Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
ZVieland und das Humanita'tsideal.

Reize des geschlechtlichen Verhältnisses, welche seiner ganzen Empfindungs- und
Anschauungsweise die Färbung gaben. Doch begnügte er sich zumeist mit dem
Genusse in der Phantasie. Die Fährlichkeiten, welche mit dem dreisten Zu¬
greifen eines Don Juan verbunden sind, waren nicht nach seinem Geschmack.
Zart und doch zäh; altklug, aber stets bereit, sich in jede seinem Naturell zu¬
sagende Denk- und Darstellungsform rasch und leicht hineinzufinden; sobald
er frei aufzuatmen wagte, voll von Geist und schalkhafter Laune; beseelt von
einem rastlosen Triebe zur Betrachtung und Erörterung aller möglichen moral¬
philosophischen, psychologischen und gesellschaftlichen Probleme -- so war er
ganz geeignet, ein schriftstellerischer Proteus zu werden innerhalb des Bereiches,
worin ihn die Eigentümlichkeit seines Geistes gefangen hielt. Seine häusliche
und Schulerziehung war pietistisch gewesen. Aus den vielfachsten Erfahrungen
ist bekannt, daß sinnliche Reizbarkeit und Hang zu unklaren Mystizismus in
weichen oder zur Weichlichkeit neigenden Seelen sich nicht selten innig vermischen.
Die Übergänge Wielands von mystisch-empfindsamer zu sinnlich-lüsterner Dar-
stellungsweise, und umgekehrt, bieten deshalb auch kaum einen Grund zur Ver¬
wunderung. Eher könnte man sich wundern, daß Bodmer, der sich als Ersatz
für den ungetreuen Klopstock einen andern frommen Sänger zum Hausgenossen
wünschte, die deutlichen Spuren des künftigen Wieland, die sich schon in dessen
ersten Gedichten verrieten, trotz vorsichtiger Prüfung dennoch verkennen konnte.
Da war der Berliner Nicolai klüger, wenn er urteilte: "Wielands Muse ist
ein junges Mädchen, das auch, wie die Bodmerische, die Betschwester spielen
will, und, der alten Witwe zu gefallen, sich in ein altväterisches Käppchen ein¬
hüllt, was ihr gleichwohl nicht kleidet. Sie bemüht sich, eine verständige, er¬
fahrene Miene anzunehmen, unter der ihre jugendliche Unbedachtsamkeit nur zu
sehr hervorleuchtet, und es wäre ein merkwürdiges Schauspiel, wenn diese junge
Frömmigkeitslchrerin sich wieder in eine muntere Modeschönheit verwandelte."

In der That sind die scheinbaren Widersprüche in Wielands Leben und
Dichten auf das Vorwiege" äußerer Einflüsse in diesem oder jenem Sinne
zurückzuführen. Im Grnndwescntlichen seiner Weltanschauung ist er sich immer
gleich und immer treu geblieben. Sein vorsichtiger Skeptizismus in meta¬
physischen Fragen überhaupt, sein Festhalten am theistischer Gottesbegriff und
an einem relativen Optimismus geben sich schon in Versen kund, die er als
achtzehnjähriger Jüngling geschrieben hat in dem Lehrgedicht über die "Natur
der Dinge" I, 151:


Die Welt, die meinem Blick kaum ihre Schale weist,
Erhält sich durch die Macht von einem höchsten Geist;
Sie ist zu schlecht, in sich die Wirklichkeit zu finden,
Zu schön, von ungefähr sich aus dein Nichts zu winden.

Einige Zeilen weiter giebt der Dichter sein bleibendes moralisches Glaubens¬
bekenntnis kurz und bündig:


ZVieland und das Humanita'tsideal.

Reize des geschlechtlichen Verhältnisses, welche seiner ganzen Empfindungs- und
Anschauungsweise die Färbung gaben. Doch begnügte er sich zumeist mit dem
Genusse in der Phantasie. Die Fährlichkeiten, welche mit dem dreisten Zu¬
greifen eines Don Juan verbunden sind, waren nicht nach seinem Geschmack.
Zart und doch zäh; altklug, aber stets bereit, sich in jede seinem Naturell zu¬
sagende Denk- und Darstellungsform rasch und leicht hineinzufinden; sobald
er frei aufzuatmen wagte, voll von Geist und schalkhafter Laune; beseelt von
einem rastlosen Triebe zur Betrachtung und Erörterung aller möglichen moral¬
philosophischen, psychologischen und gesellschaftlichen Probleme — so war er
ganz geeignet, ein schriftstellerischer Proteus zu werden innerhalb des Bereiches,
worin ihn die Eigentümlichkeit seines Geistes gefangen hielt. Seine häusliche
und Schulerziehung war pietistisch gewesen. Aus den vielfachsten Erfahrungen
ist bekannt, daß sinnliche Reizbarkeit und Hang zu unklaren Mystizismus in
weichen oder zur Weichlichkeit neigenden Seelen sich nicht selten innig vermischen.
Die Übergänge Wielands von mystisch-empfindsamer zu sinnlich-lüsterner Dar-
stellungsweise, und umgekehrt, bieten deshalb auch kaum einen Grund zur Ver¬
wunderung. Eher könnte man sich wundern, daß Bodmer, der sich als Ersatz
für den ungetreuen Klopstock einen andern frommen Sänger zum Hausgenossen
wünschte, die deutlichen Spuren des künftigen Wieland, die sich schon in dessen
ersten Gedichten verrieten, trotz vorsichtiger Prüfung dennoch verkennen konnte.
Da war der Berliner Nicolai klüger, wenn er urteilte: „Wielands Muse ist
ein junges Mädchen, das auch, wie die Bodmerische, die Betschwester spielen
will, und, der alten Witwe zu gefallen, sich in ein altväterisches Käppchen ein¬
hüllt, was ihr gleichwohl nicht kleidet. Sie bemüht sich, eine verständige, er¬
fahrene Miene anzunehmen, unter der ihre jugendliche Unbedachtsamkeit nur zu
sehr hervorleuchtet, und es wäre ein merkwürdiges Schauspiel, wenn diese junge
Frömmigkeitslchrerin sich wieder in eine muntere Modeschönheit verwandelte."

