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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Es wurde Abend. Die Dämmerung senkte sich allmählich herab, und noch
immer saß der alte Jens still und unbeweglich da. In seiner Seele kämpfte
er einen Kampf mit der letzten Lektion, die er lernen sollte, die war so schwer,
daß er fast darüber verzweifelte. Aber Tippe war ja noch bei ihm und half
ihm, wie er zu thun pflegte. Er saß auf seinem Knie, sein Haupt ruhte an
seiner Brust, dort träumte er seine eignen kindlichen Träume und lehrte ihn
dabei Stück für Stück die schwere Lektion. Und dies geschah nicht minder ein¬
dringlich und wohlredend, weil Tippe selber nichts davon ahnte. Es kam
kein Wort über seine Lippen, und doch war es dem alten Jens, als redete
die kleine schweigsame Gestalt mit ihm und sagte: Es ist ein hochheiliger
Abend, und ich sitze hier und lausche. Aber wo ist jemand, der mir erzählen
konnte, was man an einem solchen Abend einem so kleinem Kinde wie mir er¬
zählen muß?

Nein, hier ist niemand, der dir das erzählen könnte, kleiner Tippe, antwortete
es im Herzen des alten Jens. Wie könnte das auch so ein armer, alter Kerl
wie ich! Ich muß ja selber noch so vieles lernen!

Hier sitze ich Abend für Abend und träume, und da ist so mancherlei, was
ich gern wissen möchte, fuhr die kleine Gestalt fort. Aber wie soll ich das nur
erfahren?

Du armes Kind! lautete die Antwort im Herzen des alten Jens. Ich
verstehe es auch nicht besser als du; ich habe es auch bis jetzt selber nicht ge¬
wußt, wie armselig es mit mir bestellt ist.

Und es war ihm, als erwiederte der Kleine: Es ist heiliger Abend! Da
freut sich Groß und Klein! Selbst das ärmste Kind hat jemand, der ihm heute
eine Freude bereitet. Wer aber denkt daran, nur eine Freude zu machen? Und
wer soll mich hegen und pflegen, und wer soll alles das für mich thun, dessen
ein so kleines Kind bedarf, denn ich bin ja doch nur ein kleines Kind!

Ach du lieber Gott, vergieb mir meine Schuld! flehte es in dem Herzen
des alten Jens. Es war eine Sünde, daß ich den kleinen Tippe bei mir be¬
halten wollte, ich bin ja ein armer, hilfloser Mann! Aber ich meinte es ja
nicht böse, und ich will ja auch alles wieder gut machen, soweit es in meinen
Kräften steht!

Der alte Jens richtete plötzlich, seine zusanunengesuukeue Gestalt auf, schlang
seine beiden Arme um den kleinen Burschen, der auf seineu Knieen saß, und
sagte mit lauter, sicherer Stimme: Der liebe Gott beschütze dich, Tippe! Er
segne dich für alle die Freude, die du einem armen, alten Manne bereitet hast,
aber jetzt muß es vorbei sein damit!

Und damit war es vorbei. Die Schule war aus, der alte Jens hatte
den letzten, schwersten Kampf gekämpft, er hatte seine Lektion begriffen. Tippe
hatte ihn die schwerste Kunst gelehrt, die Kunst, das, was man lieb hat, mehr
zu lieben als sich selbst. Und nun war die Zeit der Erholung und des Ge-


Gevatter Tod.

Es wurde Abend. Die Dämmerung senkte sich allmählich herab, und noch
immer saß der alte Jens still und unbeweglich da. In seiner Seele kämpfte
er einen Kampf mit der letzten Lektion, die er lernen sollte, die war so schwer,
daß er fast darüber verzweifelte. Aber Tippe war ja noch bei ihm und half
ihm, wie er zu thun pflegte. Er saß auf seinem Knie, sein Haupt ruhte an
seiner Brust, dort träumte er seine eignen kindlichen Träume und lehrte ihn
dabei Stück für Stück die schwere Lektion. Und dies geschah nicht minder ein¬
dringlich und wohlredend, weil Tippe selber nichts davon ahnte. Es kam
kein Wort über seine Lippen, und doch war es dem alten Jens, als redete
die kleine schweigsame Gestalt mit ihm und sagte: Es ist ein hochheiliger
Abend, und ich sitze hier und lausche. Aber wo ist jemand, der mir erzählen
konnte, was man an einem solchen Abend einem so kleinem Kinde wie mir er¬
zählen muß?

Nein, hier ist niemand, der dir das erzählen könnte, kleiner Tippe, antwortete
es im Herzen des alten Jens. Wie könnte das auch so ein armer, alter Kerl
wie ich! Ich muß ja selber noch so vieles lernen!

Hier sitze ich Abend für Abend und träume, und da ist so mancherlei, was
ich gern wissen möchte, fuhr die kleine Gestalt fort. Aber wie soll ich das nur
erfahren?

Du armes Kind! lautete die Antwort im Herzen des alten Jens. Ich
verstehe es auch nicht besser als du; ich habe es auch bis jetzt selber nicht ge¬
wußt, wie armselig es mit mir bestellt ist.

