Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Ubelsiand in der deutschen Rechtspflege.

ständigen Prüfung und Forschung zu entheben! Bekanntlich binden die Ent¬
scheidungen des Reichsgerichts deu Unterrichter nur in derjenigen Sache, in der
sie ergehen, in jedem andern Rechtsfalle aber gebührt ihnen mir die Kraft,
welche einem von den hervorragendsten Fachmännern gefällten und wissen¬
schaftlich begründeten Erkenntnis innewohnt, und der Richter hat die Pflicht,
sie sorgsam zu prüfen, und zu überlegen, ob er sich mit den darin aus¬
gesprochenen Ansichten befreunden kann oder ihnen seine Zustimmung versagen
muß. Im letztern Falle muß er trotz des Ansehens des obersten Gerichtshofes
seine gegenteilige Auffassung kundgeben und abwarten, ob diese von dem obersten
Richter als irrig bezeichnet und durch eine andre ersetzt werden wird; er darf
es sich aber nicht genug sein lassen, die lästige Denkarbeit durch eine gedanken¬
lose Verweisung auf die Vorentscheidungen unnötig zu machen. Die Urteils¬
begründung, wie sie zur Zeit bei einer großen Anzahl von deutschen Gerichten
erfolgt, ist der Tod für eine geistig freie, auf der Höhe der Wissenschaft stehende
Rechtspflege, und es muß insbesondre darüber geklagt werden, daß in den Ur¬
teilen der Strafgerichte sich diese Anbetung der Vorentscheidungen, dieser
"Präjudizienkultus," in stärkster Weise geltend macht. Man hält es für völlig
überflüssig, die Streitfragen, über die sich das Reichsgericht bereits ausgesprochen
hat, mit Hilfe der zahlreich vorhandnen Literatur einer besondern Prüfung zu
unterziehen, man verweist einfach auf die Entscheidung des Reichsgerichts und
ihre Begründung, mitunter giebt man sich nicht einmal die Mühe, die häufig
sehr ausführlichen und umfangreichen Gründe der Erkenntnisse dieses Gerichts¬
hofes zu lesen und sich zu eigen zu machen; wofür wären denn die Samm¬
lungen vorhanden, in welchen die wichtigsten Sätze der reichsgerichtlichen Urteile
knapp und scharf ausgesprochen sind, wenn man sich ihrer bei der Urteils¬
begründung nicht sollte bedienen dürfen! Man verwertet diese Auszüge in
reichlichem Maße und wird auf diese Weise mit der Begründung allerdings
schnell fertig; daß aber hierbei von einer wissenschaftlichen, auf tüchtiger Denk¬
thätigkeit beruhenden Durchdringung des Stoffes, wie sie das Gesetz verlangt,
nicht mehr die Rede sein kann, sondern nur von einer geistlosen Zusammen¬
stellung von Zitaten, ist selbstverständlich; ebensowenig aber kann darüber ein
Zweifel obwalten, daß diese Art von Begründung das Interesse des rechts¬
suchenden Publikums in vielen Fällen empfindlich verletzt. Die Abneigung der
deutschen Gerichte gegen ausführliche Begründung einer Entscheidung, eine be¬
kannte, von hervorragenden Rechtsgelehrten wiederholt gerügte Erscheinung
unsrer Zeit, hängt mit diesem Ersatz eigner Gedanken durch entlehnte Zitate
zusammen, und auf verschiednen Gebieten des Rechtslebens treten die schlimmen
Folgen beider hervor. Es ist kein Wunder, wenn die wissenschaftliche Tüchtigkeit
der deutschen Gerichte nicht mehr die gleiche ist wie früher; die Gepflogenheit,
sich mit fremden Gedanken zu behelfen, entwöhnt nach und nach der Denkarbeit
überhaupt, die Gepflogenheit, fast ausschließlich in den Entscheidungen des


Lin Ubelsiand in der deutschen Rechtspflege.

