor langen, langen Jahren! Ach ja! Nun ist sie tot und hin! Und der alte
Jens trocknete seine Augen, starrte gedankenvoll vor sich hin und fuhr fort:
Es war mir, als winkte sie mir, ihr zu folgen! Nun ja, wer weiß, es mag
wohl auch bald an der Zeit sein, daß der Tod mich haben will!

Tippe hatte dagestanden und ihn verwundert angesehen, denn er hatte ein
Gefühl, als spräche der alte Jens gar nicht mit ihm. Bei den letzten Worten
aber überkam ihn eine unsägliche Angst, die legte sich auf sein Herz, und er
fühlte, daß das Geheimnis jetzt heraus müsse, damit es nicht auch für den alten
Jens zu spät käme. Darum setzte er sich auf seinen Schoß, schmiegte sich fest
an ihn und flüsterte: Halte deine Augen offen, wenn der Tod kommt, dann
hat er keine Macht über dich!

Ja, das war Tippes Geheimnis, das sich endlich Luft machte, und er
hatte guten Grund, daran zu glauben. Hatte es ihn doch festgehalten, als der
Tod schon die Arme nach ihm ausstreckte, an ihm war die Strenge des Todes
gescheitert, es hatte ihn an die Hand genommen und ihn das tiefste Geheimnis
des Todes schauen und erkennen lassen -- er hatte den Schatz gefunden, den
der Gevatter Tod in sich barg!

Aber das alles verstand der alte Jens nicht. Er schüttelte nur seinen
Kopf und dachte, daß es etwas gäbe, was tausendmal härter sei als der Tod,
nämlich den kleinen Knaben hergeben zu müssen, den er in seinen Armen hielt.
Und als Tippe aufschaute, um zu sehen, ob das Geheimnis seine Wirkung aus¬
übe, da sah er, daß der alte Mann ganz bleich geworden war. Ob er träumte,
weil er die begraben sollte, die ihm das Liebste auf Erden geworden war?
Tippe wußte es nicht, aber ein inneres Gefühl trieb ihn, sein Haupt an die
Brust des alten Jens zu legen und ganz still dazusitzen.


Gevatter Tod.

sich viel Raum, der tiefer und tiefer ward, je länger man hineinstarrte, bis es
schließlich schien, als grenze er an die Unendlichkeit. Und es sah aus, als er¬
glänzte aus der tiefsten Tiefe, dort, wohin das Auge nicht mehr reichen konnte,
ein gedämpftes Licht, das wechselnd und geheimnisvoll war wie der Sternen¬
schimmer in der Nacht. Ein Antlitz nach dem andern tauchte in diesem Lichte
auf und verschwand wieder, ohne daß man es Hütte halten können. Dem alten
Jens wollte es scheinen, daß Gesichter, die er einst gekannt und über die er
selber den Grabeshügel gewölbt hatte, vor ihni aufstiegen und ihm zulächelten;
aber ehe er sich noch richtig darauf besinnen konnte, waren sie auch schon wieder
fort. Und als seine Augen auf die bleichen Scharen fielen, die der Gestalt
des Todes folgten, da bildeten sie zwei mächtige, weiße Flügel, die zum Himmel
aufflogen.

Hast du sie gesehen? fragte Tippe eifrig.

Gewiß habe ich sie gesehen! antwortete der alte Jens, aber es klang, als
wären seine Gedanken weit, weit fort. Es war mir, als stünde sie da vor mir,
eben so jung, so sanft und gut, wie ich sie in meiner Jugendzeit gesehen habe,
vor langen, langen Jahren! Ach ja! Nun ist sie tot und hin! Und der alte
Jens trocknete seine Augen, starrte gedankenvoll vor sich hin und fuhr fort:
Es war mir, als winkte sie mir, ihr zu folgen! Nun ja, wer weiß, es mag
wohl auch bald an der Zeit sein, daß der Tod mich haben will!

Tippe hatte dagestanden und ihn verwundert angesehen, denn er hatte ein
Gefühl, als spräche der alte Jens gar nicht mit ihm. Bei den letzten Worten
aber überkam ihn eine unsägliche Angst, die legte sich auf sein Herz, und er
fühlte, daß das Geheimnis jetzt heraus müsse, damit es nicht auch für den alten
Jens zu spät käme. Darum setzte er sich auf seinen Schoß, schmiegte sich fest
an ihn und flüsterte: Halte deine Augen offen, wenn der Tod kommt, dann
hat er keine Macht über dich!