Und es war ihm, als erwiederte der Kleine: Es ist heiliger Abend! Da
freut sich Groß und Klein! Selbst das ärmste Kind hat jemand, der ihm heute
eine Freude bereitet. Wer aber denkt daran, nur eine Freude zu machen? Und
wer soll mich hegen und pflegen, und wer soll alles das für mich thun, dessen
ein so kleines Kind bedarf, denn ich bin ja doch nur ein kleines Kind!

Ach du lieber Gott, vergieb mir meine Schuld! flehte es in dem Herzen
des alten Jens. Es war eine Sünde, daß ich den kleinen Tippe bei mir be¬
halten wollte, ich bin ja ein armer, hilfloser Mann! Aber ich meinte es ja
nicht böse, und ich will ja auch alles wieder gut machen, soweit es in meinen
Kräften steht!

Der alte Jens richtete plötzlich, seine zusanunengesuukeue Gestalt auf, schlang
seine beiden Arme um den kleinen Burschen, der auf seineu Knieen saß, und
sagte mit lauter, sicherer Stimme: Der liebe Gott beschütze dich, Tippe! Er
segne dich für alle die Freude, die du einem armen, alten Manne bereitet hast,
aber jetzt muß es vorbei sein damit!

Und damit war es vorbei. Die Schule war aus, der alte Jens hatte
den letzten, schwersten Kampf gekämpft, er hatte seine Lektion begriffen. Tippe
hatte ihn die schwerste Kunst gelehrt, die Kunst, das, was man lieb hat, mehr
zu lieben als sich selbst. Und nun war die Zeit der Erholung und des Ge-


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[0653] Gevatter Tod. Es wurde Abend. Die Dämmerung senkte sich allmählich herab, und noch immer saß der alte Jens still und unbeweglich da. In seiner Seele kämpfte er einen Kampf mit der letzten Lektion, die er lernen sollte, die war so schwer, daß er fast darüber verzweifelte. Aber Tippe war ja noch bei ihm und half ihm, wie er zu thun pflegte. Er saß auf seinem Knie, sein Haupt ruhte an seiner Brust, dort träumte er seine eignen kindlichen Träume und lehrte ihn dabei Stück für Stück die schwere Lektion. Und dies geschah nicht minder ein¬ dringlich und wohlredend, weil Tippe selber nichts davon ahnte. Es kam kein Wort über seine Lippen, und doch war es dem alten Jens, als redete die kleine schweigsame Gestalt mit ihm und sagte: Es ist ein hochheiliger Abend, und ich sitze hier und lausche. Aber wo ist jemand, der mir erzählen konnte, was man an einem solchen Abend einem so kleinem Kinde wie mir er¬ zählen muß? Nein, hier ist niemand, der dir das erzählen könnte, kleiner Tippe, antwortete es im Herzen des alten Jens. Wie könnte das auch so ein armer, alter Kerl wie ich! Ich muß ja selber noch so vieles lernen! Hier sitze ich Abend für Abend und träume, und da ist so mancherlei, was ich gern wissen möchte, fuhr die kleine Gestalt fort. Aber wie soll ich das nur erfahren? Du armes Kind! lautete die Antwort im Herzen des alten Jens. Ich verstehe es auch nicht besser als du; ich habe es auch bis jetzt selber nicht ge¬ wußt, wie armselig es mit mir bestellt ist. Und es war ihm, als erwiederte der Kleine: Es ist heiliger Abend! Da freut sich Groß und Klein! Selbst das ärmste Kind hat jemand, der ihm heute eine Freude bereitet. Wer aber denkt daran, nur eine Freude zu machen? Und wer soll mich hegen und pflegen, und wer soll alles das für mich thun, dessen ein so kleines Kind bedarf, denn ich bin ja doch nur ein kleines Kind! Ach du lieber Gott, vergieb mir meine Schuld! flehte es in dem Herzen des alten Jens. Es war eine Sünde, daß ich den kleinen Tippe bei mir be¬ halten wollte, ich bin ja ein armer, hilfloser Mann! Aber ich meinte es ja nicht böse, und ich will ja auch alles wieder gut machen, soweit es in meinen Kräften steht! Der alte Jens richtete plötzlich, seine zusanunengesuukeue Gestalt auf, schlang seine beiden Arme um den kleinen Burschen, der auf seineu Knieen saß, und sagte mit lauter, sicherer Stimme: Der liebe Gott beschütze dich, Tippe! Er segne dich für alle die Freude, die du einem armen, alten Manne bereitet hast, aber jetzt muß es vorbei sein damit! Und damit war es vorbei. Die Schule war aus, der alte Jens hatte den letzten, schwersten Kampf gekämpft, er hatte seine Lektion begriffen. Tippe hatte ihn die schwerste Kunst gelehrt, die Kunst, das, was man lieb hat, mehr zu lieben als sich selbst. Und nun war die Zeit der Erholung und des Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/653>, abgerufen am 22.07.2024.