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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

man aber vorsichtig zu Werke gehen müsse. Tippe könne am Ende noch den
wunderlichen alten Mann beerben, jedenfalls müsse man ihm diese Aussicht nicht
verderben, und deswegen solle man sich nicht übereilen, sondern erst einmal dem
Alten auf den Zahn fühlen.

Das war nun ein guter und vernünftiger Rat. Als sie aber dem alten Jens
ans den Zahn fühlen wollten, merkten sie bald, daß es noch lange nicht so weit
sei mit ihm, wie sie geglaubt hatten, und die, welche dies heikle Amt über¬
nommen hatten, zogen schnell ihre Fühlhörner wieder ein. So weit war man also
gekommen, und dabei blieb es auch. Man tröstete sich damit, daß das Weihnachts¬
fest vor der Thür stehe, und da es so lange gegangen sei, würde die Sache
wohl auch bis uach dem Feste Zeit haben.

Noch einmal hatte sich der alte Jens aufgerafft in seiner alten Kraft und
ihnen gezeigt, daß er noch nicht verlernt hatte, um sich zu beißen, wenn es
nötig war. Aber er sah gar nicht glücklich und stolz dabei aus. Jedesmal, wenn
ihm Tippe jetzt seine klaren, spähenden Augen und den kindlich fragenden Mund
zuwandte, flüsterte eine innere Stimme dem alten Jens zu, daß die Leute im
Dorfe doch wohl Recht hatten. Da drinnen sproßte und keimte etwas, das
der Luft und des Lichtes bedürfte, und davon war bei dem armen alten Jens
nicht viel zu suchen, hatte er doch seine Thür so viele, viele Jahre sorgfältig
davor verschlossen. Sollte er Tippe fortan entbehren? Sollte Tippe nicht
mehr jubelnd an seiner Seite einherspringen, nicht mehr bei ihm spielen, sein
altes Ohr nicht mehr durch den frischen, fröhlichen Klang seiner Sinne er¬
freuen? Der alte Jens sollte abermals in die Schule gehen, aber noch nichts
war ihm so schwer geworden. Er wand sich wie ein Wurm, um diesem Schreck¬
lichen zu entgehen, aber es half ihm alles nichts.

Da kam eine Unruhe über ihn. Es war, als wolle er dem ganzen Dorfe
und sich selber obendrein einreden, daß er im Grunde noch ein rühriger, alter
Kerl sei, wenn er nur wolle! Aber so recht wollte es ihm uicht gelingen. Er
mochte noch so viel aus- und einfahren, ohne Rast und Ruh, die kurzen, trip¬
pelnden Schritte wurden doch mit jedem Tage kürzer und langsamer. Er mochte
die zitternden Hände noch so eifrig rühren, bald hier, bald dort, sie zitterten
doch immer mehr und mehr, als müßten sie allen Ernstes daran denken, das Ganze
aufzugeben und auszuruhen von ihrer Arbeit. Sein Gesicht schrumpfte immer
mehr zusammen, als bereitete es sich allmählich darauf vor, ganz zu verschwinden,
und seine Augen wurden immer kleiner und bekamen immer rötere Ränder, als
sehnten sie sich darnach, sich zu schließen vor dem grellen Tageslicht. Ein kümmer¬
licher alter Mann war er geworden, das konnte er sich selber nicht mehr verbergen,
das flüsterte ihm eine leise Stimme heimlich ins Ohr, und je unbekümmerter
Tippe um ihn herumsprang, desto unbarmherziger redete die Stimme ihm zu.

Aber der Tod sah auf dies alles mit seinem wunderbaren Lächeln herab,
von dem man nicht recht wußte, ob es spöttisch oder traurig war.


Gevatter Tod.

man aber vorsichtig zu Werke gehen müsse. Tippe könne am Ende noch den
wunderlichen alten Mann beerben, jedenfalls müsse man ihm diese Aussicht nicht
verderben, und deswegen solle man sich nicht übereilen, sondern erst einmal dem
Alten auf den Zahn fühlen.

Das war nun ein guter und vernünftiger Rat. Als sie aber dem alten Jens
ans den Zahn fühlen wollten, merkten sie bald, daß es noch lange nicht so weit
sei mit ihm, wie sie geglaubt hatten, und die, welche dies heikle Amt über¬
nommen hatten, zogen schnell ihre Fühlhörner wieder ein. So weit war man also
gekommen, und dabei blieb es auch. Man tröstete sich damit, daß das Weihnachts¬
fest vor der Thür stehe, und da es so lange gegangen sei, würde die Sache
wohl auch bis uach dem Feste Zeit haben.

Noch einmal hatte sich der alte Jens aufgerafft in seiner alten Kraft und
ihnen gezeigt, daß er noch nicht verlernt hatte, um sich zu beißen, wenn es
nötig war. Aber er sah gar nicht glücklich und stolz dabei aus. Jedesmal, wenn
ihm Tippe jetzt seine klaren, spähenden Augen und den kindlich fragenden Mund
zuwandte, flüsterte eine innere Stimme dem alten Jens zu, daß die Leute im
Dorfe doch wohl Recht hatten. Da drinnen sproßte und keimte etwas, das
der Luft und des Lichtes bedürfte, und davon war bei dem armen alten Jens
nicht viel zu suchen, hatte er doch seine Thür so viele, viele Jahre sorgfältig
davor verschlossen. Sollte er Tippe fortan entbehren? Sollte Tippe nicht
mehr jubelnd an seiner Seite einherspringen, nicht mehr bei ihm spielen, sein
altes Ohr nicht mehr durch den frischen, fröhlichen Klang seiner Sinne er¬
freuen? Der alte Jens sollte abermals in die Schule gehen, aber noch nichts
war ihm so schwer geworden. Er wand sich wie ein Wurm, um diesem Schreck¬
lichen zu entgehen, aber es half ihm alles nichts.

