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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

der in unsrer Zeit so reich entwickelten Naturpoesie der schwäbischen Lyriker.
Hehn läßt sich bei seinen Betrachtungen von dem Gedanken leiten, daß sich in
Goethes Lyrik das Verhältnis zur Natur in gleicher Weise offenbare, wie in
den uns bekannten ältesten Gedichten der Griechen. Durchaus nicht als be¬
wußte Anlehnung an Homer, Hesiod u. a. will Hehn diese Übereinstimmung
ansehen; vielmehr ist sie ihm ein neues Zeugnis für die durch alle geschicht¬
liche Wandlung im Wesen sich gleich bleibende menschliche Natur. (In seiner
"Psychologie der Lyrik" hat Karl du Pret denselben Gedanken verfolgt, nur
in noch umfassenderen Sinne, und schließlich die Formel gewonnen: Die Lyrik
ist eine "paläontologische" Weltanschauung -- eine leicht irreführende Formel,
weil sie das Gegenteil von dem sagt, was aus der Untersuchung hervorging.)

Am 23. August 1787 schrieb Goethe aus Italien die für die Entwicklung
seines Geistes bedeutsamen Worte (die auch Scherer mit Nachdruck zitirt): "Die
Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende
Verhältnisse sind, um so meinem Geiste die Ewigkeit zu schaffen." Damit hatte für
Goethe eine neue künstlerische Periode, die der typischen Kunst, begonnen, welche
in der "Natürlichen Tochter" ihren strengsten Ausdruck gefunden hat. Diese
"bleibenden Verhältnisse," wie sie sich in der Phantasie Goethes gestaltet haben,
aus seinen Dichtungen herauszuheben und den Nachweis zu führen, daß sie
genau mit denjenigen Formen übereinstimmen, welche die empirische Forschung
der Sittengeschichte aufdeckt, diese wahrhaft bedeutende Aufgabe lösen die zwei
Abschnitte "Naturformen des Menschenlebens" und "Stände." "Derselbe
Dichter -- sagt Hehn --, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge den
Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu geben, derselbe
zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende Naturgestalt unsers Geschlechts,
die substantiellen Lebensformen, in deren Schooße das Subjekt noch unerschlossen
ruht. Diese Formen sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst,
weder komisch noch tragisch; sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten
Gegenwart, ja sie sind der höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam"
(S. 186). Der Begriff der naiven Poesie, welcher in der deutschen Ästhetik eine so
wichtige Rolle spielte, nachdem er durch Schiller (der ihn ja seinerseits auch nur
durch die Betrachtung Goethes gewann), eingeführt worden war, erhält durch diese
Abhandlung Hehns eine kaum geahnte Vertiefung und geschichtlich konkrete Be¬
gründung. Auch Goethe hatte seine "sentimentale" Periode; das war die Zeit des
Werther, des Faust, der Lyrik des "Wanderers," welche überall den Gegensatz
von Kultur und Natur und die Sehnsucht nach jenem unwiederbringlichen Zu¬
stande beschränkten Daseins im Schooße der überkommenen Sitte aussprachen.
Allein sein Entwicklungsgang führte ihn über diesen sentimentalen Zwiespalt hinaus,
und er ergab sich sowohl persönlich, wie als Forscher und Künstler ganz dem
Kultus der Natur. "Das Menschenleben als gesetzmäßig und unveränderlich,
als durch natürliche Kräfte bewirkt zu betrachten, mußte dem Dichter nahe


Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

der in unsrer Zeit so reich entwickelten Naturpoesie der schwäbischen Lyriker.
Hehn läßt sich bei seinen Betrachtungen von dem Gedanken leiten, daß sich in
Goethes Lyrik das Verhältnis zur Natur in gleicher Weise offenbare, wie in
den uns bekannten ältesten Gedichten der Griechen. Durchaus nicht als be¬
wußte Anlehnung an Homer, Hesiod u. a. will Hehn diese Übereinstimmung
ansehen; vielmehr ist sie ihm ein neues Zeugnis für die durch alle geschicht¬
liche Wandlung im Wesen sich gleich bleibende menschliche Natur. (In seiner
„Psychologie der Lyrik" hat Karl du Pret denselben Gedanken verfolgt, nur
in noch umfassenderen Sinne, und schließlich die Formel gewonnen: Die Lyrik
ist eine „paläontologische" Weltanschauung — eine leicht irreführende Formel,
weil sie das Gegenteil von dem sagt, was aus der Untersuchung hervorging.)