ständigen Prüfung und Forschung zu entheben! Bekanntlich binden die Ent¬
scheidungen des Reichsgerichts deu Unterrichter nur in derjenigen Sache, in der
sie ergehen, in jedem andern Rechtsfalle aber gebührt ihnen mir die Kraft,
welche einem von den hervorragendsten Fachmännern gefällten und wissen¬
schaftlich begründeten Erkenntnis innewohnt, und der Richter hat die Pflicht,
sie sorgsam zu prüfen, und zu überlegen, ob er sich mit den darin aus¬
gesprochenen Ansichten befreunden kann oder ihnen seine Zustimmung versagen
muß. Im letztern Falle muß er trotz des Ansehens des obersten Gerichtshofes
seine gegenteilige Auffassung kundgeben und abwarten, ob diese von dem obersten
Richter als irrig bezeichnet und durch eine andre ersetzt werden wird; er darf
es sich aber nicht genug sein lassen, die lästige Denkarbeit durch eine gedanken¬
lose Verweisung auf die Vorentscheidungen unnötig zu machen. Die Urteils¬
begründung, wie sie zur Zeit bei einer großen Anzahl von deutschen Gerichten
erfolgt, ist der Tod für eine geistig freie, auf der Höhe der Wissenschaft stehende
Rechtspflege, und es muß insbesondre darüber geklagt werden, daß in den Ur¬
teilen der Strafgerichte sich diese Anbetung der Vorentscheidungen, dieser
„Präjudizienkultus," in stärkster Weise geltend macht. Man hält es für völlig
überflüssig, die Streitfragen, über die sich das Reichsgericht bereits ausgesprochen
hat, mit Hilfe der zahlreich vorhandnen Literatur einer besondern Prüfung zu
unterziehen, man verweist einfach auf die Entscheidung des Reichsgerichts und
ihre Begründung, mitunter giebt man sich nicht einmal die Mühe, die häufig
sehr ausführlichen und umfangreichen Gründe der Erkenntnisse dieses Gerichts¬
hofes zu lesen und sich zu eigen zu machen; wofür wären denn die Samm¬
lungen vorhanden, in welchen die wichtigsten Sätze der reichsgerichtlichen Urteile
knapp und scharf ausgesprochen sind, wenn man sich ihrer bei der Urteils¬
begründung nicht sollte bedienen dürfen! Man verwertet diese Auszüge in
reichlichem Maße und wird auf diese Weise mit der Begründung allerdings
schnell fertig; daß aber hierbei von einer wissenschaftlichen, auf tüchtiger Denk¬
thätigkeit beruhenden Durchdringung des Stoffes, wie sie das Gesetz verlangt,
nicht mehr die Rede sein kann, sondern nur von einer geistlosen Zusammen¬
stellung von Zitaten, ist selbstverständlich; ebensowenig aber kann darüber ein
Zweifel obwalten, daß diese Art von Begründung das Interesse des rechts¬
suchenden Publikums in vielen Fällen empfindlich verletzt. Die Abneigung der
deutschen Gerichte gegen ausführliche Begründung einer Entscheidung, eine be¬
kannte, von hervorragenden Rechtsgelehrten wiederholt gerügte Erscheinung
unsrer Zeit, hängt mit diesem Ersatz eigner Gedanken durch entlehnte Zitate
zusammen, und auf verschiednen Gebieten des Rechtslebens treten die schlimmen
Folgen beider hervor. Es ist kein Wunder, wenn die wissenschaftliche Tüchtigkeit
der deutschen Gerichte nicht mehr die gleiche ist wie früher; die Gepflogenheit,
sich mit fremden Gedanken zu behelfen, entwöhnt nach und nach der Denkarbeit
überhaupt, die Gepflogenheit, fast ausschließlich in den Entscheidungen des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201797"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Ubelsiand in der deutschen Rechtspflege.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_864" prev="#ID_863" next="#ID_865"> ständigen Prüfung und Forschung zu entheben! Bekanntlich binden die Ent¬<lb/>
