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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Nach der Entscheidung in Paris.

vergleichsweise wenig Widerspruch hervorrief. Ferry, die dßts noirs der Boule¬
vardpolitiker, gab hierbei zweihundertundzwölf sichere Stimmen auf. Freycinet,
der allerdings vorläufig nur sechsundsiebzig Stimmen auf dem Altare des
Vaterlandes oder der republikanischen Partei zu opfern, aber in weiterem Ver¬
laufe der Wahlhandlung erheblich mehr zu hoffen hatte, folgte dem guten Bei¬
spiele, und das Ende war, daß Sadi Carnot als der Erwählte der republika¬
nischen Partei und der Mehrheit des ganzen Kongresses aus der Urne hervor¬
ging. Bei der ersten Abstimmung stimmten von den 849 Wählern allerdings
nur 303 für ihn. Bei der zweiten war aber die Zahl der Wählerschaft
etwas zusammengeschmolzen, da die Urne bei der Aufzählung 20 unbeschriebene
Zettel aufwies, und jetzt bekam Carnot 616 Stimmen gegen 188, die auf
Saussier, 10, die auf Ferry, 6, die auf Freycinet, und einige andre, die auf
weniger bekannte Persönlichkeiten fielen. Das war natürlich entscheidend, und
so erhob sich Leroyer, der Vorsitzende der Versammlung, und sagte: "Nachdem
Herr Sadi Carnot die Mehrheit der Stimmen erlangt hat, erkläre ich ihn zum
Präsidenten der Republik," worauf die Sitzung des Kongresses geschlossen wurde.

Der neue Präsident ist eine zwar bisher wenig hervorgetretene, aber keines¬
wegs unbekannte Persönlichkeit. Durch seine Herkunft verknüpft er die Erinnerungen
an das erste Kaiserreich mit der Gegenwart. Sein Großvater war ein sehr
tüchtiger Kriegsminister des ersten Napoleon. Er selbst, 1837 geboren, also
erst fünfzig Jahre alt, und wie Freycinet ursprünglich Zivilingenienr, beteiligte
sich seit 1871 am parlamentarischen Leben und war darauf im Kabinet Frey¬
cinet, sowie später unter Brisson Finanzminister. Er hat sich in kaufmännischen
und Bcmkfragcn ausgezeichnet, desgleichen in den Zweigen der öffentlichen Ar¬
beiten, welche mit seiner berufsmäßigen Bildung zusammenfallen; auch ist er
Übersetzer von Schriften des englischen Philosophen Stuart Mill. Seiner
Parteifarbe nach gehört er zu den Opportunisten oder richtiger zu den ge¬
mäßigten Republikanern. Seine Wahl überraschte, befriedigte aber auch das
französische Publikum und zwar, wie es scheint, mit Einschluß der Radikalen
Selbst Nochefort und der Juli'MLiALkmt macheu dazu eine gute Miene, was
sich freilich sehr bald ändern kann, wenn der neue Präsident sich weigert, der
Partei ihren Willen zu thun. Hören wir einige der Urteile, mit welchen fran¬
zösische Blätter ihn zu charakterisiren versuchten Das ^ourug.1 ass Dslzg-es
weist vorzüglich darauf hin, daß er gerade darum gewählt wurde, weil er sich
nicht vorgedrängt hatte und wenig beachtet im Schatten stand. Es sagt:
"Niemals hat er eine Rolle von großer Bedeutung gespielt, und es ist sicher,
daß man ihn, wenn er eine glänzendere Figur gemacht hätte, wenn sein poli¬
tisches Leben ein thatenreicheres, sein Charakter ein streitlustiger gewesen wäre,
nicht gewählt haben würde. Sein Erfolg ist verschiednen Ursachen zuzuschreiben.
Die Hitze des mehrere Tage währenden Wahlkampfcs, die Heftigkeit der Angriffe
auf Persönlichkeiten, die mehr im Lichte standen, die verhältnismäßig lange


