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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Wieland und das Humanitätsideal.

Du, kluger Epikur, du Freund der Ruh der Seelen,
Du lehrst das echte Gut aus tausend andern wählen.

Die Forderung der Aufklärungsphilosophie, daß das Moralprinzip, als auto¬
nomes, in der Vernunft gefunden werden müsse, ist in den ein Jahr später
verfaßten "Moralischen Briefen" ausgesprochen, in deren neunten es heißt:


Sein bester Lehrer war ein richtiger Verstand,
Der seines Lebens Norm in seinem Busen fand;
Der war sein Genius.

Vom "Amel-Ovid" an, der im Jahre 1752, dem neunzehnten des Dichters,
erschien, findet sich das Hauptthema der Wielandschen Poesie: verständiger
Genuß der sinnlichen Liebe, stets in derselben Weise aufgefaßt und mit dem
obersten Prinzip des verständige" Lebensgenusses überhaupt in Einklang gebracht.
Genieße, aber mit Maß und Geschmack, das ist die Lehre, die in unzähligen
Wendungen wiederholt wird. Vor allem ist das Einerlei im Genuß zu ver¬
meiden, da sonst Langeweile, Überdruß und Ekel sich einstellt. Immer neue
Formen des Genießens, die mit stets erneutem Neize wirken, werden aber nur
gefunden durch Vergeistigung des Genusses. Die Vereinigung des Sinnlichen
mit dem Geistigen erfolgt im Schönen:


Zwar der begehrt vou uns zu viel,
Der bei lebend'gen Leib uns zu Intelligenzen
Erheben will. Das feinere Gefühl ,
Des Schönen schwebt in beider Welten Grenzen.

Diese Lehre, zu der Wieland schon ini zwanzigsten Lebensjahre gekommen
war, klingt bedeutsam an die Schillersche Darstellung des Humanitätsideals an.
Freilich ist der Weg, auf dem Schiller zum Ideal gelangt, ein ganz verschiedener.
Bei ihm kommt das Ideal ans dem Pflichtgebot des autonomen Willens, und
in seinem Sinne ist die Vermählung, welche es mit dem Sinnlichen ein¬
geht, um sich zum schönen Ideal zu gestalten, bestimmt, der Sittlichkeit höheren
Neiz zu verleihen, sie den im allgemeinen sinnlich gearteten Seelen der
Menschen annehmbarer zu machen. Wieland bleibt ganz auf individual-eudämo-
nistischen Standpunkte stehen; er begründet den Lebensgenuß vorzugsweise auf
einen physiologischen Trieb, dem der Mensch doch immer mehr oder weniger
unfrei gegenübersteht, und das Schöne hat für ihn wesentlich die Bedeutung,
den von jener physiologischen Naturanlage zu erwartenden Genuß feiner und
eben damit dauerhafter zu machen, indem durch gleichzeitige Befriedigung des
Geschmackes Überdruß und Langeweile ferngehalten werden. Weiterhin werden,
wie bei Epikur, Freundschaft und Wohlwollen gegen andre empfohlen, um sich
für deu Genuß seiner selbst die erforderliche Ruhe des Gemütes und zugleich
die Anregung zur Abwechslung im Genuß zu verschaffen. Aber auch hier ist
das Maß die oberste Regel. Ihren klassischen Ausdruck hat diese Anschanung


Wieland und das Humanitätsideal.

Du, kluger Epikur, du Freund der Ruh der Seelen,
Du lehrst das echte Gut aus tausend andern wählen.

Die Forderung der Aufklärungsphilosophie, daß das Moralprinzip, als auto¬
nomes, in der Vernunft gefunden werden müsse, ist in den ein Jahr später
verfaßten „Moralischen Briefen" ausgesprochen, in deren neunten es heißt:


Sein bester Lehrer war ein richtiger Verstand,
Der seines Lebens Norm in seinem Busen fand;
Der war sein Genius.

Vom „Amel-Ovid" an, der im Jahre 1752, dem neunzehnten des Dichters,
erschien, findet sich das Hauptthema der Wielandschen Poesie: verständiger
Genuß der sinnlichen Liebe, stets in derselben Weise aufgefaßt und mit dem
obersten Prinzip des verständige» Lebensgenusses überhaupt in Einklang gebracht.
Genieße, aber mit Maß und Geschmack, das ist die Lehre, die in unzähligen
Wendungen wiederholt wird. Vor allem ist das Einerlei im Genuß zu ver¬
meiden, da sonst Langeweile, Überdruß und Ekel sich einstellt. Immer neue
Formen des Genießens, die mit stets erneutem Neize wirken, werden aber nur
gefunden durch Vergeistigung des Genusses. Die Vereinigung des Sinnlichen
mit dem Geistigen erfolgt im Schönen:


Zwar der begehrt vou uns zu viel,
Der bei lebend'gen Leib uns zu Intelligenzen
Erheben will. Das feinere Gefühl ,
Des Schönen schwebt in beider Welten Grenzen.