Da kam eine Unruhe über ihn. Es war, als wolle er dem ganzen Dorfe
und sich selber obendrein einreden, daß er im Grunde noch ein rühriger, alter
Kerl sei, wenn er nur wolle! Aber so recht wollte es ihm uicht gelingen. Er
mochte noch so viel aus- und einfahren, ohne Rast und Ruh, die kurzen, trip¬
pelnden Schritte wurden doch mit jedem Tage kürzer und langsamer. Er mochte
die zitternden Hände noch so eifrig rühren, bald hier, bald dort, sie zitterten
doch immer mehr und mehr, als müßten sie allen Ernstes daran denken, das Ganze
aufzugeben und auszuruhen von ihrer Arbeit. Sein Gesicht schrumpfte immer
mehr zusammen, als bereitete es sich allmählich darauf vor, ganz zu verschwinden,
und seine Augen wurden immer kleiner und bekamen immer rötere Ränder, als
sehnten sie sich darnach, sich zu schließen vor dem grellen Tageslicht. Ein kümmer¬
licher alter Mann war er geworden, das konnte er sich selber nicht mehr verbergen,
das flüsterte ihm eine leise Stimme heimlich ins Ohr, und je unbekümmerter
Tippe um ihn herumsprang, desto unbarmherziger redete die Stimme ihm zu.

Aber der Tod sah auf dies alles mit seinem wunderbaren Lächeln herab,
von dem man nicht recht wußte, ob es spöttisch oder traurig war.


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[0603] Gevatter Tod. man aber vorsichtig zu Werke gehen müsse. Tippe könne am Ende noch den wunderlichen alten Mann beerben, jedenfalls müsse man ihm diese Aussicht nicht verderben, und deswegen solle man sich nicht übereilen, sondern erst einmal dem Alten auf den Zahn fühlen. Das war nun ein guter und vernünftiger Rat. Als sie aber dem alten Jens ans den Zahn fühlen wollten, merkten sie bald, daß es noch lange nicht so weit sei mit ihm, wie sie geglaubt hatten, und die, welche dies heikle Amt über¬ nommen hatten, zogen schnell ihre Fühlhörner wieder ein. So weit war man also gekommen, und dabei blieb es auch. Man tröstete sich damit, daß das Weihnachts¬ fest vor der Thür stehe, und da es so lange gegangen sei, würde die Sache wohl auch bis uach dem Feste Zeit haben. Noch einmal hatte sich der alte Jens aufgerafft in seiner alten Kraft und ihnen gezeigt, daß er noch nicht verlernt hatte, um sich zu beißen, wenn es nötig war. Aber er sah gar nicht glücklich und stolz dabei aus. Jedesmal, wenn ihm Tippe jetzt seine klaren, spähenden Augen und den kindlich fragenden Mund zuwandte, flüsterte eine innere Stimme dem alten Jens zu, daß die Leute im Dorfe doch wohl Recht hatten. Da drinnen sproßte und keimte etwas, das der Luft und des Lichtes bedürfte, und davon war bei dem armen alten Jens nicht viel zu suchen, hatte er doch seine Thür so viele, viele Jahre sorgfältig davor verschlossen. Sollte er Tippe fortan entbehren? Sollte Tippe nicht mehr jubelnd an seiner Seite einherspringen, nicht mehr bei ihm spielen, sein altes Ohr nicht mehr durch den frischen, fröhlichen Klang seiner Sinne er¬ freuen? Der alte Jens sollte abermals in die Schule gehen, aber noch nichts war ihm so schwer geworden. Er wand sich wie ein Wurm, um diesem Schreck¬ lichen zu entgehen, aber es half ihm alles nichts. Da kam eine Unruhe über ihn. Es war, als wolle er dem ganzen Dorfe und sich selber obendrein einreden, daß er im Grunde noch ein rühriger, alter Kerl sei, wenn er nur wolle! Aber so recht wollte es ihm uicht gelingen. Er mochte noch so viel aus- und einfahren, ohne Rast und Ruh, die kurzen, trip¬ pelnden Schritte wurden doch mit jedem Tage kürzer und langsamer. Er mochte die zitternden Hände noch so eifrig rühren, bald hier, bald dort, sie zitterten doch immer mehr und mehr, als müßten sie allen Ernstes daran denken, das Ganze aufzugeben und auszuruhen von ihrer Arbeit. Sein Gesicht schrumpfte immer mehr zusammen, als bereitete es sich allmählich darauf vor, ganz zu verschwinden, und seine Augen wurden immer kleiner und bekamen immer rötere Ränder, als sehnten sie sich darnach, sich zu schließen vor dem grellen Tageslicht. Ein kümmer¬ licher alter Mann war er geworden, das konnte er sich selber nicht mehr verbergen, das flüsterte ihm eine leise Stimme heimlich ins Ohr, und je unbekümmerter Tippe um ihn herumsprang, desto unbarmherziger redete die Stimme ihm zu. Aber der Tod sah auf dies alles mit seinem wunderbaren Lächeln herab, von dem man nicht recht wußte, ob es spöttisch oder traurig war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/603>, abgerufen am 22.07.2024.