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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Meinung vor dem Erscheinen von Hegels erstem größeren Werke an den damals
noch eng verbundenen Jugendfreund. Der im Vollbesitz des Verkehrs mit
Schiller mehr als jemals exklusive Goethe sehnt sich schon 1803 nach den
"interessanten Unterhaltungen" des Jenenser Privatdozenten; unter dem Geschütz¬
donner der Schlacht bei Jena wurde bekanntlich sein Hauptwerk, die "Phäno-
menologie des Geistes," vollendet. Er selbst Pflegte später mit bedeutungsvollen
Scherze auf das Zeitbezüglichc, Prophetische darin (gelegentlich des Sturzes
Napoleons!) hinzuweisen. Es dürfte schwer sein, nnter den damaligen furcht¬
baren Verhältnissen, in dem das ganze Sein und, was für den Philosophen
schlimmer, die ganze Arbeit, der Ertrag des Lebens, vernichtet zu werden drohte,
ruhigere, klarere, haltungsvollere Briefe zu schreiben.

Dieser Eindruck des Fertigen, von vornherein Abgeschlossenen, welcher einen
solchen Gegensatz bildet gegen das sonst in den berühmten Briefwechseln so nackt
hervortretende ewige Werden alles Menschlichen, wird in diesen Briefen (jetzt
zugleich der vollständigsten Lebensbeschreibung) Hegels erhöht dnrch die auf¬
fallend geringe Ausbeute, welche sie über Jugend, Familie und Bildungsgang
des Philosophen gewähren. Wie fordert hier gerade wieder der von weitem
Familienanhang vergötterte, von Vater und Mutter verhätschelte und mit Liebes¬
gaben überschüttete Schelling zum Vergleiche heraus! Hegel steht ganz allein.
Hätte der in den nächsten menschlichen Beziehungen zu ihm befindliche Heraus¬
geber nicht die bekannten biographischen Daten vorausgeschickt, aus diesen Briefen
würde man nichts darüber entnehmen können. Eine Schwester, Christiane, taucht
in später Zeit, als Hegel selbst sich noch spät eine Familie gegründet hatte,
einmal als Pate flüchtig auf. Aber auch da erst fällt es dem Leser ans, daß
er bis dahin so gar nichts von Hegels Familie gehört hat. Diese Beziehungs-
losigkeit, diese sozusagen auch persönliche Abstraktheit stimmt so genau zu Hegels
Wesen, daß nur das Gegenteil auffällig wäre. Ist doch auch in seinen Werken
diese Abgezogenheit von allen weltlichen Einzelheiten, am deutlichsten ausgeprägt
in dem oft geradezu absichtlichen Umgehen sinnlicher und geschichtlicher Erklä¬
rungen, eine unter allen Philosophien hervorstechende Eigentümlichkeit, welche nicht
zum geringsten die Schwierigkeit ihres Studiums und Verständnisses verschuldet.
Einen Jngendbrief hat der glückliche Zufall erhalten, aber es ist kein Familieu-
brief, sondern er ist an eine" Schulfreund gerichtet und betrifft keine persön¬
lichen Angelegenheiten, nicht einmal die dem jungen Geiste um diese Zeit oft
so komisch wichtigen Verhältnisse der Schule, sondern rein geistige, naturwissen¬
schaftliche und literarische Gegenstände. Wie er die Handschrift des vierzehn¬
jährigen Gymnasiasten bereits vollkommen ausgebildet zeigt, so in den Grund¬
zügen, wie es scheint, auch seinen Geist. "Mathematikhausen" ist der Brief
überschriebe", eine Beziehung, über die man sich vergeblich erkundigt hat. Wie
bedeutsam leitet er die Sammlung ein!

Die spätere, ungeahnt glänzende Entfaltung seiner äußern Lebensverhältnisse,


Meinung vor dem Erscheinen von Hegels erstem größeren Werke an den damals
noch eng verbundenen Jugendfreund. Der im Vollbesitz des Verkehrs mit
Schiller mehr als jemals exklusive Goethe sehnt sich schon 1803 nach den
„interessanten Unterhaltungen" des Jenenser Privatdozenten; unter dem Geschütz¬
donner der Schlacht bei Jena wurde bekanntlich sein Hauptwerk, die „Phäno-
menologie des Geistes," vollendet. Er selbst Pflegte später mit bedeutungsvollen
Scherze auf das Zeitbezüglichc, Prophetische darin (gelegentlich des Sturzes
Napoleons!) hinzuweisen. Es dürfte schwer sein, nnter den damaligen furcht¬
baren Verhältnissen, in dem das ganze Sein und, was für den Philosophen
schlimmer, die ganze Arbeit, der Ertrag des Lebens, vernichtet zu werden drohte,
ruhigere, klarere, haltungsvollere Briefe zu schreiben.

