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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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ihm sein Totengräberrock um die Schultern hängte und ihn bei der Hand nahm
und im Triumph auf den Friedhof führte. Aber schon am folgenden Tage
mußte der dicke Rock zu Hause bleiben, denn Tippe trat immer darauf, und
es währte nicht lange, so erging es auch der Mütze und dem wollenen Tuch
nicht besser. Und als der Winter kam, konnte Tippe mit dem Wind um die
Wette übers Eis fliegen, auf dem Rücken des alten Jens über Stock und Stein
reiten und Versteck mit ihm zwischen den Gräbern spielen, und das ging ganz
so wie früher, oder doch wenigstens fast so, denn der alte Jens war ein wenig
schwerfälliger geworden, und dann wurde ihm auch oft der Atem kurz. Aber
was schadete das? Wenn nur Tippes Wangen blttthen und sein Lachen wieder
so hell und klar klang wie früher; und das that es, als gäbe es weder Krank¬
heit noch Tod.

Dachte er auch wohl noch hin und wieder einmal, wenn er in seinem Bettchen
lag, an den Tod, so hatte er doch eine geheime Ahnung, daß der Tod lange
nicht so schlimm sei, wie er aussah. Und dann brauchte er sich ja nicht vor
ihm zu fürchten, er kannte ja das Geheimnis, und das konnte ihm den Tod drei
Schritte vom Leibe halten, wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte.

Darum schlief er auch sicher und unbekümmert ein und erwachte stets mit
einem Lächeln. Aber der Kummer war nicht vergessen, er verbarg sich nur ganz
still unter dem frischen Kindersinn, und der war auch die Ursache, daß, als der
alte Tippe mehr und mehr wiederkehrte, sich etwas eigenartig Rührendes über
ihn ausbreitete, sodaß ihm niemand widerstehen konnte.

Das war Wohl auch der Grund, weswegen die Leute im Dorfe, als sie
erst merkten, daß der Tod nicht Ernst gemacht hatte, fühlten, daß sie Tippe
gegenüber eine Art von Verantwortlichkeit hätten und einmal vernünftig liber
sein Wohl und Wehe "achdenken müßten, da man dies von ihm selber ja noch
uicht verlangen konnte. Sie meinten es wirklich gut mit ihm. Beim alten
Jens konnte er nicht bleiben -- das konnten sie doch nicht gut verantworten --,
wohl hatten ihn die Jahre umgänglicher gemacht, aber er war auch schwächer und
hinfälliger geworden, und jedenfalls, meinten sie, könne er die Erziehung des
Knaben nicht übernehmen. Und damit mochten sie wohl Recht haben, denn
der alte Jens hatte ja keine andre Erziehung als die, die ihm Tippe hatte zu
Teil werden lassen, und die war natürlich nicht ausreichend, um nun Tippe seiner¬
seits wieder damit zu versorgen.

So steckten sie denn die Köpfe zusammen und rechneten aus, was die Mutter
dem Knaben hinterlassen haben könne, was er aus der Armenkasse zu bean¬
spruchen habe, und was wohl aus dem Tode herauszuschlagen sei, aus dem
alten Rumpelstück, wenn man das Bild verkaufe, statt es dort zum Spektakel
und Unglück an der Wand hängen zu lassen. So rechneten sie alles zu Tippes
Bestem aus, und als die Rechnung fertig war, wurde sie dem entfernten Ver¬
wandten eingeschickt, und der antwortete, daß die klugen Leute Recht hätten, daß


ihm sein Totengräberrock um die Schultern hängte und ihn bei der Hand nahm
und im Triumph auf den Friedhof führte. Aber schon am folgenden Tage
mußte der dicke Rock zu Hause bleiben, denn Tippe trat immer darauf, und
es währte nicht lange, so erging es auch der Mütze und dem wollenen Tuch
nicht besser. Und als der Winter kam, konnte Tippe mit dem Wind um die
Wette übers Eis fliegen, auf dem Rücken des alten Jens über Stock und Stein
reiten und Versteck mit ihm zwischen den Gräbern spielen, und das ging ganz
so wie früher, oder doch wenigstens fast so, denn der alte Jens war ein wenig
schwerfälliger geworden, und dann wurde ihm auch oft der Atem kurz. Aber
was schadete das? Wenn nur Tippes Wangen blttthen und sein Lachen wieder
so hell und klar klang wie früher; und das that es, als gäbe es weder Krank¬
heit noch Tod.

Dachte er auch wohl noch hin und wieder einmal, wenn er in seinem Bettchen
lag, an den Tod, so hatte er doch eine geheime Ahnung, daß der Tod lange
nicht so schlimm sei, wie er aussah. Und dann brauchte er sich ja nicht vor
ihm zu fürchten, er kannte ja das Geheimnis, und das konnte ihm den Tod drei
Schritte vom Leibe halten, wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte.

Darum schlief er auch sicher und unbekümmert ein und erwachte stets mit
einem Lächeln. Aber der Kummer war nicht vergessen, er verbarg sich nur ganz
still unter dem frischen Kindersinn, und der war auch die Ursache, daß, als der
alte Tippe mehr und mehr wiederkehrte, sich etwas eigenartig Rührendes über
ihn ausbreitete, sodaß ihm niemand widerstehen konnte.

Das war Wohl auch der Grund, weswegen die Leute im Dorfe, als sie
erst merkten, daß der Tod nicht Ernst gemacht hatte, fühlten, daß sie Tippe
gegenüber eine Art von Verantwortlichkeit hätten und einmal vernünftig liber
sein Wohl und Wehe »achdenken müßten, da man dies von ihm selber ja noch
uicht verlangen konnte. Sie meinten es wirklich gut mit ihm. Beim alten
Jens konnte er nicht bleiben — das konnten sie doch nicht gut verantworten —,
wohl hatten ihn die Jahre umgänglicher gemacht, aber er war auch schwächer und
hinfälliger geworden, und jedenfalls, meinten sie, könne er die Erziehung des
Knaben nicht übernehmen. Und damit mochten sie wohl Recht haben, denn
der alte Jens hatte ja keine andre Erziehung als die, die ihm Tippe hatte zu
Teil werden lassen, und die war natürlich nicht ausreichend, um nun Tippe seiner¬
seits wieder damit zu versorgen.

So steckten sie denn die Köpfe zusammen und rechneten aus, was die Mutter
dem Knaben hinterlassen haben könne, was er aus der Armenkasse zu bean¬
spruchen habe, und was wohl aus dem Tode herauszuschlagen sei, aus dem
alten Rumpelstück, wenn man das Bild verkaufe, statt es dort zum Spektakel
und Unglück an der Wand hängen zu lassen. So rechneten sie alles zu Tippes
Bestem aus, und als die Rechnung fertig war, wurde sie dem entfernten Ver¬
wandten eingeschickt, und der antwortete, daß die klugen Leute Recht hätten, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/602>, abgerufen am 22.07.2024.