Ja, das war Tippes Geheimnis, das sich endlich Luft machte, und er
hatte guten Grund, daran zu glauben. Hatte es ihn doch festgehalten, als der
Tod schon die Arme nach ihm ausstreckte, an ihm war die Strenge des Todes
gescheitert, es hatte ihn an die Hand genommen und ihn das tiefste Geheimnis
des Todes schauen und erkennen lassen — er hatte den Schatz gefunden, den
der Gevatter Tod in sich barg!

Aber das alles verstand der alte Jens nicht. Er schüttelte nur seinen
Kopf und dachte, daß es etwas gäbe, was tausendmal härter sei als der Tod,
nämlich den kleinen Knaben hergeben zu müssen, den er in seinen Armen hielt.
Und als Tippe aufschaute, um zu sehen, ob das Geheimnis seine Wirkung aus¬
übe, da sah er, daß der alte Mann ganz bleich geworden war. Ob er träumte,
weil er die begraben sollte, die ihm das Liebste auf Erden geworden war?
Tippe wußte es nicht, aber ein inneres Gefühl trieb ihn, sein Haupt an die
Brust des alten Jens zu legen und ganz still dazusitzen.


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[0652] Gevatter Tod. sich viel Raum, der tiefer und tiefer ward, je länger man hineinstarrte, bis es schließlich schien, als grenze er an die Unendlichkeit. Und es sah aus, als er¬ glänzte aus der tiefsten Tiefe, dort, wohin das Auge nicht mehr reichen konnte, ein gedämpftes Licht, das wechselnd und geheimnisvoll war wie der Sternen¬ schimmer in der Nacht. Ein Antlitz nach dem andern tauchte in diesem Lichte auf und verschwand wieder, ohne daß man es Hütte halten können. Dem alten Jens wollte es scheinen, daß Gesichter, die er einst gekannt und über die er selber den Grabeshügel gewölbt hatte, vor ihni aufstiegen und ihm zulächelten; aber ehe er sich noch richtig darauf besinnen konnte, waren sie auch schon wieder fort. Und als seine Augen auf die bleichen Scharen fielen, die der Gestalt des Todes folgten, da bildeten sie zwei mächtige, weiße Flügel, die zum Himmel aufflogen. Hast du sie gesehen? fragte Tippe eifrig. Gewiß habe ich sie gesehen! antwortete der alte Jens, aber es klang, als wären seine Gedanken weit, weit fort. Es war mir, als stünde sie da vor mir, eben so jung, so sanft und gut, wie ich sie in meiner Jugendzeit gesehen habe, vor langen, langen Jahren! Ach ja! Nun ist sie tot und hin! Und der alte Jens trocknete seine Augen, starrte gedankenvoll vor sich hin und fuhr fort: Es war mir, als winkte sie mir, ihr zu folgen! Nun ja, wer weiß, es mag wohl auch bald an der Zeit sein, daß der Tod mich haben will! Tippe hatte dagestanden und ihn verwundert angesehen, denn er hatte ein Gefühl, als spräche der alte Jens gar nicht mit ihm. Bei den letzten Worten aber überkam ihn eine unsägliche Angst, die legte sich auf sein Herz, und er fühlte, daß das Geheimnis jetzt heraus müsse, damit es nicht auch für den alten Jens zu spät käme. Darum setzte er sich auf seinen Schoß, schmiegte sich fest an ihn und flüsterte: Halte deine Augen offen, wenn der Tod kommt, dann hat er keine Macht über dich! Ja, das war Tippes Geheimnis, das sich endlich Luft machte, und er hatte guten Grund, daran zu glauben. Hatte es ihn doch festgehalten, als der Tod schon die Arme nach ihm ausstreckte, an ihm war die Strenge des Todes gescheitert, es hatte ihn an die Hand genommen und ihn das tiefste Geheimnis des Todes schauen und erkennen lassen — er hatte den Schatz gefunden, den der Gevatter Tod in sich barg! Aber das alles verstand der alte Jens nicht. Er schüttelte nur seinen Kopf und dachte, daß es etwas gäbe, was tausendmal härter sei als der Tod, nämlich den kleinen Knaben hergeben zu müssen, den er in seinen Armen hielt. Und als Tippe aufschaute, um zu sehen, ob das Geheimnis seine Wirkung aus¬ übe, da sah er, daß der alte Mann ganz bleich geworden war. Ob er träumte, weil er die begraben sollte, die ihm das Liebste auf Erden geworden war? Tippe wußte es nicht, aber ein inneres Gefühl trieb ihn, sein Haupt an die Brust des alten Jens zu legen und ganz still dazusitzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/652>, abgerufen am 22.07.2024.