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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gin Übelstand in der deutschen Rechtspflege.

Freiheit des richterlichen Ermessens, diesen alten Ruhm der deutschen Rechts¬
pflege, nur den nachteiligsten Einfluß ausüben kann; jedenfalls darf er als
Beweis der Thatsache dienen, daß ein großer Teil der Urteile der Untergeriehte
nicht mehr den Grad wissenschaftlicher Ausarbeitung besitzt wie früher. Soll
die Praxis die Fühlung mit der Theorie bewahren, soll sie nicht den Zusammen¬
hang mit der Wissenschaft verlieren, dann muß sie mit dieser Vergötterung der
Vorentscheidung, mit dieser übermäßigen Verehrung der Gesetzesgründe und
Kammerverhandlungen gründlich brechen, sie muß sich von der geistigen Unfrei¬
heit loszumachen und wieder mit dem Geiste wissenschaftlicher Freiheit zu er¬
füllen suchen. So lauge dies nicht geschieht, so lange wird der stolze Aus¬
spruch eines unsrer Rechtsgelehrten, daß Deutschlands Juristen keinen Unterschied
zwischen Theorie und Praxis kennen, der Wahrheit entbehren.

Im Interesse des Ansehens unsrer Rechtspflege, im Interesse einer be¬
friedigenden Handhabung des Rechtsschutzes könnte ein baldiger Umschwung in
der angegebenen Richtung nicht beifällig genug begrüßt werden. Leider muß
es als recht fraglich erscheinen, ob er so rasch eintreten wird, wie es von jedem
wahrhaften Freunde unsers Rechtslebens ersehnt werden muß. Die Erfahrung
zeigt, daß, wenn sich eine Gewohnheit einmal in der Rechtspflege festgesetzt hat,
es außerordentlicher Anstrengungen bedarf, um sie wieder zu beseitigen und
durch eine dem öffentlichen Interesse mehr entsprechende Gewohnheit zu ersetzen.
Wer an der Wahrheit dieser Behauptung zweifeln wollte, blicke auf die milden
Strafen, welche die deutschen Gerichte, aller Anklagen und aller Vorwürfe
ungeachtet, nach wie vor in schrankenlosen Umfange verhängen und wahrschein¬
lich auch noch in der nächsten Zeit verhängen werden. Es wird ebenso schwer
sein, den in den vorstehenden Bemerkungen hervorgehobenen Übelstand zu be¬
seitigen, wie die ungerechtfertigte Neigung zur Verhängung milder Strafen; in
beiden Beziehungen kann der Beobachter unsers Rechtslebens, der sich keiner
Täuschung hingiebt, nur die Erwartung hegen, daß im Laufe längerer Zeit
die Wahrheit zu ihrem Rechte kommen und unter dem Einflüsse der gesteigerten
öffentlichen Aufmerksamkeit die Rechtspflege erkennen werde, daß sie auf falschen
Bahnen wandelt, auf Bahnen, welche ihren Überlieferungen nicht angemessen
und nicht diejenigen sind, auf denen sich die deutsche Justiz seit Alters bewegt
hat und auch bewegen muß, wenn anders sie dem Leben das sei" will, was
sie sein soll: die Schutz- und Schirmgewalt der Gesellschaft und ihrer Interessen.




Gin Übelstand in der deutschen Rechtspflege.

Freiheit des richterlichen Ermessens, diesen alten Ruhm der deutschen Rechts¬
pflege, nur den nachteiligsten Einfluß ausüben kann; jedenfalls darf er als
Beweis der Thatsache dienen, daß ein großer Teil der Urteile der Untergeriehte
nicht mehr den Grad wissenschaftlicher Ausarbeitung besitzt wie früher. Soll
die Praxis die Fühlung mit der Theorie bewahren, soll sie nicht den Zusammen¬
hang mit der Wissenschaft verlieren, dann muß sie mit dieser Vergötterung der
Vorentscheidung, mit dieser übermäßigen Verehrung der Gesetzesgründe und
Kammerverhandlungen gründlich brechen, sie muß sich von der geistigen Unfrei¬
heit loszumachen und wieder mit dem Geiste wissenschaftlicher Freiheit zu er¬
füllen suchen. So lauge dies nicht geschieht, so lange wird der stolze Aus¬
spruch eines unsrer Rechtsgelehrten, daß Deutschlands Juristen keinen Unterschied
zwischen Theorie und Praxis kennen, der Wahrheit entbehren.