Nach der Entscheidung in Paris.

vergleichsweise wenig Widerspruch hervorrief. Ferry, die dßts noirs der Boule¬
vardpolitiker, gab hierbei zweihundertundzwölf sichere Stimmen auf. Freycinet,
der allerdings vorläufig nur sechsundsiebzig Stimmen auf dem Altare des
Vaterlandes oder der republikanischen Partei zu opfern, aber in weiterem Ver¬
laufe der Wahlhandlung erheblich mehr zu hoffen hatte, folgte dem guten Bei¬
spiele, und das Ende war, daß Sadi Carnot als der Erwählte der republika¬
nischen Partei und der Mehrheit des ganzen Kongresses aus der Urne hervor¬
ging. Bei der ersten Abstimmung stimmten von den 849 Wählern allerdings
nur 303 für ihn. Bei der zweiten war aber die Zahl der Wählerschaft
etwas zusammengeschmolzen, da die Urne bei der Aufzählung 20 unbeschriebene
Zettel aufwies, und jetzt bekam Carnot 616 Stimmen gegen 188, die auf
Saussier, 10, die auf Ferry, 6, die auf Freycinet, und einige andre, die auf
weniger bekannte Persönlichkeiten fielen. Das war natürlich entscheidend, und
so erhob sich Leroyer, der Vorsitzende der Versammlung, und sagte: „Nachdem
Herr Sadi Carnot die Mehrheit der Stimmen erlangt hat, erkläre ich ihn zum
Präsidenten der Republik," worauf die Sitzung des Kongresses geschlossen wurde.

Der neue Präsident ist eine zwar bisher wenig hervorgetretene, aber keines¬
wegs unbekannte Persönlichkeit. Durch seine Herkunft verknüpft er die Erinnerungen
an das erste Kaiserreich mit der Gegenwart. Sein Großvater war ein sehr
tüchtiger Kriegsminister des ersten Napoleon. Er selbst, 1837 geboren, also
erst fünfzig Jahre alt, und wie Freycinet ursprünglich Zivilingenienr, beteiligte
sich seit 1871 am parlamentarischen Leben und war darauf im Kabinet Frey¬
cinet, sowie später unter Brisson Finanzminister. Er hat sich in kaufmännischen
und Bcmkfragcn ausgezeichnet, desgleichen in den Zweigen der öffentlichen Ar¬
beiten, welche mit seiner berufsmäßigen Bildung zusammenfallen; auch ist er
Übersetzer von Schriften des englischen Philosophen Stuart Mill. Seiner
Parteifarbe nach gehört er zu den Opportunisten oder richtiger zu den ge¬
mäßigten Republikanern. Seine Wahl überraschte, befriedigte aber auch das
französische Publikum und zwar, wie es scheint, mit Einschluß der Radikalen
Selbst Nochefort und der Juli'MLiALkmt macheu dazu eine gute Miene, was
sich freilich sehr bald ändern kann, wenn der neue Präsident sich weigert, der
Partei ihren Willen zu thun. Hören wir einige der Urteile, mit welchen fran¬
zösische Blätter ihn zu charakterisiren versuchten Das ^ourug.1 ass Dslzg-es
weist vorzüglich darauf hin, daß er gerade darum gewählt wurde, weil er sich
nicht vorgedrängt hatte und wenig beachtet im Schatten stand. Es sagt:
„Niemals hat er eine Rolle von großer Bedeutung gespielt, und es ist sicher,
daß man ihn, wenn er eine glänzendere Figur gemacht hätte, wenn sein poli¬
tisches Leben ein thatenreicheres, sein Charakter ein streitlustiger gewesen wäre,
nicht gewählt haben würde. Sein Erfolg ist verschiednen Ursachen zuzuschreiben.
Die Hitze des mehrere Tage währenden Wahlkampfcs, die Heftigkeit der Angriffe
auf Persönlichkeiten, die mehr im Lichte standen, die verhältnismäßig lange


