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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Krisis in Paris.

werden sie der öffentlichen Meinung von Paris sein, in welcher die Erinnerung
an eine fast hundertjährige Reihenfolge von Verfassungsstürzenden Aufstünden
und Staatsstreichen wie eine Erbschaft lebt und arbeitet. Die Söhne derer,
die für oder gegen die Kommune fochten, beginnen sich jetzt am öffentlichen
Leben zu beteiligen. Ihre Väter erbten ihren unruhigen Geist von den Auf¬
ständischen von 1843. Diese wieder stammten von den "Helden" der Julitage
von 1830, und die Leute, welche Karl den Zehnten vertrieben, waren Söhne
der Königsmörder, welche Ludwig den Sechzehnten und Marie Antoinette aufs
Schaffst sandten. Die Revolutionssucht sitzt im Charakter der Pariser wie
die Erbsünde. Von ihrem Stadthause wurde der Fall von drei Königen und
zwei Kaisern ausgerufen, und jeder Tag kann jetzt sehen, wie ein Pöbelhaufe
das Verschwinden eines Präsidenten erzwingt und bejubelt. Die Munizipalität
hat sich bereits für eine Krisis vorgesehen, indem sie einen Wohlfahrtsausschuß
gebildet hat, der aus den alten Kommunarden, welche in der Körperschaft die
Mehrheit ausmachen, und aus acht Mitgliedern der äußersten Linken in
der Deputirtenkammer besteht. Er hat Befehl, "sich bereit zu halten zur
Organisation der Streitkräfte der republikanischen Partei für alle Fälle." Das
sind Sturmvögel am Gesichtskreise, welche eine Katastrophe befürchten lassen,
die, wenn sie ausbricht und mit dem Siege der Roten endigt, die Wieder¬
aufrichtung der Kommune oder doch die Bildung einer neuen, noch demokra¬
tischeren Republik zur Folge haben wird. Das sind Möglichkeiten sehr ernster
Natur in einer Zeit, wo Frankreich die persönliche Achtung vor seinem Prä¬
sidenten verloren hat und nur auf die Dienste eines Ministeriums von der Art
der Eintagsfliegen rechnen kann.

Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß es in Frankreich seit 1789 nur
eine einzige gesetzmäßige Negierungsfolge gegeben hat. Ludwig der Achtzehnte
starb ruhig in seinem Bette und hatte seinen Bruder Karl den Zehnten zum
Nachfolger, der sich aber der Krone nicht lange erfreute und in einer Revo¬
lution verschwand. Ludwig ist die einzige Ausnahme von der traurigen Regel.
Die Männer, die im Jahrzehnt von 1789 bis 1799 herrschten, verloren ihre
Macht allesamt durch Gewaltthat. Der König starb unter der Guillotine,
Robespierre desgleichen, das Direktorium wurde von Bonaparte mit Bajonetten
verjagt. Napoleon der Erste verschied auf Sankt Helena ohne Thronerben,
Ludwig Philipp in der englischen Verbannung gleichermaßen. Die Republik
von 1848 ging im Blutvergießen des 2. Dezember unter, Napoleon der Dritte
in der Niederlage bei Sedan. Thiers wurde durch eine Abstimmung in den
Kammern zu plötzlicher Amtsniederlegung genötigt, Macmahon, der ihm auf
dem Präsidentenstuhle folgte, mußte sich vor Ablauf seines Septennats eben¬
falls ins Privatleben zurückziehen. Jetzt ist an Grevy die Reihe: er soll sein
zweites Septennat unvollendet lassen und einem Drucke weichen, der moralisch
zu entschuldigen ist, sich aber nicht mit der Verfassung rechtfertigen läßt. Und


Die Krisis in Paris.

werden sie der öffentlichen Meinung von Paris sein, in welcher die Erinnerung
an eine fast hundertjährige Reihenfolge von Verfassungsstürzenden Aufstünden
und Staatsstreichen wie eine Erbschaft lebt und arbeitet. Die Söhne derer,
die für oder gegen die Kommune fochten, beginnen sich jetzt am öffentlichen
Leben zu beteiligen. Ihre Väter erbten ihren unruhigen Geist von den Auf¬
ständischen von 1843. Diese wieder stammten von den „Helden" der Julitage
von 1830, und die Leute, welche Karl den Zehnten vertrieben, waren Söhne
der Königsmörder, welche Ludwig den Sechzehnten und Marie Antoinette aufs
Schaffst sandten. Die Revolutionssucht sitzt im Charakter der Pariser wie
die Erbsünde. Von ihrem Stadthause wurde der Fall von drei Königen und
zwei Kaisern ausgerufen, und jeder Tag kann jetzt sehen, wie ein Pöbelhaufe
das Verschwinden eines Präsidenten erzwingt und bejubelt. Die Munizipalität
hat sich bereits für eine Krisis vorgesehen, indem sie einen Wohlfahrtsausschuß
gebildet hat, der aus den alten Kommunarden, welche in der Körperschaft die
Mehrheit ausmachen, und aus acht Mitgliedern der äußersten Linken in
der Deputirtenkammer besteht. Er hat Befehl, „sich bereit zu halten zur
Organisation der Streitkräfte der republikanischen Partei für alle Fälle." Das
sind Sturmvögel am Gesichtskreise, welche eine Katastrophe befürchten lassen,
die, wenn sie ausbricht und mit dem Siege der Roten endigt, die Wieder¬
aufrichtung der Kommune oder doch die Bildung einer neuen, noch demokra¬
tischeren Republik zur Folge haben wird. Das sind Möglichkeiten sehr ernster
Natur in einer Zeit, wo Frankreich die persönliche Achtung vor seinem Prä¬
sidenten verloren hat und nur auf die Dienste eines Ministeriums von der Art
der Eintagsfliegen rechnen kann.

Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß es in Frankreich seit 1789 nur
eine einzige gesetzmäßige Negierungsfolge gegeben hat. Ludwig der Achtzehnte
starb ruhig in seinem Bette und hatte seinen Bruder Karl den Zehnten zum
Nachfolger, der sich aber der Krone nicht lange erfreute und in einer Revo¬
lution verschwand. Ludwig ist die einzige Ausnahme von der traurigen Regel.
Die Männer, die im Jahrzehnt von 1789 bis 1799 herrschten, verloren ihre
Macht allesamt durch Gewaltthat. Der König starb unter der Guillotine,
Robespierre desgleichen, das Direktorium wurde von Bonaparte mit Bajonetten
verjagt. Napoleon der Erste verschied auf Sankt Helena ohne Thronerben,
Ludwig Philipp in der englischen Verbannung gleichermaßen. Die Republik
von 1848 ging im Blutvergießen des 2. Dezember unter, Napoleon der Dritte
in der Niederlage bei Sedan. Thiers wurde durch eine Abstimmung in den
Kammern zu plötzlicher Amtsniederlegung genötigt, Macmahon, der ihm auf
dem Präsidentenstuhle folgte, mußte sich vor Ablauf seines Septennats eben¬
falls ins Privatleben zurückziehen. Jetzt ist an Grevy die Reihe: er soll sein
zweites Septennat unvollendet lassen und einem Drucke weichen, der moralisch
zu entschuldigen ist, sich aber nicht mit der Verfassung rechtfertigen läßt. Und


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[0469] Die Krisis in Paris. werden sie der öffentlichen Meinung von Paris sein, in welcher die Erinnerung an eine fast hundertjährige Reihenfolge von Verfassungsstürzenden Aufstünden und Staatsstreichen wie eine Erbschaft lebt und arbeitet. Die Söhne derer, die für oder gegen die Kommune fochten, beginnen sich jetzt am öffentlichen Leben zu beteiligen. Ihre Väter erbten ihren unruhigen Geist von den Auf¬ ständischen von 1843. Diese wieder stammten von den „Helden" der Julitage von 1830, und die Leute, welche Karl den Zehnten vertrieben, waren Söhne der Königsmörder, welche Ludwig den Sechzehnten und Marie Antoinette aufs Schaffst sandten. Die Revolutionssucht sitzt im Charakter der Pariser wie die Erbsünde. Von ihrem Stadthause wurde der Fall von drei Königen und zwei Kaisern ausgerufen, und jeder Tag kann jetzt sehen, wie ein Pöbelhaufe das Verschwinden eines Präsidenten erzwingt und bejubelt. Die Munizipalität hat sich bereits für eine Krisis vorgesehen, indem sie einen Wohlfahrtsausschuß gebildet hat, der aus den alten Kommunarden, welche in der Körperschaft die Mehrheit ausmachen, und aus acht Mitgliedern der äußersten Linken in der Deputirtenkammer besteht. Er hat Befehl, „sich bereit zu halten zur Organisation der Streitkräfte der republikanischen Partei für alle Fälle." Das sind Sturmvögel am Gesichtskreise, welche eine Katastrophe befürchten lassen, die, wenn sie ausbricht und mit dem Siege der Roten endigt, die Wieder¬ aufrichtung der Kommune oder doch die Bildung einer neuen, noch demokra¬ tischeren Republik zur Folge haben wird. Das sind Möglichkeiten sehr ernster Natur in einer Zeit, wo Frankreich die persönliche Achtung vor seinem Prä¬ sidenten verloren hat und nur auf die Dienste eines Ministeriums von der Art der Eintagsfliegen rechnen kann. Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß es in Frankreich seit 1789 nur eine einzige gesetzmäßige Negierungsfolge gegeben hat. Ludwig der Achtzehnte starb ruhig in seinem Bette und hatte seinen Bruder Karl den Zehnten zum Nachfolger, der sich aber der Krone nicht lange erfreute und in einer Revo¬ lution verschwand. Ludwig ist die einzige Ausnahme von der traurigen Regel. Die Männer, die im Jahrzehnt von 1789 bis 1799 herrschten, verloren ihre Macht allesamt durch Gewaltthat. Der König starb unter der Guillotine, Robespierre desgleichen, das Direktorium wurde von Bonaparte mit Bajonetten verjagt. Napoleon der Erste verschied auf Sankt Helena ohne Thronerben, Ludwig Philipp in der englischen Verbannung gleichermaßen. Die Republik von 1848 ging im Blutvergießen des 2. Dezember unter, Napoleon der Dritte in der Niederlage bei Sedan. Thiers wurde durch eine Abstimmung in den Kammern zu plötzlicher Amtsniederlegung genötigt, Macmahon, der ihm auf dem Präsidentenstuhle folgte, mußte sich vor Ablauf seines Septennats eben¬ falls ins Privatleben zurückziehen. Jetzt ist an Grevy die Reihe: er soll sein zweites Septennat unvollendet lassen und einem Drucke weichen, der moralisch zu entschuldigen ist, sich aber nicht mit der Verfassung rechtfertigen läßt. Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/469>, abgerufen am 24.07.2024.