Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

Haupt, seine sehr spät erst erwachte Sympathie für Berlin, das er schon zur Zeit
Friedrichs des Großen gesehen, seitdem aber nicht wieder besucht hatte, und der¬
gleichen mehr. Dazwischen läßt es Helm nicht an geistreichen Bemerkungen über
den Einfluß fehlen, den Goethes Übersiedlung nach dem stammesfremdeu Weimar
für sein ganzes Leben gewann; er wirft z. B. die Frage auf, was wohl aus
Goethes Poesie und Person geworden wäre, wenn er Frankfurt nicht verlassen
hätte, oder wenn er die Wahl zum Bürgermeister, die man ihm nach dem
Tode seines Großvaters Textor 1790 angetragen hatte, angenommen hätte.
"Im Elsaß (am Rheine also) war es gewesen, wo der junge Genius seine
Flügel entfaltete," und bis ins höchste Alter blieb ihm eine sehnsuchtsvolle Er¬
innerung an diesen Stätten seiner Jugendjahre. Und ebenso war es Süddeutsch¬
land vorerst, in dem Goethe mehr Wiederhall als in Norddeutschland erweckte.
Goethes Volksfiguren tragen alle den Charakter des katholischen Südens, selbst
der Pfarrer in "Hermann und Dorothea" ist katholisch. So klar auch Hehn
die Bedeutung des norddeutschen Volkes für die politische Entwicklung der Nation
anerkennen und nachweisen mag, seine Sympathie schenkt er mit Goethe dem
künstlerisch begabteren, sinnlicheren, naiveren Volke des Südens. Das Merk¬
würdige an dieser von weltgeschichtlichen Gesichtspunkten eingeleiteten ersten Ab¬
handlung des Buches ist, daß wir durch sie ein Bild der ganzen Persönlichkeit
Goethes von einer eindringlichen Kraft erhalten haben, wie kaum jemals bei
einem andern Biographen, und doch hat Hehn scheinbar nichts andres gethan,
als daß er gelegentliche Äußerungen Goethes über das Wetter und über das
Land, in dem er sich gerade aufhielt, zusammenstellte! Wenn aber Hehn später
einmal (S. 301) von Goethe sagt: "Er war ja mit seinem ganzen Dasein an
das Schicksal des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an, wie alle
übrigen Organismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im
Herbste fortziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt ab¬
werfen," so sind wir von der Wahrheit dieser tief das dichterische Wesen er¬
greifenden Charakteristik schon hier überzeugt worden. Hehn kommt eben durch
seine Methode von allen Seiten zum Zentrum; immer steht uns der ganze
Goethe in vielen, seiner Beziehungen vor Augen, niemals in einer einzigen allein.

Die fünfte Abhandlung des Buches: "Naturphantasie" führt dieses Thema
von Goethes Verhältnis zur Natur näher aus. Hehn reiht Goethes dichterische
Aussprüche über den Tag, die Nacht, den Morgen und den Abend, über die
Sonne, den Mond und die Sterne an einander und zeigt uns die Bedeutung,
welche alle diese Himmelserscheinungen für sein Gemüt gewonnen haben. Goethe
bezeichnete sich ja selbst als einen Sonnenanbeter, kein zweiter Lyriker hat den
Zauber des Mondlichtes so schön verherrlicht wie er. Aber auch zu den
einzelne" Jahreszeiten hatte seine Poesie ein inniges Verhältnis, und wie die
Geschichte der Lyrik das Motiv des Eislaufs von der Ode Klopstocks "Der
Züricher See" an verfolgt, so findet sie in Goethes Lyrik schon die Anfänge


Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

Haupt, seine sehr spät erst erwachte Sympathie für Berlin, das er schon zur Zeit
Friedrichs des Großen gesehen, seitdem aber nicht wieder besucht hatte, und der¬
gleichen mehr. Dazwischen läßt es Helm nicht an geistreichen Bemerkungen über
den Einfluß fehlen, den Goethes Übersiedlung nach dem stammesfremdeu Weimar
für sein ganzes Leben gewann; er wirft z. B. die Frage auf, was wohl aus
Goethes Poesie und Person geworden wäre, wenn er Frankfurt nicht verlassen
hätte, oder wenn er die Wahl zum Bürgermeister, die man ihm nach dem
Tode seines Großvaters Textor 1790 angetragen hatte, angenommen hätte.
„Im Elsaß (am Rheine also) war es gewesen, wo der junge Genius seine
Flügel entfaltete," und bis ins höchste Alter blieb ihm eine sehnsuchtsvolle Er¬
innerung an diesen Stätten seiner Jugendjahre. Und ebenso war es Süddeutsch¬
land vorerst, in dem Goethe mehr Wiederhall als in Norddeutschland erweckte.
Goethes Volksfiguren tragen alle den Charakter des katholischen Südens, selbst
der Pfarrer in „Hermann und Dorothea" ist katholisch. So klar auch Hehn
die Bedeutung des norddeutschen Volkes für die politische Entwicklung der Nation
anerkennen und nachweisen mag, seine Sympathie schenkt er mit Goethe dem
künstlerisch begabteren, sinnlicheren, naiveren Volke des Südens. Das Merk¬
würdige an dieser von weltgeschichtlichen Gesichtspunkten eingeleiteten ersten Ab¬
handlung des Buches ist, daß wir durch sie ein Bild der ganzen Persönlichkeit
Goethes von einer eindringlichen Kraft erhalten haben, wie kaum jemals bei
einem andern Biographen, und doch hat Hehn scheinbar nichts andres gethan,
als daß er gelegentliche Äußerungen Goethes über das Wetter und über das
Land, in dem er sich gerade aufhielt, zusammenstellte! Wenn aber Hehn später
einmal (S. 301) von Goethe sagt: „Er war ja mit seinem ganzen Dasein an
das Schicksal des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an, wie alle
übrigen Organismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im
Herbste fortziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt ab¬
werfen," so sind wir von der Wahrheit dieser tief das dichterische Wesen er¬
greifenden Charakteristik schon hier überzeugt worden. Hehn kommt eben durch
seine Methode von allen Seiten zum Zentrum; immer steht uns der ganze
Goethe in vielen, seiner Beziehungen vor Augen, niemals in einer einzigen allein.

