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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Viktor Hohns Gedanken über Goethe.

liegen, der auch Naturforscher war und die Natur selbst in ihr unbewußtes
Schaffen zu ergründen, ihrer durch geistige Teilnahme würdig zu werden sein
Leben lang sich bestrebte" (S. 217). Und man muß die Größe seines
Genius bewundern, der mit dem intuitiver Dichterblick alle jene Grund¬
formen des menschlichen Daseins herausfand, welche die wissenschaftliche For¬
schung erst nach mühsamen vergleichenden Studien der Literatur und Kultur
der verschiednen Zeiten und Völker und am Ende auch nicht anders feststellen
kann. Dies also das Thema der zwei bedeutenden Abhandlungen Hehns. Die
Periode der typischen Kunst fällt bei Goethe mit seiner Epik zusammen, und
demnach sind es vornehmlich "Hermann und Dorothea," "Alexis und Dora,"
"Wilhelm Meister" u. a. in. aus den neunziger Jahren, die für Hehns
Studien wichtig wurden. "Daher -- bemerkt Hehn gelegentlich -- die Einstim¬
mung der in Rede stehenden Goethischen Schilderungen mit den Bildnissen
des Epos und der Skulptur, daher die Anklänge, die beim Genuß derselben
wie ein fernes, leises Echo aus dem Altertum zu uns herüberkommen." Denn
diese typische Allgemeinheit der Figuren ist eine Eigentümlichkeit der Skulptur.
Wie glücklich und wie tief Goethes Auge beobachtete, veranschaulicht er an
einzelnen schönen Beispielen. So erscheint bei Goethe das junge Mädchen
(Gretchen, Klärchen, die Spinnerin u. s. w.) gern an der Spindel; Hehn liefert
dazu eine Geschichte des Weibes mit der Spindel in der Hand vom grauen
Altertum bis zu Goethes Zeit; oder er verfolgt das Motiv der Mädchen am
Brunnen von der biblischen Rebekka bis zu den Sittenrichterinnen am Brunnen
im "Faust." Und so mit allen andern Motiven: dem Typus des Vaters, der
Mutter, der Braut, des Richters, der Werbung, des Spießbürgers u. s. f. Zur
rechten Charakteristik Goethischer Kunst wird Schillers "Lied von der Glocke"
herangezogen, wie früher sein "Spaziergang." Die Abneigung Goethes gegen
alle analytische Naturwissenschaft, gegen alle Mathematik und Mechanik, gegen
Mikroskope und Fernröhre bringt Hehn mit diesem für das Organische, All¬
gemeine, Typische ausschließlich interesstrten Geiste und dessen poetischer Anlage
in natürlichen Zusammenhang. Das Kapitel über die Stände giebt Hehn nicht
minder ergiebigen Anlaß, die von Wirklichkeit gesättigte Beobachtung Goethes
zu beleuchten. Goethes Mirger lieben z. B. sich in sprichwörtlichen Wendungen
zu äußern, ein eminent wahrer Charakterzug. Die Gretchentragödie ist nur in
bürgerlicher Umgebung und Gesinnung möglich. Hehn skizzirt eine Geschichte
des Nachbarnmotivs u. dergl. in. Dabei findet er passende Gelegenheit, Goethes
bürgerlichen Ausgangspunkt, seinen ursprünglichen Haß des Adels, seinen
Gegensatz zur weimarischen Hofgesellschaft in den ersten Jahren seines Aufent¬
halts, sodann sein allmähliches Hineinwachsen in die Form des adlichen Um¬
ganges unter der sanften Anleitung der Frau von Stein, seine schließliche Herr¬
schaft über die zwingenden Formen und noch dergleichen mehr zur Sprache zu
bringen. Goethe kam ja am Ende zu dem Standpunkte, dem Ottilie im Tage-


Viktor Hohns Gedanken über Goethe.

liegen, der auch Naturforscher war und die Natur selbst in ihr unbewußtes
Schaffen zu ergründen, ihrer durch geistige Teilnahme würdig zu werden sein
Leben lang sich bestrebte" (S. 217). Und man muß die Größe seines
Genius bewundern, der mit dem intuitiver Dichterblick alle jene Grund¬
formen des menschlichen Daseins herausfand, welche die wissenschaftliche For¬
schung erst nach mühsamen vergleichenden Studien der Literatur und Kultur
der verschiednen Zeiten und Völker und am Ende auch nicht anders feststellen
kann. Dies also das Thema der zwei bedeutenden Abhandlungen Hehns. Die
Periode der typischen Kunst fällt bei Goethe mit seiner Epik zusammen, und
demnach sind es vornehmlich „Hermann und Dorothea," „Alexis und Dora,"
„Wilhelm Meister" u. a. in. aus den neunziger Jahren, die für Hehns
Studien wichtig wurden. „Daher — bemerkt Hehn gelegentlich — die Einstim¬
mung der in Rede stehenden Goethischen Schilderungen mit den Bildnissen
des Epos und der Skulptur, daher die Anklänge, die beim Genuß derselben
wie ein fernes, leises Echo aus dem Altertum zu uns herüberkommen." Denn
diese typische Allgemeinheit der Figuren ist eine Eigentümlichkeit der Skulptur.
Wie glücklich und wie tief Goethes Auge beobachtete, veranschaulicht er an
einzelnen schönen Beispielen. So erscheint bei Goethe das junge Mädchen
(Gretchen, Klärchen, die Spinnerin u. s. w.) gern an der Spindel; Hehn liefert
dazu eine Geschichte des Weibes mit der Spindel in der Hand vom grauen
Altertum bis zu Goethes Zeit; oder er verfolgt das Motiv der Mädchen am
Brunnen von der biblischen Rebekka bis zu den Sittenrichterinnen am Brunnen
im „Faust." Und so mit allen andern Motiven: dem Typus des Vaters, der
Mutter, der Braut, des Richters, der Werbung, des Spießbürgers u. s. f. Zur
rechten Charakteristik Goethischer Kunst wird Schillers „Lied von der Glocke"
herangezogen, wie früher sein „Spaziergang." Die Abneigung Goethes gegen
alle analytische Naturwissenschaft, gegen alle Mathematik und Mechanik, gegen
Mikroskope und Fernröhre bringt Hehn mit diesem für das Organische, All¬
gemeine, Typische ausschließlich interesstrten Geiste und dessen poetischer Anlage
in natürlichen Zusammenhang. Das Kapitel über die Stände giebt Hehn nicht
minder ergiebigen Anlaß, die von Wirklichkeit gesättigte Beobachtung Goethes
zu beleuchten. Goethes Mirger lieben z. B. sich in sprichwörtlichen Wendungen
zu äußern, ein eminent wahrer Charakterzug. Die Gretchentragödie ist nur in
bürgerlicher Umgebung und Gesinnung möglich. Hehn skizzirt eine Geschichte
des Nachbarnmotivs u. dergl. in. Dabei findet er passende Gelegenheit, Goethes
bürgerlichen Ausgangspunkt, seinen ursprünglichen Haß des Adels, seinen
Gegensatz zur weimarischen Hofgesellschaft in den ersten Jahren seines Aufent¬
halts, sodann sein allmähliches Hineinwachsen in die Form des adlichen Um¬
ganges unter der sanften Anleitung der Frau von Stein, seine schließliche Herr¬
schaft über die zwingenden Formen und noch dergleichen mehr zur Sprache zu
bringen. Goethe kam ja am Ende zu dem Standpunkte, dem Ottilie im Tage-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/596>, abgerufen am 22.07.2024.