In der That sind die scheinbaren Widersprüche in Wielands Leben und
Dichten auf das Vorwiege» äußerer Einflüsse in diesem oder jenem Sinne
zurückzuführen. Im Grnndwescntlichen seiner Weltanschauung ist er sich immer
gleich und immer treu geblieben. Sein vorsichtiger Skeptizismus in meta¬
physischen Fragen überhaupt, sein Festhalten am theistischer Gottesbegriff und
an einem relativen Optimismus geben sich schon in Versen kund, die er als
achtzehnjähriger Jüngling geschrieben hat in dem Lehrgedicht über die „Natur
der Dinge" I, 151:


Die Welt, die meinem Blick kaum ihre Schale weist,
Erhält sich durch die Macht von einem höchsten Geist;
Sie ist zu schlecht, in sich die Wirklichkeit zu finden,
Zu schön, von ungefähr sich aus dein Nichts zu winden.

Einige Zeilen weiter giebt der Dichter sein bleibendes moralisches Glaubens¬
bekenntnis kurz und bündig:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201959"/>
          <fw type="header" place="top"> ZVieland und das Humanita'tsideal.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1393" prev="#ID_1392"> Reize des geschlechtlichen Verhältnisses, welche seiner ganzen Empfindungs- und<lb/>
Anschauungsweise die Färbung gaben. Doch begnügte er sich zumeist mit dem<lb/>
Genusse in der Phantasie. Die Fährlichkeiten, welche mit dem dreisten Zu¬<lb/>
greifen eines Don Juan verbunden sind, waren nicht nach seinem Geschmack.<lb/>
Zart und doch zäh; altklug, aber stets bereit, sich in jede seinem Naturell zu¬<lb/>
sagende Denk- und Darstellungsform rasch und leicht hineinzufinden; sobald<lb/>
er frei aufzuatmen wagte, voll von Geist und schalkhafter Laune; beseelt von<lb/>
einem rastlosen Triebe zur Betrachtung und Erörterung aller möglichen moral¬<lb/>
philosophischen, psychologischen und gesellschaftlichen Probleme &#x2014; so war er<lb/>
ganz geeignet, ein schriftstellerischer Proteus zu werden innerhalb des Bereiches,<lb/>
worin ihn die Eigentümlichkeit seines Geistes gefangen hielt. Seine häusliche<lb/>
und Schulerziehung war pietistisch gewesen. Aus den vielfachsten Erfahrungen<lb/>
ist bekannt, daß sinnliche Reizbarkeit und Hang zu unklaren Mystizismus in<lb/>
weichen oder zur Weichlichkeit neigenden Seelen sich nicht selten innig vermischen.<lb/>
Die Übergänge Wielands von mystisch-empfindsamer zu sinnlich-lüsterner Dar-<lb/>
stellungsweise, und umgekehrt, bieten deshalb auch kaum einen Grund zur Ver¬<lb/>
wunderung. Eher könnte man sich wundern, daß Bodmer, der sich als Ersatz<lb/>
für den ungetreuen Klopstock einen andern frommen Sänger zum Hausgenossen<lb/>
wünschte, die deutlichen Spuren des künftigen Wieland, die sich schon in dessen<lb/>
ersten Gedichten verrieten, trotz vorsichtiger Prüfung dennoch verkennen konnte.<lb/>
Da war der Berliner Nicolai klüger, wenn er urteilte: &#x201E;Wielands Muse ist<lb/>
ein junges Mädchen, das auch, wie die Bodmerische, die Betschwester spielen<lb/>
will, und, der alten Witwe zu gefallen, sich in ein altväterisches Käppchen ein¬<lb/>
hüllt, was ihr gleichwohl nicht kleidet. Sie bemüht sich, eine verständige, er¬<lb/>
fahrene Miene anzunehmen, unter der ihre jugendliche Unbedachtsamkeit nur zu<lb/>
sehr hervorleuchtet, und es wäre ein merkwürdiges Schauspiel, wenn diese junge<lb/>
Frömmigkeitslchrerin sich wieder in eine muntere Modeschönheit verwandelte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1394"> In der That sind die scheinbaren Widersprüche in Wielands Leben und<lb/>
Dichten auf das Vorwiege» äußerer Einflüsse in diesem oder jenem Sinne<lb/>
zurückzuführen. Im Grnndwescntlichen seiner Weltanschauung ist er sich immer<lb/>
gleich und immer treu geblieben. Sein vorsichtiger Skeptizismus in meta¬<lb/>
physischen Fragen überhaupt, sein Festhalten am theistischer Gottesbegriff und<lb/>
an einem relativen Optimismus geben sich schon in Versen kund, die er als<lb/>