scheidungen des Reichsgerichts deu Unterrichter nur in derjenigen Sache, in der<lb/>
sie ergehen, in jedem andern Rechtsfalle aber gebührt ihnen mir die Kraft,<lb/>
welche einem von den hervorragendsten Fachmännern gefällten und wissen¬<lb/>
schaftlich begründeten Erkenntnis innewohnt, und der Richter hat die Pflicht,<lb/>
sie sorgsam zu prüfen, und zu überlegen, ob er sich mit den darin aus¬<lb/>
gesprochenen Ansichten befreunden kann oder ihnen seine Zustimmung versagen<lb/>
muß. Im letztern Falle muß er trotz des Ansehens des obersten Gerichtshofes<lb/>
seine gegenteilige Auffassung kundgeben und abwarten, ob diese von dem obersten<lb/>
Richter als irrig bezeichnet und durch eine andre ersetzt werden wird; er darf<lb/>
es sich aber nicht genug sein lassen, die lästige Denkarbeit durch eine gedanken¬<lb/>
lose Verweisung auf die Vorentscheidungen unnötig zu machen. Die Urteils¬<lb/>
begründung, wie sie zur Zeit bei einer großen Anzahl von deutschen Gerichten<lb/>
erfolgt, ist der Tod für eine geistig freie, auf der Höhe der Wissenschaft stehende<lb/>
Rechtspflege, und es muß insbesondre darüber geklagt werden, daß in den Ur¬<lb/>
teilen der Strafgerichte sich diese Anbetung der Vorentscheidungen, dieser<lb/>
&#x201E;Präjudizienkultus," in stärkster Weise geltend macht. Man hält es für völlig<lb/>
überflüssig, die Streitfragen, über die sich das Reichsgericht bereits ausgesprochen<lb/>
hat, mit Hilfe der zahlreich vorhandnen Literatur einer besondern Prüfung zu<lb/>
unterziehen, man verweist einfach auf die Entscheidung des Reichsgerichts und<lb/>
ihre Begründung, mitunter giebt man sich nicht einmal die Mühe, die häufig<lb/>
sehr ausführlichen und umfangreichen Gründe der Erkenntnisse dieses Gerichts¬<lb/>
hofes zu lesen und sich zu eigen zu machen; wofür wären denn die Samm¬<lb/>
lungen vorhanden, in welchen die wichtigsten Sätze der reichsgerichtlichen Urteile<lb/>
knapp und scharf ausgesprochen sind, wenn man sich ihrer bei der Urteils¬<lb/>
begründung nicht sollte bedienen dürfen! Man verwertet diese Auszüge in<lb/>
reichlichem Maße und wird auf diese Weise mit der Begründung allerdings<lb/>
schnell fertig; daß aber hierbei von einer wissenschaftlichen, auf tüchtiger Denk¬<lb/>
thätigkeit beruhenden Durchdringung des Stoffes, wie sie das Gesetz verlangt,<lb/>
nicht mehr die Rede sein kann, sondern nur von einer geistlosen Zusammen¬<lb/>
stellung von Zitaten, ist selbstverständlich; ebensowenig aber kann darüber ein<lb/>
Zweifel obwalten, daß diese Art von Begründung das Interesse des rechts¬<lb/>
suchenden Publikums in vielen Fällen empfindlich verletzt. Die Abneigung der<lb/>
deutschen Gerichte gegen ausführliche Begründung einer Entscheidung, eine be¬<lb/>
kannte, von hervorragenden Rechtsgelehrten wiederholt gerügte Erscheinung<lb/>
unsrer Zeit, hängt mit diesem Ersatz eigner Gedanken durch entlehnte Zitate<lb/>
zusammen, und auf verschiednen Gebieten des Rechtslebens treten die schlimmen<lb/>
Folgen beider hervor. Es ist kein Wunder, wenn die wissenschaftliche Tüchtigkeit<lb/>
der deutschen Gerichte nicht mehr die gleiche ist wie früher; die Gepflogenheit,<lb/>
sich mit fremden Gedanken zu behelfen, entwöhnt nach und nach der Denkarbeit<lb/>
