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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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"bersten Gerichtshofes die erforderliche Hilfe und Unterstützung zu suchen, ent¬
fremdet dem Richter die wissenschaftliche Literatur, löst den Zusammenhang, der
zwischen der Praxis und der Theorie bestehe" soll und muß, läßt die-erstere
die wertvollsten Hilfsmittel bei Losung der ihr obliegenden Aufgaben übersehen
und führt schließlich dazu, daß die Rechtspflege immer weniger die doch mit
vollstem Recht an sie gestellten Ansprüche zu befriedigen vermag. Der wissen¬
schaftlich gebildete Richter soll und muß sich von der unfreien Nachbetung vberst-
richtcrlicher Entscheidungen frei halten, er mag es dem "Routinier," welcher
nur die Erfahrung sein eigen nennt, jeder wissenschaftlichen Ausbildung aber
entbehrt, überlassen, sich mit fremdem Wissen und fremden Gedanken zu decken,
er darf sich niemals der Arbeit entziehen, selbständig zu untersuchen, was der
Inhalt des Gesetzes ist, und welche unter verschiednen möglichen Auffassungen
dem Willen des Gesetzes mutmaßlich entspricht.

Die bedingungslose Annahme der in den Erkenntnissen des Reichsgerichts
niedergelegten Anschauungen findet ihr Seitenstück in der übertriebenen Berück¬
sichtigung, welche die Rechtspflege der Begründung der Gesetzentwürfe, den Ver¬
handlungen des Reichstages, den Reden einzelner hervorragender Abgeordneten
oder Vertreter der Negierung angedeihen läßt. Die geistige Unfreiheit, die
als Ursache der im Vorstehenden gekennzeichneten Erscheinung hervorgehoben
wurde, ist auch dafür verantwortlich zu machen, daß die Rechtspflege diesen
und andern Unterstützungsmitteln bei Auslegung des Gesetzes und bei Erforschung
des Willensinhaltes des Gesetzgebers einen Wert beilegt, der ihnen gar nicht
zukommt. Der Einfluß, den diese auf die Urteile der deutschen Gerichte haben,
sofern es sich darum handelt, zwischen mehreren Auffassungen des Gesetzesinhalts
die richtige zu wählen, ist sehr groß, jedenfalls viel größer, als es der Sach¬
lage entspricht. Es ist hier nicht der Ort, auf die viel erörterte Frage ein¬
zugehen, in welcher Weise die Benutzung dieser Materialien für die Auslegung
des Gesetzes überhaupt zu geschehen habe; in keinem Falle können sie einen
andern Wert als einen wissenschaftlichen beanspruchen. Die deutsche Rechts¬
pflege hat sich aber vielfach daran gewöhnt, sie gewissermaßen mit Gesetzeskraft
zu bekleiden und ihre Ausführungen als für die Auslegung des Gesetzes un¬
bedingt maßgebend zu betrachten, was für die Begründung der Urteile in hohem
Grade nachteilig ist, weil auch hierdurch an Stelle eigner und selbständiger
Gedanken der Hinweis auf fremde tritt. Die ausgezeichnete Bearbeitung, welche
den Begründungen der Gesetze des deutschen Reiches zu Teil wird, befördert
in hohem Grade die kritiklose Annahme der in ihnen ausgesprochenen Ansichten,
welche zusammen mit der unbedingten Billigung der Anschauungen des obersten
Gerichtshofes die deutsche Rechtspflege unsrer Zeit kennzeichnet. Es ist gleich-
giltig, auf welchen Gründen dieser Übelstand beruhen mag, jedenfalls ist er
ein Beweis dafür, daß eine gewisse geistige Unfreiheit unter den Organen
der deutscheu Rechtspflege sich auszubreiten im Begriff ist, welche auf die


Grenzboten IV. 1887. 46

»bersten Gerichtshofes die erforderliche Hilfe und Unterstützung zu suchen, ent¬
fremdet dem Richter die wissenschaftliche Literatur, löst den Zusammenhang, der
zwischen der Praxis und der Theorie bestehe» soll und muß, läßt die-erstere
die wertvollsten Hilfsmittel bei Losung der ihr obliegenden Aufgaben übersehen
und führt schließlich dazu, daß die Rechtspflege immer weniger die doch mit
vollstem Recht an sie gestellten Ansprüche zu befriedigen vermag. Der wissen¬
schaftlich gebildete Richter soll und muß sich von der unfreien Nachbetung vberst-
richtcrlicher Entscheidungen frei halten, er mag es dem „Routinier," welcher
nur die Erfahrung sein eigen nennt, jeder wissenschaftlichen Ausbildung aber
entbehrt, überlassen, sich mit fremdem Wissen und fremden Gedanken zu decken,
er darf sich niemals der Arbeit entziehen, selbständig zu untersuchen, was der
Inhalt des Gesetzes ist, und welche unter verschiednen möglichen Auffassungen
dem Willen des Gesetzes mutmaßlich entspricht.

Die bedingungslose Annahme der in den Erkenntnissen des Reichsgerichts
niedergelegten Anschauungen findet ihr Seitenstück in der übertriebenen Berück¬
sichtigung, welche die Rechtspflege der Begründung der Gesetzentwürfe, den Ver¬
handlungen des Reichstages, den Reden einzelner hervorragender Abgeordneten
oder Vertreter der Negierung angedeihen läßt. Die geistige Unfreiheit, die
als Ursache der im Vorstehenden gekennzeichneten Erscheinung hervorgehoben
wurde, ist auch dafür verantwortlich zu machen, daß die Rechtspflege diesen
und andern Unterstützungsmitteln bei Auslegung des Gesetzes und bei Erforschung
des Willensinhaltes des Gesetzgebers einen Wert beilegt, der ihnen gar nicht
zukommt. Der Einfluß, den diese auf die Urteile der deutschen Gerichte haben,
sofern es sich darum handelt, zwischen mehreren Auffassungen des Gesetzesinhalts
die richtige zu wählen, ist sehr groß, jedenfalls viel größer, als es der Sach¬
lage entspricht. Es ist hier nicht der Ort, auf die viel erörterte Frage ein¬
zugehen, in welcher Weise die Benutzung dieser Materialien für die Auslegung
des Gesetzes überhaupt zu geschehen habe; in keinem Falle können sie einen
andern Wert als einen wissenschaftlichen beanspruchen. Die deutsche Rechts¬
pflege hat sich aber vielfach daran gewöhnt, sie gewissermaßen mit Gesetzeskraft
zu bekleiden und ihre Ausführungen als für die Auslegung des Gesetzes un¬
bedingt maßgebend zu betrachten, was für die Begründung der Urteile in hohem
Grade nachteilig ist, weil auch hierdurch an Stelle eigner und selbständiger
Gedanken der Hinweis auf fremde tritt. Die ausgezeichnete Bearbeitung, welche
den Begründungen der Gesetze des deutschen Reiches zu Teil wird, befördert
in hohem Grade die kritiklose Annahme der in ihnen ausgesprochenen Ansichten,
welche zusammen mit der unbedingten Billigung der Anschauungen des obersten
Gerichtshofes die deutsche Rechtspflege unsrer Zeit kennzeichnet. Es ist gleich-
giltig, auf welchen Gründen dieser Übelstand beruhen mag, jedenfalls ist er
ein Beweis dafür, daß eine gewisse geistige Unfreiheit unter den Organen
der deutscheu Rechtspflege sich auszubreiten im Begriff ist, welche auf die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/369>, abgerufen am 02.07.2024.