Am 23. August 1787 schrieb Goethe aus Italien die für die Entwicklung
seines Geistes bedeutsamen Worte (die auch Scherer mit Nachdruck zitirt): „Die
Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende
Verhältnisse sind, um so meinem Geiste die Ewigkeit zu schaffen." Damit hatte für
Goethe eine neue künstlerische Periode, die der typischen Kunst, begonnen, welche
in der „Natürlichen Tochter" ihren strengsten Ausdruck gefunden hat. Diese
„bleibenden Verhältnisse," wie sie sich in der Phantasie Goethes gestaltet haben,
aus seinen Dichtungen herauszuheben und den Nachweis zu führen, daß sie
genau mit denjenigen Formen übereinstimmen, welche die empirische Forschung
der Sittengeschichte aufdeckt, diese wahrhaft bedeutende Aufgabe lösen die zwei
Abschnitte „Naturformen des Menschenlebens" und „Stände." „Derselbe
Dichter — sagt Hehn —, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge den
Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu geben, derselbe
zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende Naturgestalt unsers Geschlechts,
die substantiellen Lebensformen, in deren Schooße das Subjekt noch unerschlossen
ruht. Diese Formen sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst,
weder komisch noch tragisch; sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten
Gegenwart, ja sie sind der höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam"
(S. 186). Der Begriff der naiven Poesie, welcher in der deutschen Ästhetik eine so
wichtige Rolle spielte, nachdem er durch Schiller (der ihn ja seinerseits auch nur
durch die Betrachtung Goethes gewann), eingeführt worden war, erhält durch diese
Abhandlung Hehns eine kaum geahnte Vertiefung und geschichtlich konkrete Be¬
gründung. Auch Goethe hatte seine „sentimentale" Periode; das war die Zeit des
Werther, des Faust, der Lyrik des „Wanderers," welche überall den Gegensatz
von Kultur und Natur und die Sehnsucht nach jenem unwiederbringlichen Zu¬
stande beschränkten Daseins im Schooße der überkommenen Sitte aussprachen.
Allein sein Entwicklungsgang führte ihn über diesen sentimentalen Zwiespalt hinaus,
und er ergab sich sowohl persönlich, wie als Forscher und Künstler ganz dem
Kultus der Natur. „Das Menschenleben als gesetzmäßig und unveränderlich,
als durch natürliche Kräfte bewirkt zu betrachten, mußte dem Dichter nahe


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[0595] Viktor Hehns Gedanken über Goethe. der in unsrer Zeit so reich entwickelten Naturpoesie der schwäbischen Lyriker. Hehn läßt sich bei seinen Betrachtungen von dem Gedanken leiten, daß sich in Goethes Lyrik das Verhältnis zur Natur in gleicher Weise offenbare, wie in den uns bekannten ältesten Gedichten der Griechen. Durchaus nicht als be¬ wußte Anlehnung an Homer, Hesiod u. a. will Hehn diese Übereinstimmung ansehen; vielmehr ist sie ihm ein neues Zeugnis für die durch alle geschicht¬ liche Wandlung im Wesen sich gleich bleibende menschliche Natur. (In seiner „Psychologie der Lyrik" hat Karl du Pret denselben Gedanken verfolgt, nur in noch umfassenderen Sinne, und schließlich die Formel gewonnen: Die Lyrik ist eine „paläontologische" Weltanschauung — eine leicht irreführende Formel, weil sie das Gegenteil von dem sagt, was aus der Untersuchung hervorging.) Am 23. August 1787 schrieb Goethe aus Italien die für die Entwicklung seines Geistes bedeutsamen Worte (die auch Scherer mit Nachdruck zitirt): „Die Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind, um so meinem Geiste die Ewigkeit zu schaffen." Damit hatte für Goethe eine neue künstlerische Periode, die der typischen Kunst, begonnen, welche in der „Natürlichen Tochter" ihren strengsten Ausdruck gefunden hat. Diese „bleibenden Verhältnisse," wie sie sich in der Phantasie Goethes gestaltet haben, aus seinen Dichtungen herauszuheben und den Nachweis zu führen, daß sie genau mit denjenigen Formen übereinstimmen, welche die empirische Forschung der Sittengeschichte aufdeckt, diese wahrhaft bedeutende Aufgabe lösen die zwei Abschnitte „Naturformen des Menschenlebens" und „Stände." „Derselbe Dichter — sagt Hehn —, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge den Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu geben, derselbe zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende Naturgestalt unsers Geschlechts, die substantiellen Lebensformen, in deren Schooße das Subjekt noch unerschlossen ruht. Diese Formen sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst, weder komisch noch tragisch; sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten Gegenwart, ja sie sind der höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam" (S. 186). Der Begriff der naiven Poesie, welcher in der deutschen Ästhetik eine so wichtige Rolle spielte, nachdem er durch Schiller (der ihn ja seinerseits auch nur durch die Betrachtung Goethes gewann), eingeführt worden war, erhält durch diese Abhandlung Hehns eine kaum geahnte Vertiefung und geschichtlich konkrete Be¬ gründung. Auch Goethe hatte seine „sentimentale" Periode; das war die Zeit des Werther, des Faust, der Lyrik des „Wanderers," welche überall den Gegensatz von Kultur und Natur und die Sehnsucht nach jenem unwiederbringlichen Zu¬ stande beschränkten Daseins im Schooße der überkommenen Sitte aussprachen. Allein sein Entwicklungsgang führte ihn über diesen sentimentalen Zwiespalt hinaus, und er ergab sich sowohl persönlich, wie als Forscher und Künstler ganz dem Kultus der Natur. „Das Menschenleben als gesetzmäßig und unveränderlich, als durch natürliche Kräfte bewirkt zu betrachten, mußte dem Dichter nahe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/595>, abgerufen am 22.07.2024.