Die fünfte Abhandlung des Buches: „Naturphantasie" führt dieses Thema
von Goethes Verhältnis zur Natur näher aus. Hehn reiht Goethes dichterische
Aussprüche über den Tag, die Nacht, den Morgen und den Abend, über die
Sonne, den Mond und die Sterne an einander und zeigt uns die Bedeutung,
welche alle diese Himmelserscheinungen für sein Gemüt gewonnen haben. Goethe
bezeichnete sich ja selbst als einen Sonnenanbeter, kein zweiter Lyriker hat den
Zauber des Mondlichtes so schön verherrlicht wie er. Aber auch zu den
einzelne» Jahreszeiten hatte seine Poesie ein inniges Verhältnis, und wie die
Geschichte der Lyrik das Motiv des Eislaufs von der Ode Klopstocks „Der
Züricher See" an verfolgt, so findet sie in Goethes Lyrik schon die Anfänge


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0594" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202023"/>
          <fw type="header" place="top"> Viktor Hehns Gedanken über Goethe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1677" prev="#ID_1676"> Haupt, seine sehr spät erst erwachte Sympathie für Berlin, das er schon zur Zeit<lb/>
Friedrichs des Großen gesehen, seitdem aber nicht wieder besucht hatte, und der¬<lb/>
gleichen mehr. Dazwischen läßt es Helm nicht an geistreichen Bemerkungen über<lb/>
den Einfluß fehlen, den Goethes Übersiedlung nach dem stammesfremdeu Weimar<lb/>
für sein ganzes Leben gewann; er wirft z. B. die Frage auf, was wohl aus<lb/>
Goethes Poesie und Person geworden wäre, wenn er Frankfurt nicht verlassen<lb/>
hätte, oder wenn er die Wahl zum Bürgermeister, die man ihm nach dem<lb/>
Tode seines Großvaters Textor 1790 angetragen hatte, angenommen hätte.<lb/>
&#x201E;Im Elsaß (am Rheine also) war es gewesen, wo der junge Genius seine<lb/>
Flügel entfaltete," und bis ins höchste Alter blieb ihm eine sehnsuchtsvolle Er¬<lb/>
innerung an diesen Stätten seiner Jugendjahre. Und ebenso war es Süddeutsch¬<lb/>
land vorerst, in dem Goethe mehr Wiederhall als in Norddeutschland erweckte.<lb/>
Goethes Volksfiguren tragen alle den Charakter des katholischen Südens, selbst<lb/>
der Pfarrer in &#x201E;Hermann und Dorothea" ist katholisch. So klar auch Hehn<lb/>
die Bedeutung des norddeutschen Volkes für die politische Entwicklung der Nation<lb/>
anerkennen und nachweisen mag, seine Sympathie schenkt er mit Goethe dem<lb/>
künstlerisch begabteren, sinnlicheren, naiveren Volke des Südens. Das Merk¬<lb/>
würdige an dieser von weltgeschichtlichen Gesichtspunkten eingeleiteten ersten Ab¬<lb/>
handlung des Buches ist, daß wir durch sie ein Bild der ganzen Persönlichkeit<lb/>
Goethes von einer eindringlichen Kraft erhalten haben, wie kaum jemals bei<lb/>
einem andern Biographen, und doch hat Hehn scheinbar nichts andres gethan,<lb/>
als daß er gelegentliche Äußerungen Goethes über das Wetter und über das<lb/>
Land, in dem er sich gerade aufhielt, zusammenstellte! Wenn aber Hehn später<lb/>
einmal (S. 301) von Goethe sagt: &#x201E;Er war ja mit seinem ganzen Dasein an<lb/>
das Schicksal des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an, wie alle<lb/>
übrigen Organismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im<lb/>
Herbste fortziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt ab¬<lb/>
werfen," so sind wir von der Wahrheit dieser tief das dichterische Wesen er¬<lb/>
greifenden Charakteristik schon hier überzeugt worden. Hehn kommt eben durch<lb/>
seine Methode von allen Seiten zum Zentrum; immer steht uns der ganze<lb/>
Goethe in vielen, seiner Beziehungen vor Augen, niemals in einer einzigen allein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1678" next="#ID_1679"> Die fünfte Abhandlung des Buches: &#x201E;Naturphantasie" führt dieses Thema<lb/>
von Goethes Verhältnis zur Natur näher aus. Hehn reiht Goethes dichterische<lb/>
Aussprüche über den Tag, die Nacht, den Morgen und den Abend, über die<lb/>