Diese Lehre, zu der Wieland schon ini zwanzigsten Lebensjahre gekommen
war, klingt bedeutsam an die Schillersche Darstellung des Humanitätsideals an.
Freilich ist der Weg, auf dem Schiller zum Ideal gelangt, ein ganz verschiedener.
Bei ihm kommt das Ideal ans dem Pflichtgebot des autonomen Willens, und
in seinem Sinne ist die Vermählung, welche es mit dem Sinnlichen ein¬
geht, um sich zum schönen Ideal zu gestalten, bestimmt, der Sittlichkeit höheren
Neiz zu verleihen, sie den im allgemeinen sinnlich gearteten Seelen der
Menschen annehmbarer zu machen. Wieland bleibt ganz auf individual-eudämo-
nistischen Standpunkte stehen; er begründet den Lebensgenuß vorzugsweise auf
einen physiologischen Trieb, dem der Mensch doch immer mehr oder weniger
unfrei gegenübersteht, und das Schöne hat für ihn wesentlich die Bedeutung,
den von jener physiologischen Naturanlage zu erwartenden Genuß feiner und
eben damit dauerhafter zu machen, indem durch gleichzeitige Befriedigung des
Geschmackes Überdruß und Langeweile ferngehalten werden. Weiterhin werden,
wie bei Epikur, Freundschaft und Wohlwollen gegen andre empfohlen, um sich
für deu Genuß seiner selbst die erforderliche Ruhe des Gemütes und zugleich
die Anregung zur Abwechslung im Genuß zu verschaffen. Aber auch hier ist
das Maß die oberste Regel. Ihren klassischen Ausdruck hat diese Anschanung


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[0531] Wieland und das Humanitätsideal. Du, kluger Epikur, du Freund der Ruh der Seelen, Du lehrst das echte Gut aus tausend andern wählen. Die Forderung der Aufklärungsphilosophie, daß das Moralprinzip, als auto¬ nomes, in der Vernunft gefunden werden müsse, ist in den ein Jahr später verfaßten „Moralischen Briefen" ausgesprochen, in deren neunten es heißt: Sein bester Lehrer war ein richtiger Verstand, Der seines Lebens Norm in seinem Busen fand; Der war sein Genius. Vom „Amel-Ovid" an, der im Jahre 1752, dem neunzehnten des Dichters, erschien, findet sich das Hauptthema der Wielandschen Poesie: verständiger Genuß der sinnlichen Liebe, stets in derselben Weise aufgefaßt und mit dem obersten Prinzip des verständige» Lebensgenusses überhaupt in Einklang gebracht. Genieße, aber mit Maß und Geschmack, das ist die Lehre, die in unzähligen Wendungen wiederholt wird. Vor allem ist das Einerlei im Genuß zu ver¬ meiden, da sonst Langeweile, Überdruß und Ekel sich einstellt. Immer neue Formen des Genießens, die mit stets erneutem Neize wirken, werden aber nur gefunden durch Vergeistigung des Genusses. Die Vereinigung des Sinnlichen mit dem Geistigen erfolgt im Schönen: Zwar der begehrt vou uns zu viel, Der bei lebend'gen Leib uns zu Intelligenzen Erheben will. Das feinere Gefühl , Des Schönen schwebt in beider Welten Grenzen. Diese Lehre, zu der Wieland schon ini zwanzigsten Lebensjahre gekommen war, klingt bedeutsam an die Schillersche Darstellung des Humanitätsideals an. Freilich ist der Weg, auf dem Schiller zum Ideal gelangt, ein ganz verschiedener. Bei ihm kommt das Ideal ans dem Pflichtgebot des autonomen Willens, und in seinem Sinne ist die Vermählung, welche es mit dem Sinnlichen ein¬ geht, um sich zum schönen Ideal zu gestalten, bestimmt, der Sittlichkeit höheren Neiz zu verleihen, sie den im allgemeinen sinnlich gearteten Seelen der Menschen annehmbarer zu machen. Wieland bleibt ganz auf individual-eudämo- nistischen Standpunkte stehen; er begründet den Lebensgenuß vorzugsweise auf einen physiologischen Trieb, dem der Mensch doch immer mehr oder weniger unfrei gegenübersteht, und das Schöne hat für ihn wesentlich die Bedeutung, den von jener physiologischen Naturanlage zu erwartenden Genuß feiner und eben damit dauerhafter zu machen, indem durch gleichzeitige Befriedigung des Geschmackes Überdruß und Langeweile ferngehalten werden. Weiterhin werden, wie bei Epikur, Freundschaft und Wohlwollen gegen andre empfohlen, um sich für deu Genuß seiner selbst die erforderliche Ruhe des Gemütes und zugleich die Anregung zur Abwechslung im Genuß zu verschaffen. Aber auch hier ist das Maß die oberste Regel. Ihren klassischen Ausdruck hat diese Anschanung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/531>, abgerufen am 22.07.2024.