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[0575] Nach der Entscheidung in Paris. vergleichsweise wenig Widerspruch hervorrief. Ferry, die dßts noirs der Boule¬ vardpolitiker, gab hierbei zweihundertundzwölf sichere Stimmen auf. Freycinet, der allerdings vorläufig nur sechsundsiebzig Stimmen auf dem Altare des Vaterlandes oder der republikanischen Partei zu opfern, aber in weiterem Ver¬ laufe der Wahlhandlung erheblich mehr zu hoffen hatte, folgte dem guten Bei¬ spiele, und das Ende war, daß Sadi Carnot als der Erwählte der republika¬ nischen Partei und der Mehrheit des ganzen Kongresses aus der Urne hervor¬ ging. Bei der ersten Abstimmung stimmten von den 849 Wählern allerdings nur 303 für ihn. Bei der zweiten war aber die Zahl der Wählerschaft etwas zusammengeschmolzen, da die Urne bei der Aufzählung 20 unbeschriebene Zettel aufwies, und jetzt bekam Carnot 616 Stimmen gegen 188, die auf Saussier, 10, die auf Ferry, 6, die auf Freycinet, und einige andre, die auf weniger bekannte Persönlichkeiten fielen. Das war natürlich entscheidend, und so erhob sich Leroyer, der Vorsitzende der Versammlung, und sagte: „Nachdem Herr Sadi Carnot die Mehrheit der Stimmen erlangt hat, erkläre ich ihn zum Präsidenten der Republik," worauf die Sitzung des Kongresses geschlossen wurde. Der neue Präsident ist eine zwar bisher wenig hervorgetretene, aber keines¬ wegs unbekannte Persönlichkeit. Durch seine Herkunft verknüpft er die Erinnerungen an das erste Kaiserreich mit der Gegenwart. Sein Großvater war ein sehr tüchtiger Kriegsminister des ersten Napoleon. Er selbst, 1837 geboren, also erst fünfzig Jahre alt, und wie Freycinet ursprünglich Zivilingenienr, beteiligte sich seit 1871 am parlamentarischen Leben und war darauf im Kabinet Frey¬ cinet, sowie später unter Brisson Finanzminister. Er hat sich in kaufmännischen und Bcmkfragcn ausgezeichnet, desgleichen in den Zweigen der öffentlichen Ar¬ beiten, welche mit seiner berufsmäßigen Bildung zusammenfallen; auch ist er Übersetzer von Schriften des englischen Philosophen Stuart Mill. Seiner Parteifarbe nach gehört er zu den Opportunisten oder richtiger zu den ge¬ mäßigten Republikanern. Seine Wahl überraschte, befriedigte aber auch das französische Publikum und zwar, wie es scheint, mit Einschluß der Radikalen Selbst Nochefort und der Juli'MLiALkmt macheu dazu eine gute Miene, was sich freilich sehr bald ändern kann, wenn der neue Präsident sich weigert, der Partei ihren Willen zu thun. Hören wir einige der Urteile, mit welchen fran¬ zösische Blätter ihn zu charakterisiren versuchten Das ^ourug.1 ass Dslzg-es weist vorzüglich darauf hin, daß er gerade darum gewählt wurde, weil er sich nicht vorgedrängt hatte und wenig beachtet im Schatten stand. Es sagt: „Niemals hat er eine Rolle von großer Bedeutung gespielt, und es ist sicher, daß man ihn, wenn er eine glänzendere Figur gemacht hätte, wenn sein poli¬ tisches Leben ein thatenreicheres, sein Charakter ein streitlustiger gewesen wäre, nicht gewählt haben würde. Sein Erfolg ist verschiednen Ursachen zuzuschreiben. Die Hitze des mehrere Tage währenden Wahlkampfcs, die Heftigkeit der Angriffe auf Persönlichkeiten, die mehr im Lichte standen, die verhältnismäßig lange

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/575>, abgerufen am 22.07.2024.