achtzehnjähriger Jüngling geschrieben hat in dem Lehrgedicht über die &#x201E;Natur<lb/>
der Dinge" I, 151:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_113" type="poem">
              <l> Die Welt, die meinem Blick kaum ihre Schale weist,<lb/>
Erhält sich durch die Macht von einem höchsten Geist;<lb/>
Sie ist zu schlecht, in sich die Wirklichkeit zu finden,<lb/>
Zu schön, von ungefähr sich aus dein Nichts zu winden.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1395"> Einige Zeilen weiter giebt der Dichter sein bleibendes moralisches Glaubens¬<lb/>
bekenntnis kurz und bündig:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0530] ZVieland und das Humanita'tsideal. Reize des geschlechtlichen Verhältnisses, welche seiner ganzen Empfindungs- und Anschauungsweise die Färbung gaben. Doch begnügte er sich zumeist mit dem Genusse in der Phantasie. Die Fährlichkeiten, welche mit dem dreisten Zu¬ greifen eines Don Juan verbunden sind, waren nicht nach seinem Geschmack. Zart und doch zäh; altklug, aber stets bereit, sich in jede seinem Naturell zu¬ sagende Denk- und Darstellungsform rasch und leicht hineinzufinden; sobald er frei aufzuatmen wagte, voll von Geist und schalkhafter Laune; beseelt von einem rastlosen Triebe zur Betrachtung und Erörterung aller möglichen moral¬ philosophischen, psychologischen und gesellschaftlichen Probleme — so war er ganz geeignet, ein schriftstellerischer Proteus zu werden innerhalb des Bereiches, worin ihn die Eigentümlichkeit seines Geistes gefangen hielt. Seine häusliche und Schulerziehung war pietistisch gewesen. Aus den vielfachsten Erfahrungen ist bekannt, daß sinnliche Reizbarkeit und Hang zu unklaren Mystizismus in weichen oder zur Weichlichkeit neigenden Seelen sich nicht selten innig vermischen. Die Übergänge Wielands von mystisch-empfindsamer zu sinnlich-lüsterner Dar- stellungsweise, und umgekehrt, bieten deshalb auch kaum einen Grund zur Ver¬ wunderung. Eher könnte man sich wundern, daß Bodmer, der sich als Ersatz für den ungetreuen Klopstock einen andern frommen Sänger zum Hausgenossen wünschte, die deutlichen Spuren des künftigen Wieland, die sich schon in dessen ersten Gedichten verrieten, trotz vorsichtiger Prüfung dennoch verkennen konnte. Da war der Berliner Nicolai klüger, wenn er urteilte: „Wielands Muse ist ein junges Mädchen, das auch, wie die Bodmerische, die Betschwester spielen will, und, der alten Witwe zu gefallen, sich in ein altväterisches Käppchen ein¬ hüllt, was ihr gleichwohl nicht kleidet. Sie bemüht sich, eine verständige, er¬ fahrene Miene anzunehmen, unter der ihre jugendliche Unbedachtsamkeit nur zu sehr hervorleuchtet, und es wäre ein merkwürdiges Schauspiel, wenn diese junge Frömmigkeitslchrerin sich wieder in eine muntere Modeschönheit verwandelte." In der That sind die scheinbaren Widersprüche in Wielands Leben und Dichten auf das Vorwiege» äußerer Einflüsse in diesem oder jenem Sinne zurückzuführen. Im Grnndwescntlichen seiner Weltanschauung ist er sich immer gleich und immer treu geblieben. Sein vorsichtiger Skeptizismus in meta¬ physischen Fragen überhaupt, sein Festhalten am theistischer Gottesbegriff und an einem relativen Optimismus geben sich schon in Versen kund, die er als achtzehnjähriger Jüngling geschrieben hat in dem Lehrgedicht über die „Natur der Dinge" I, 151: Die Welt, die meinem Blick kaum ihre Schale weist, Erhält sich durch die Macht von einem höchsten Geist; Sie ist zu schlecht, in sich die Wirklichkeit zu finden, Zu schön, von ungefähr sich aus dein Nichts zu winden. Einige Zeilen weiter giebt der Dichter sein bleibendes moralisches Glaubens¬ bekenntnis kurz und bündig:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/530
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/530>, abgerufen am 25.08.2024.