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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Brust, und eine unbezwingliche Lust überkam ihn, dem Tode wie sich selber zu
zeigen, daß er sich nicht fürchtete.

Ich kann dir gerade in deine großen Augen sehen! sagte er, stand auf
und ging auf ihn zu.

Und die großen Augen starrten Tippe an, und Tippe starrte die großen
Augen an und näherte sich ihnen mehr und mehr, und keiner von beiden wollte
nachgeben. Mitten unter dem alten Bilde stand ein Tisch, und schon stand
Tippe auf dem Tische, und der Gevatter Tod und er sahen einander zum
erstenmale tief in die Augen. Jetzt war die Zeit gekommen, daß sie einander
kennen lernen sollten.

Aber wunderbar! Als sie erst einmal angefangen hatten, konnten sie nicht
wieder aufhören. Tippe blieb stehen und schaute und schaute, und seine Augen
wurden immer Heller und klarer dabei. Hinter ihm ward die Thür geöffnet,
aber er merkte es nicht.

Was machst du denn da, Tippe? fragte die Stimme des alten Jens.

Alter Jens! rief er, ohne sich jedoch stören zu lassen. Dort sitzen zwei
Engel in den Augen des Todes, die sehen mich so freundlich an!

Was redest du da, kleiner Tippe? fragte der alte Jens und trat näher.

Die haben die Vorhänge weggezogen und nun kann ich weit hinein sehen --
o so weit! Und da kommen und gehen so viele Gesichter! Und alle Menschen,
die ihre Augen zugemacht haben, bilden nun zwei große Flügel, die hoch hinaus¬
fliegen in die Luft!

Einen Augenblick blieb er regungslos stehen und schaute und schaute.

Mutter! Mutter! rief er dann plötzlich. Bist du da? Mutter, sieh mich
doch noch einmal an, geh nicht fort, ach bitte, geh nicht fort!

Das klang so flehend, und ein so rührender Kummer lag in Tippes kleinem
Gesicht, und die Thränen liefen über seine Wangen, sodaß dem alten Jens ganz
eigen dabei zu Mute ward.

Sie war da, alter Jens! Aber warum wollte sie nicht bleiben? fragte
Tippe mit seiner klagenden Stimme. Versuche du es doch einmal, vielleicht
kannst du sie wiederfinden!

Und leise stieg er herab, und dann blickte der alte Jens voll stummer
Verwunderung in die Augen des Todes. Und der Tod macht keinen Unter¬
schied, er entschleierte dem matten Blicke des alten Jens dieselben Wunder, die
n vorher Tippes klaren Kinderaugen entfaltet hatte.

Aus den Augen des Todes sahen zwei lächelnde Engelsköpfe hervor, und
^ schauten ihn so mild und freundlich an, als wollten sie eine Freudenbotschaft
Urkunden und als sehnten sie sich darnach, sie ihm zu überbringen. Je länger
er dortstand, desto freundlicher blickten sie ihn an, und am Ende verstand er
M Lächeln. Sie hatten die großen, dunkeln Vorhänge weggezogen, die bis
ahn die Augen des Todes verhüllt hatten, und hinter den Augenhöhlen wölbte


Gevatter Tod.

Brust, und eine unbezwingliche Lust überkam ihn, dem Tode wie sich selber zu
zeigen, daß er sich nicht fürchtete.

Ich kann dir gerade in deine großen Augen sehen! sagte er, stand auf
und ging auf ihn zu.

Und die großen Augen starrten Tippe an, und Tippe starrte die großen
Augen an und näherte sich ihnen mehr und mehr, und keiner von beiden wollte
nachgeben. Mitten unter dem alten Bilde stand ein Tisch, und schon stand
Tippe auf dem Tische, und der Gevatter Tod und er sahen einander zum
erstenmale tief in die Augen. Jetzt war die Zeit gekommen, daß sie einander
kennen lernen sollten.

Aber wunderbar! Als sie erst einmal angefangen hatten, konnten sie nicht
wieder aufhören. Tippe blieb stehen und schaute und schaute, und seine Augen
wurden immer Heller und klarer dabei. Hinter ihm ward die Thür geöffnet,
aber er merkte es nicht.

Was machst du denn da, Tippe? fragte die Stimme des alten Jens.

Alter Jens! rief er, ohne sich jedoch stören zu lassen. Dort sitzen zwei
Engel in den Augen des Todes, die sehen mich so freundlich an!

Was redest du da, kleiner Tippe? fragte der alte Jens und trat näher.

Die haben die Vorhänge weggezogen und nun kann ich weit hinein sehen —
o so weit! Und da kommen und gehen so viele Gesichter! Und alle Menschen,
die ihre Augen zugemacht haben, bilden nun zwei große Flügel, die hoch hinaus¬
fliegen in die Luft!