Sonne, den Mond und die Sterne an einander und zeigt uns die Bedeutung,<lb/>
welche alle diese Himmelserscheinungen für sein Gemüt gewonnen haben. Goethe<lb/>
bezeichnete sich ja selbst als einen Sonnenanbeter, kein zweiter Lyriker hat den<lb/>
Zauber des Mondlichtes so schön verherrlicht wie er. Aber auch zu den<lb/>
einzelne» Jahreszeiten hatte seine Poesie ein inniges Verhältnis, und wie die<lb/>
Geschichte der Lyrik das Motiv des Eislaufs von der Ode Klopstocks &#x201E;Der<lb/>
Züricher See" an verfolgt, so findet sie in Goethes Lyrik schon die Anfänge</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0594] Viktor Hehns Gedanken über Goethe. Haupt, seine sehr spät erst erwachte Sympathie für Berlin, das er schon zur Zeit Friedrichs des Großen gesehen, seitdem aber nicht wieder besucht hatte, und der¬ gleichen mehr. Dazwischen läßt es Helm nicht an geistreichen Bemerkungen über den Einfluß fehlen, den Goethes Übersiedlung nach dem stammesfremdeu Weimar für sein ganzes Leben gewann; er wirft z. B. die Frage auf, was wohl aus Goethes Poesie und Person geworden wäre, wenn er Frankfurt nicht verlassen hätte, oder wenn er die Wahl zum Bürgermeister, die man ihm nach dem Tode seines Großvaters Textor 1790 angetragen hatte, angenommen hätte. „Im Elsaß (am Rheine also) war es gewesen, wo der junge Genius seine Flügel entfaltete," und bis ins höchste Alter blieb ihm eine sehnsuchtsvolle Er¬ innerung an diesen Stätten seiner Jugendjahre. Und ebenso war es Süddeutsch¬ land vorerst, in dem Goethe mehr Wiederhall als in Norddeutschland erweckte. Goethes Volksfiguren tragen alle den Charakter des katholischen Südens, selbst der Pfarrer in „Hermann und Dorothea" ist katholisch. So klar auch Hehn die Bedeutung des norddeutschen Volkes für die politische Entwicklung der Nation anerkennen und nachweisen mag, seine Sympathie schenkt er mit Goethe dem künstlerisch begabteren, sinnlicheren, naiveren Volke des Südens. Das Merk¬ würdige an dieser von weltgeschichtlichen Gesichtspunkten eingeleiteten ersten Ab¬ handlung des Buches ist, daß wir durch sie ein Bild der ganzen Persönlichkeit Goethes von einer eindringlichen Kraft erhalten haben, wie kaum jemals bei einem andern Biographen, und doch hat Hehn scheinbar nichts andres gethan, als daß er gelegentliche Äußerungen Goethes über das Wetter und über das Land, in dem er sich gerade aufhielt, zusammenstellte! Wenn aber Hehn später einmal (S. 301) von Goethe sagt: „Er war ja mit seinem ganzen Dasein an das Schicksal des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an, wie alle übrigen Organismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im Herbste fortziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt ab¬ werfen," so sind wir von der Wahrheit dieser tief das dichterische Wesen er¬ greifenden Charakteristik schon hier überzeugt worden. Hehn kommt eben durch seine Methode von allen Seiten zum Zentrum; immer steht uns der ganze Goethe in vielen, seiner Beziehungen vor Augen, niemals in einer einzigen allein. Die fünfte Abhandlung des Buches: „Naturphantasie" führt dieses Thema von Goethes Verhältnis zur Natur näher aus. Hehn reiht Goethes dichterische Aussprüche über den Tag, die Nacht, den Morgen und den Abend, über die Sonne, den Mond und die Sterne an einander und zeigt uns die Bedeutung, welche alle diese Himmelserscheinungen für sein Gemüt gewonnen haben. Goethe bezeichnete sich ja selbst als einen Sonnenanbeter, kein zweiter Lyriker hat den Zauber des Mondlichtes so schön verherrlicht wie er. Aber auch zu den einzelne» Jahreszeiten hatte seine Poesie ein inniges Verhältnis, und wie die Geschichte der Lyrik das Motiv des Eislaufs von der Ode Klopstocks „Der Züricher See" an verfolgt, so findet sie in Goethes Lyrik schon die Anfänge

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/594
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/594>, abgerufen am 22.07.2024.