überhaupt, die Gepflogenheit, fast ausschließlich in den Entscheidungen des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0368] Lin Ubelsiand in der deutschen Rechtspflege. ständigen Prüfung und Forschung zu entheben! Bekanntlich binden die Ent¬ scheidungen des Reichsgerichts deu Unterrichter nur in derjenigen Sache, in der sie ergehen, in jedem andern Rechtsfalle aber gebührt ihnen mir die Kraft, welche einem von den hervorragendsten Fachmännern gefällten und wissen¬ schaftlich begründeten Erkenntnis innewohnt, und der Richter hat die Pflicht, sie sorgsam zu prüfen, und zu überlegen, ob er sich mit den darin aus¬ gesprochenen Ansichten befreunden kann oder ihnen seine Zustimmung versagen muß. Im letztern Falle muß er trotz des Ansehens des obersten Gerichtshofes seine gegenteilige Auffassung kundgeben und abwarten, ob diese von dem obersten Richter als irrig bezeichnet und durch eine andre ersetzt werden wird; er darf es sich aber nicht genug sein lassen, die lästige Denkarbeit durch eine gedanken¬ lose Verweisung auf die Vorentscheidungen unnötig zu machen. Die Urteils¬ begründung, wie sie zur Zeit bei einer großen Anzahl von deutschen Gerichten erfolgt, ist der Tod für eine geistig freie, auf der Höhe der Wissenschaft stehende Rechtspflege, und es muß insbesondre darüber geklagt werden, daß in den Ur¬ teilen der Strafgerichte sich diese Anbetung der Vorentscheidungen, dieser „Präjudizienkultus," in stärkster Weise geltend macht. Man hält es für völlig überflüssig, die Streitfragen, über die sich das Reichsgericht bereits ausgesprochen hat, mit Hilfe der zahlreich vorhandnen Literatur einer besondern Prüfung zu unterziehen, man verweist einfach auf die Entscheidung des Reichsgerichts und ihre Begründung, mitunter giebt man sich nicht einmal die Mühe, die häufig sehr ausführlichen und umfangreichen Gründe der Erkenntnisse dieses Gerichts¬ hofes zu lesen und sich zu eigen zu machen; wofür wären denn die Samm¬ lungen vorhanden, in welchen die wichtigsten Sätze der reichsgerichtlichen Urteile knapp und scharf ausgesprochen sind, wenn man sich ihrer bei der Urteils¬ begründung nicht sollte bedienen dürfen! Man verwertet diese Auszüge in reichlichem Maße und wird auf diese Weise mit der Begründung allerdings schnell fertig; daß aber hierbei von einer wissenschaftlichen, auf tüchtiger Denk¬ thätigkeit beruhenden Durchdringung des Stoffes, wie sie das Gesetz verlangt, nicht mehr die Rede sein kann, sondern nur von einer geistlosen Zusammen¬ stellung von Zitaten, ist selbstverständlich; ebensowenig aber kann darüber ein Zweifel obwalten, daß diese Art von Begründung das Interesse des rechts¬ suchenden Publikums in vielen Fällen empfindlich verletzt. Die Abneigung der deutschen Gerichte gegen ausführliche Begründung einer Entscheidung, eine be¬ kannte, von hervorragenden Rechtsgelehrten wiederholt gerügte Erscheinung unsrer Zeit, hängt mit diesem Ersatz eigner Gedanken durch entlehnte Zitate zusammen, und auf verschiednen Gebieten des Rechtslebens treten die schlimmen Folgen beider hervor. Es ist kein Wunder, wenn die wissenschaftliche Tüchtigkeit der deutschen Gerichte nicht mehr die gleiche ist wie früher; die Gepflogenheit, sich mit fremden Gedanken zu behelfen, entwöhnt nach und nach der Denkarbeit überhaupt, die Gepflogenheit, fast ausschließlich in den Entscheidungen des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/368
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/368>, abgerufen am 04.07.2024.