Dieser Eindruck des Fertigen, von vornherein Abgeschlossenen, welcher einen
solchen Gegensatz bildet gegen das sonst in den berühmten Briefwechseln so nackt
hervortretende ewige Werden alles Menschlichen, wird in diesen Briefen (jetzt
zugleich der vollständigsten Lebensbeschreibung) Hegels erhöht dnrch die auf¬
fallend geringe Ausbeute, welche sie über Jugend, Familie und Bildungsgang
des Philosophen gewähren. Wie fordert hier gerade wieder der von weitem
Familienanhang vergötterte, von Vater und Mutter verhätschelte und mit Liebes¬
gaben überschüttete Schelling zum Vergleiche heraus! Hegel steht ganz allein.
Hätte der in den nächsten menschlichen Beziehungen zu ihm befindliche Heraus¬
geber nicht die bekannten biographischen Daten vorausgeschickt, aus diesen Briefen
würde man nichts darüber entnehmen können. Eine Schwester, Christiane, taucht
in später Zeit, als Hegel selbst sich noch spät eine Familie gegründet hatte,
einmal als Pate flüchtig auf. Aber auch da erst fällt es dem Leser ans, daß
er bis dahin so gar nichts von Hegels Familie gehört hat. Diese Beziehungs-
losigkeit, diese sozusagen auch persönliche Abstraktheit stimmt so genau zu Hegels
Wesen, daß nur das Gegenteil auffällig wäre. Ist doch auch in seinen Werken
diese Abgezogenheit von allen weltlichen Einzelheiten, am deutlichsten ausgeprägt
in dem oft geradezu absichtlichen Umgehen sinnlicher und geschichtlicher Erklä¬
rungen, eine unter allen Philosophien hervorstechende Eigentümlichkeit, welche nicht
zum geringsten die Schwierigkeit ihres Studiums und Verständnisses verschuldet.
Einen Jngendbrief hat der glückliche Zufall erhalten, aber es ist kein Familieu-
brief, sondern er ist an eine» Schulfreund gerichtet und betrifft keine persön¬
lichen Angelegenheiten, nicht einmal die dem jungen Geiste um diese Zeit oft
so komisch wichtigen Verhältnisse der Schule, sondern rein geistige, naturwissen¬
schaftliche und literarische Gegenstände. Wie er die Handschrift des vierzehn¬
jährigen Gymnasiasten bereits vollkommen ausgebildet zeigt, so in den Grund¬
zügen, wie es scheint, auch seinen Geist. „Mathematikhausen" ist der Brief
überschriebe», eine Beziehung, über die man sich vergeblich erkundigt hat. Wie
bedeutsam leitet er die Sammlung ein!

Die spätere, ungeahnt glänzende Entfaltung seiner äußern Lebensverhältnisse,


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[0037] Meinung vor dem Erscheinen von Hegels erstem größeren Werke an den damals noch eng verbundenen Jugendfreund. Der im Vollbesitz des Verkehrs mit Schiller mehr als jemals exklusive Goethe sehnt sich schon 1803 nach den „interessanten Unterhaltungen" des Jenenser Privatdozenten; unter dem Geschütz¬ donner der Schlacht bei Jena wurde bekanntlich sein Hauptwerk, die „Phäno- menologie des Geistes," vollendet. Er selbst Pflegte später mit bedeutungsvollen Scherze auf das Zeitbezüglichc, Prophetische darin (gelegentlich des Sturzes Napoleons!) hinzuweisen. Es dürfte schwer sein, nnter den damaligen furcht¬ baren Verhältnissen, in dem das ganze Sein und, was für den Philosophen schlimmer, die ganze Arbeit, der Ertrag des Lebens, vernichtet zu werden drohte, ruhigere, klarere, haltungsvollere Briefe zu schreiben. Dieser Eindruck des Fertigen, von vornherein Abgeschlossenen, welcher einen solchen Gegensatz bildet gegen das sonst in den berühmten Briefwechseln so nackt hervortretende ewige Werden alles Menschlichen, wird in diesen Briefen (jetzt zugleich der vollständigsten Lebensbeschreibung) Hegels erhöht dnrch die auf¬ fallend geringe Ausbeute, welche sie über Jugend, Familie und Bildungsgang des Philosophen gewähren. Wie fordert hier gerade wieder der von weitem Familienanhang vergötterte, von Vater und Mutter verhätschelte und mit Liebes¬ gaben überschüttete Schelling zum Vergleiche heraus! Hegel steht ganz allein. Hätte der in den nächsten menschlichen Beziehungen zu ihm befindliche Heraus¬ geber nicht die bekannten biographischen Daten vorausgeschickt, aus diesen Briefen würde man nichts darüber entnehmen können. Eine Schwester, Christiane, taucht in später Zeit, als Hegel selbst sich noch spät eine Familie gegründet hatte, einmal als Pate flüchtig auf. Aber auch da erst fällt es dem Leser ans, daß er bis dahin so gar nichts von Hegels Familie gehört hat. Diese Beziehungs- losigkeit, diese sozusagen auch persönliche Abstraktheit stimmt so genau zu Hegels Wesen, daß nur das Gegenteil auffällig wäre. Ist doch auch in seinen Werken diese Abgezogenheit von allen weltlichen Einzelheiten, am deutlichsten ausgeprägt in dem oft geradezu absichtlichen Umgehen sinnlicher und geschichtlicher Erklä¬ rungen, eine unter allen Philosophien hervorstechende Eigentümlichkeit, welche nicht zum geringsten die Schwierigkeit ihres Studiums und Verständnisses verschuldet. Einen Jngendbrief hat der glückliche Zufall erhalten, aber es ist kein Familieu- brief, sondern er ist an eine» Schulfreund gerichtet und betrifft keine persön¬ lichen Angelegenheiten, nicht einmal die dem jungen Geiste um diese Zeit oft so komisch wichtigen Verhältnisse der Schule, sondern rein geistige, naturwissen¬ schaftliche und literarische Gegenstände. Wie er die Handschrift des vierzehn¬ jährigen Gymnasiasten bereits vollkommen ausgebildet zeigt, so in den Grund¬ zügen, wie es scheint, auch seinen Geist. „Mathematikhausen" ist der Brief überschriebe», eine Beziehung, über die man sich vergeblich erkundigt hat. Wie bedeutsam leitet er die Sammlung ein! Die spätere, ungeahnt glänzende Entfaltung seiner äußern Lebensverhältnisse,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/37>, abgerufen am 04.07.2024.