Im Interesse des Ansehens unsrer Rechtspflege, im Interesse einer be¬
friedigenden Handhabung des Rechtsschutzes könnte ein baldiger Umschwung in
der angegebenen Richtung nicht beifällig genug begrüßt werden. Leider muß
es als recht fraglich erscheinen, ob er so rasch eintreten wird, wie es von jedem
wahrhaften Freunde unsers Rechtslebens ersehnt werden muß. Die Erfahrung
zeigt, daß, wenn sich eine Gewohnheit einmal in der Rechtspflege festgesetzt hat,
es außerordentlicher Anstrengungen bedarf, um sie wieder zu beseitigen und
durch eine dem öffentlichen Interesse mehr entsprechende Gewohnheit zu ersetzen.
Wer an der Wahrheit dieser Behauptung zweifeln wollte, blicke auf die milden
Strafen, welche die deutschen Gerichte, aller Anklagen und aller Vorwürfe
ungeachtet, nach wie vor in schrankenlosen Umfange verhängen und wahrschein¬
lich auch noch in der nächsten Zeit verhängen werden. Es wird ebenso schwer
sein, den in den vorstehenden Bemerkungen hervorgehobenen Übelstand zu be¬
seitigen, wie die ungerechtfertigte Neigung zur Verhängung milder Strafen; in
beiden Beziehungen kann der Beobachter unsers Rechtslebens, der sich keiner
Täuschung hingiebt, nur die Erwartung hegen, daß im Laufe längerer Zeit
die Wahrheit zu ihrem Rechte kommen und unter dem Einflüsse der gesteigerten
öffentlichen Aufmerksamkeit die Rechtspflege erkennen werde, daß sie auf falschen
Bahnen wandelt, auf Bahnen, welche ihren Überlieferungen nicht angemessen
und nicht diejenigen sind, auf denen sich die deutsche Justiz seit Alters bewegt
hat und auch bewegen muß, wenn anders sie dem Leben das sei» will, was
sie sein soll: die Schutz- und Schirmgewalt der Gesellschaft und ihrer Interessen.




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[0370] Gin Übelstand in der deutschen Rechtspflege. Freiheit des richterlichen Ermessens, diesen alten Ruhm der deutschen Rechts¬ pflege, nur den nachteiligsten Einfluß ausüben kann; jedenfalls darf er als Beweis der Thatsache dienen, daß ein großer Teil der Urteile der Untergeriehte nicht mehr den Grad wissenschaftlicher Ausarbeitung besitzt wie früher. Soll die Praxis die Fühlung mit der Theorie bewahren, soll sie nicht den Zusammen¬ hang mit der Wissenschaft verlieren, dann muß sie mit dieser Vergötterung der Vorentscheidung, mit dieser übermäßigen Verehrung der Gesetzesgründe und Kammerverhandlungen gründlich brechen, sie muß sich von der geistigen Unfrei¬ heit loszumachen und wieder mit dem Geiste wissenschaftlicher Freiheit zu er¬ füllen suchen. So lauge dies nicht geschieht, so lange wird der stolze Aus¬ spruch eines unsrer Rechtsgelehrten, daß Deutschlands Juristen keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis kennen, der Wahrheit entbehren. Im Interesse des Ansehens unsrer Rechtspflege, im Interesse einer be¬ friedigenden Handhabung des Rechtsschutzes könnte ein baldiger Umschwung in der angegebenen Richtung nicht beifällig genug begrüßt werden. Leider muß es als recht fraglich erscheinen, ob er so rasch eintreten wird, wie es von jedem wahrhaften Freunde unsers Rechtslebens ersehnt werden muß. Die Erfahrung zeigt, daß, wenn sich eine Gewohnheit einmal in der Rechtspflege festgesetzt hat, es außerordentlicher Anstrengungen bedarf, um sie wieder zu beseitigen und durch eine dem öffentlichen Interesse mehr entsprechende Gewohnheit zu ersetzen. Wer an der Wahrheit dieser Behauptung zweifeln wollte, blicke auf die milden Strafen, welche die deutschen Gerichte, aller Anklagen und aller Vorwürfe ungeachtet, nach wie vor in schrankenlosen Umfange verhängen und wahrschein¬ lich auch noch in der nächsten Zeit verhängen werden. Es wird ebenso schwer sein, den in den vorstehenden Bemerkungen hervorgehobenen Übelstand zu be¬ seitigen, wie die ungerechtfertigte Neigung zur Verhängung milder Strafen; in beiden Beziehungen kann der Beobachter unsers Rechtslebens, der sich keiner Täuschung hingiebt, nur die Erwartung hegen, daß im Laufe längerer Zeit die Wahrheit zu ihrem Rechte kommen und unter dem Einflüsse der gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit die Rechtspflege erkennen werde, daß sie auf falschen Bahnen wandelt, auf Bahnen, welche ihren Überlieferungen nicht angemessen und nicht diejenigen sind, auf denen sich die deutsche Justiz seit Alters bewegt hat und auch bewegen muß, wenn anders sie dem Leben das sei» will, was sie sein soll: die Schutz- und Schirmgewalt der Gesellschaft und ihrer Interessen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/370>, abgerufen am 29.06.2024.