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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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frage kein Kabinet bilden. Bald darauf hatte Grevy eine zweite Unterredung
mit Clemencecm, der die frühern Minister Freycinet und Goblct, sowie der
Kammerpräsident Floquet beiwohnten und in der alle vier Notabilitäten
Grevy die Notwendigkeit seines Rücktrittes darlegten. Tags darauf beriet er
sich mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Brisson. der ihn zunächst daran
erinnerte, daß er in der Gruppe der "Unabhängigen" die Ansicht vertreten habe,
niemand sei befugt, den Präsidenten der Republik zum Aufgeben seines Amtes auf¬
zufordern, und dann hinzufügte, dieser Ansicht huldige er noch jetzt, aber die
Bildung eines Kabinets müsse er abschlagen. In seiner Verlegenheit wandte sich
der bedauernswerte alte Herr an den Senator Leroyer um Beistand, der aber
sich gleichfalls weigerte, zu helfen. Dagegen fand sich später Ribot dazu geneigt.
Die gegenwärtige Lage wird für den richtigen Pariser ohne Zweifel ihre Reize
haben. Der Versuch, den Präsidenten der Republik zum Rücktritt zu zwingen,
schmeckt einigermaßen nach Revolution. Als Frankreich 1871 bis 1873 ohne
formelle Negierung war, sagte ein Pariser Witzbold: "Wir müssen eine Ver¬
fassung haben, um uns gegen sie verschwören zu können." Ein Ministerium
zu stürzen ist bei der Herrschaft des Parlamentarismus kein großes Kunststück.
Unter der Präsidentschaft Grevys. d. h. seit dem 30. Januar 1879. haben sich
nicht weniger als zwölf Ministerien einander abgelöst (Waddington, Freycinet,
Ferry. Gambetta, Freycinet abermals, Duclere, Fallieres, Ferry zum zweiten
male, Brisson, Freycinet zum dritten male, Goblet und Rouvier). Die durch¬
schnittliche Dauer dieser Kabinette betrug ungefähr neun Monate, das längste
war das zweite Ferrysche, es lebte sechsundzwanzig Monate, das kürzeste,
welches kaum drei Wochen bestand, hatte Fallieres zum Vorsitzenden, das¬
jenige Gambettas erhielt sich auch nicht lange auf den Beinen, nämlich etwa sechs
Wochen. Das Ganze nimmt sich wie eine Art Kegelschieben aus. Aber das
Vergnügen, mit der parlamentarischen Kegelkugel einen Präsidenten der Republik
umzuwerfen, ist schöner, es hat all das Interesse für sich, das sich bei dem Pariser
an neue, sensationelle und verfassungswidrige Dinge knüpft. Die Verfassung ge¬
stattet Herrn Grevy mit aller Bestimmtheit, noch fünf Jahre ans dem Stuhle des
Staatsoberhauptes zu sitzen, es giebt kein gesetzliches Mittel, ihn davon zu
vertreiben, nur Hochverrat gäbe einen Grund dafür, und den hat er nicht
begangen; deshalb hat es aber nur mehr Anziehendes, ihn zum Rücktritte zu
drängen, weil er einen unsaubern Schwiegersohn zu besitzen das Unglück hat.
Es hat eben einen Zauber, sich an Regel und Gesetz nicht zu kehren. Jetzt
ist es uur ein persönlicher Druck und wird in mehr oder minder freundschaft¬
licher Weise von Leuten betrieben, welche einst Minister des Präsidenten waren,
daneben von Clemenceau, der Minister werden sollte; aber es sind Anzeichen
vorhanden, die auf die Möglichkeit deuten, daß die steigende Flut jeden Tag
in der Kammer oder außerhalb derselben zu gewaltthätigen Kundgebungen
führt. Je mehr diese einer Revolution ähneln werden, desto willkommener


frage kein Kabinet bilden. Bald darauf hatte Grevy eine zweite Unterredung
mit Clemencecm, der die frühern Minister Freycinet und Goblct, sowie der
Kammerpräsident Floquet beiwohnten und in der alle vier Notabilitäten
Grevy die Notwendigkeit seines Rücktrittes darlegten. Tags darauf beriet er
sich mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Brisson. der ihn zunächst daran
erinnerte, daß er in der Gruppe der „Unabhängigen" die Ansicht vertreten habe,
niemand sei befugt, den Präsidenten der Republik zum Aufgeben seines Amtes auf¬
zufordern, und dann hinzufügte, dieser Ansicht huldige er noch jetzt, aber die
Bildung eines Kabinets müsse er abschlagen. In seiner Verlegenheit wandte sich
der bedauernswerte alte Herr an den Senator Leroyer um Beistand, der aber
sich gleichfalls weigerte, zu helfen. Dagegen fand sich später Ribot dazu geneigt.
Die gegenwärtige Lage wird für den richtigen Pariser ohne Zweifel ihre Reize
haben. Der Versuch, den Präsidenten der Republik zum Rücktritt zu zwingen,
schmeckt einigermaßen nach Revolution. Als Frankreich 1871 bis 1873 ohne
formelle Negierung war, sagte ein Pariser Witzbold: „Wir müssen eine Ver¬
fassung haben, um uns gegen sie verschwören zu können." Ein Ministerium
zu stürzen ist bei der Herrschaft des Parlamentarismus kein großes Kunststück.
Unter der Präsidentschaft Grevys. d. h. seit dem 30. Januar 1879. haben sich
nicht weniger als zwölf Ministerien einander abgelöst (Waddington, Freycinet,
Ferry. Gambetta, Freycinet abermals, Duclere, Fallieres, Ferry zum zweiten
male, Brisson, Freycinet zum dritten male, Goblet und Rouvier). Die durch¬
schnittliche Dauer dieser Kabinette betrug ungefähr neun Monate, das längste
war das zweite Ferrysche, es lebte sechsundzwanzig Monate, das kürzeste,
welches kaum drei Wochen bestand, hatte Fallieres zum Vorsitzenden, das¬
jenige Gambettas erhielt sich auch nicht lange auf den Beinen, nämlich etwa sechs
Wochen. Das Ganze nimmt sich wie eine Art Kegelschieben aus. Aber das
Vergnügen, mit der parlamentarischen Kegelkugel einen Präsidenten der Republik
umzuwerfen, ist schöner, es hat all das Interesse für sich, das sich bei dem Pariser
an neue, sensationelle und verfassungswidrige Dinge knüpft. Die Verfassung ge¬
stattet Herrn Grevy mit aller Bestimmtheit, noch fünf Jahre ans dem Stuhle des
Staatsoberhauptes zu sitzen, es giebt kein gesetzliches Mittel, ihn davon zu
vertreiben, nur Hochverrat gäbe einen Grund dafür, und den hat er nicht
begangen; deshalb hat es aber nur mehr Anziehendes, ihn zum Rücktritte zu
drängen, weil er einen unsaubern Schwiegersohn zu besitzen das Unglück hat.
Es hat eben einen Zauber, sich an Regel und Gesetz nicht zu kehren. Jetzt
ist es uur ein persönlicher Druck und wird in mehr oder minder freundschaft¬
licher Weise von Leuten betrieben, welche einst Minister des Präsidenten waren,
daneben von Clemenceau, der Minister werden sollte; aber es sind Anzeichen
vorhanden, die auf die Möglichkeit deuten, daß die steigende Flut jeden Tag
in der Kammer oder außerhalb derselben zu gewaltthätigen Kundgebungen
führt. Je mehr diese einer Revolution ähneln werden, desto willkommener


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/468>, abgerufen am 04.07.2024.