Einen Augenblick blieb er regungslos stehen und schaute und schaute.

Mutter! Mutter! rief er dann plötzlich. Bist du da? Mutter, sieh mich
doch noch einmal an, geh nicht fort, ach bitte, geh nicht fort!

Das klang so flehend, und ein so rührender Kummer lag in Tippes kleinem
Gesicht, und die Thränen liefen über seine Wangen, sodaß dem alten Jens ganz
eigen dabei zu Mute ward.

Sie war da, alter Jens! Aber warum wollte sie nicht bleiben? fragte
Tippe mit seiner klagenden Stimme. Versuche du es doch einmal, vielleicht
kannst du sie wiederfinden!

Und leise stieg er herab, und dann blickte der alte Jens voll stummer
Verwunderung in die Augen des Todes. Und der Tod macht keinen Unter¬
schied, er entschleierte dem matten Blicke des alten Jens dieselben Wunder, die
n vorher Tippes klaren Kinderaugen entfaltet hatte.

Aus den Augen des Todes sahen zwei lächelnde Engelsköpfe hervor, und
^ schauten ihn so mild und freundlich an, als wollten sie eine Freudenbotschaft
Urkunden und als sehnten sie sich darnach, sie ihm zu überbringen. Je länger
er dortstand, desto freundlicher blickten sie ihn an, und am Ende verstand er
M Lächeln. Sie hatten die großen, dunkeln Vorhänge weggezogen, die bis
ahn die Augen des Todes verhüllt hatten, und hinter den Augenhöhlen wölbte


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[0651] Gevatter Tod. Brust, und eine unbezwingliche Lust überkam ihn, dem Tode wie sich selber zu zeigen, daß er sich nicht fürchtete. Ich kann dir gerade in deine großen Augen sehen! sagte er, stand auf und ging auf ihn zu. Und die großen Augen starrten Tippe an, und Tippe starrte die großen Augen an und näherte sich ihnen mehr und mehr, und keiner von beiden wollte nachgeben. Mitten unter dem alten Bilde stand ein Tisch, und schon stand Tippe auf dem Tische, und der Gevatter Tod und er sahen einander zum erstenmale tief in die Augen. Jetzt war die Zeit gekommen, daß sie einander kennen lernen sollten. Aber wunderbar! Als sie erst einmal angefangen hatten, konnten sie nicht wieder aufhören. Tippe blieb stehen und schaute und schaute, und seine Augen wurden immer Heller und klarer dabei. Hinter ihm ward die Thür geöffnet, aber er merkte es nicht. Was machst du denn da, Tippe? fragte die Stimme des alten Jens. Alter Jens! rief er, ohne sich jedoch stören zu lassen. Dort sitzen zwei Engel in den Augen des Todes, die sehen mich so freundlich an! Was redest du da, kleiner Tippe? fragte der alte Jens und trat näher. Die haben die Vorhänge weggezogen und nun kann ich weit hinein sehen — o so weit! Und da kommen und gehen so viele Gesichter! Und alle Menschen, die ihre Augen zugemacht haben, bilden nun zwei große Flügel, die hoch hinaus¬ fliegen in die Luft! Einen Augenblick blieb er regungslos stehen und schaute und schaute. Mutter! Mutter! rief er dann plötzlich. Bist du da? Mutter, sieh mich doch noch einmal an, geh nicht fort, ach bitte, geh nicht fort! Das klang so flehend, und ein so rührender Kummer lag in Tippes kleinem Gesicht, und die Thränen liefen über seine Wangen, sodaß dem alten Jens ganz eigen dabei zu Mute ward. Sie war da, alter Jens! Aber warum wollte sie nicht bleiben? fragte Tippe mit seiner klagenden Stimme. Versuche du es doch einmal, vielleicht kannst du sie wiederfinden! Und leise stieg er herab, und dann blickte der alte Jens voll stummer Verwunderung in die Augen des Todes. Und der Tod macht keinen Unter¬ schied, er entschleierte dem matten Blicke des alten Jens dieselben Wunder, die n vorher Tippes klaren Kinderaugen entfaltet hatte. Aus den Augen des Todes sahen zwei lächelnde Engelsköpfe hervor, und ^ schauten ihn so mild und freundlich an, als wollten sie eine Freudenbotschaft Urkunden und als sehnten sie sich darnach, sie ihm zu überbringen. Je länger er dortstand, desto freundlicher blickten sie ihn an, und am Ende verstand er M Lächeln. Sie hatten die großen, dunkeln Vorhänge weggezogen, die bis ahn die Augen des Todes verhüllt hatten, und hinter den Augenhöhlen wölbte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/651>, abgerufen am 22.07.2024.