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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

als wäre es Zeit, in den bittern Hader der Nationalitäten die hohe Idee der
Menschheit aus der Zeit unsrer Väter hineinzurufen und zu predigen. Und
Mir ist, als wäre das uns als Beruf bestimmt, wie ihn im vorigen Jahrhundert
die Franzosen übernahmen, freilich so, daß ihnen das ausgerufene Weltbürgertum
unwillkürlich zu einem erweiterten Frcmzosentum wurde. Es muß sich ein ge¬
sunder Durchschnitt zwischen der verwaschenen Einheit und der atomistischen
Mannichfaltigkeit auch hier finden lassen, wie wir ihn für uns haben suchen
müssen. Auch hier ist das rechte Leben mit dem wunderbaren neuen Reichtum,
den es den kommenden Jahrhunderten in Aussicht stellt, durchaus an ein Zu¬
sammenleben gebunden, das ist ewiges einfältiges Naturgesetz, auch aus dem
Einmaleins der Ethik.

War das aber nicht nach menschlichem Maße schon einmal erreicht im
Altertume, das uns also Vorbild sein könnte? Nein, dann wäre es auch nicht
untergegangen. Damals verlief die Gesamtbewegung so, daß sich alles Cultur¬
leben in einen Kreis zusammendrehte, mit dem einen Mittelpunkt Rom,
dem gegenüber auch das griechische Leben seine lebenschaffende Kraft einbüßen
mußte. Das ist der große Fortschritt der neueren Zeit über das Altertum hin¬
aus, daß diese Einheit, in der die naturgegebene Mannichfaltigkeit unterging,
gebrochen ist. Der Versuch, sie wenigstens der Form uach aufrecht zu erhalten,
der dem deutschen Volke in die Wiege gelegt wurde, mußte ein schwächlicher
Versuch bleiben. Wenn das größte Leben mit seiner Bewegung in einen Kreis
gebannt wird, so kommt es ins Eingehen, der eine Mittelpunkt kann nicht leisten,
dias er soll, dem Leben sein Wachsen zu verbürgen, in dem alles Leben besteht.
Das ist nur möglich, wenn der lenkende Mittelpunkt höher liegt und damit das
Ganze zum Wachsen nach oben zieht. Das kann es aber nur, wenn eine
Mehrzahl von Kreisen außer ihren besondern Mittelpunkten zugleich einen höheren
haben, den sie suchen müssen. Das ist das Gesetz für alles Leben, von der
Familie und allen kleineren Gemeinschaften bis zu den größten und höchsten.
Und jetzt ist, wenn man auch nur auf Europa blickt, und die Staaten und
Völker in Amerika und Asien beiseite läßt, die sich immer deutlicher zur Ge¬
meinschaft der Menschheit melden, die Aufgabe der großen Lebensarbeit, der
Culturarbeit glücklich kein Monopol mehr, sondern an eine Anzahl von Völker"
verteilt, die bei allen Reibungen, welche noch unterlaufen, zuletzt doch auf eine her¬
zustellende Gemeinschaft augewiesen sind (von der man übrigens schon seit dein
sechzehnten Jahrhundert gesprochen hat). So ist die Arbeit am Fortschritt der
Menschheit nun einem Wettstreite von verschiedenen Kräften übergeben, der im
Altertum fehlte oder vor Roms Übermacht nicht aufkommen konnte.

Dieser Wettstreit aber, das sieht man sicher, wird nie wieder auf die
falsche Linie geraten können, wo ein Mittelpunkt alles in seinen Kreis zu ziehen
und darin zu verschlingen vermöchte, dazu sind die einzelnen Kreise in sich zu
!Hr gefestigt. Er kann höchstens in einen Streit um den Vorrang der Führer-


Grenzbotm IV. 1887. 42
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

als wäre es Zeit, in den bittern Hader der Nationalitäten die hohe Idee der
Menschheit aus der Zeit unsrer Väter hineinzurufen und zu predigen. Und
Mir ist, als wäre das uns als Beruf bestimmt, wie ihn im vorigen Jahrhundert
die Franzosen übernahmen, freilich so, daß ihnen das ausgerufene Weltbürgertum
unwillkürlich zu einem erweiterten Frcmzosentum wurde. Es muß sich ein ge¬
sunder Durchschnitt zwischen der verwaschenen Einheit und der atomistischen
Mannichfaltigkeit auch hier finden lassen, wie wir ihn für uns haben suchen
müssen. Auch hier ist das rechte Leben mit dem wunderbaren neuen Reichtum,
den es den kommenden Jahrhunderten in Aussicht stellt, durchaus an ein Zu¬
sammenleben gebunden, das ist ewiges einfältiges Naturgesetz, auch aus dem
Einmaleins der Ethik.

War das aber nicht nach menschlichem Maße schon einmal erreicht im
Altertume, das uns also Vorbild sein könnte? Nein, dann wäre es auch nicht
untergegangen. Damals verlief die Gesamtbewegung so, daß sich alles Cultur¬
leben in einen Kreis zusammendrehte, mit dem einen Mittelpunkt Rom,
dem gegenüber auch das griechische Leben seine lebenschaffende Kraft einbüßen
mußte. Das ist der große Fortschritt der neueren Zeit über das Altertum hin¬
aus, daß diese Einheit, in der die naturgegebene Mannichfaltigkeit unterging,
gebrochen ist. Der Versuch, sie wenigstens der Form uach aufrecht zu erhalten,
der dem deutschen Volke in die Wiege gelegt wurde, mußte ein schwächlicher
Versuch bleiben. Wenn das größte Leben mit seiner Bewegung in einen Kreis
gebannt wird, so kommt es ins Eingehen, der eine Mittelpunkt kann nicht leisten,
dias er soll, dem Leben sein Wachsen zu verbürgen, in dem alles Leben besteht.
Das ist nur möglich, wenn der lenkende Mittelpunkt höher liegt und damit das
Ganze zum Wachsen nach oben zieht. Das kann es aber nur, wenn eine
Mehrzahl von Kreisen außer ihren besondern Mittelpunkten zugleich einen höheren
haben, den sie suchen müssen. Das ist das Gesetz für alles Leben, von der
Familie und allen kleineren Gemeinschaften bis zu den größten und höchsten.
Und jetzt ist, wenn man auch nur auf Europa blickt, und die Staaten und
Völker in Amerika und Asien beiseite läßt, die sich immer deutlicher zur Ge¬
meinschaft der Menschheit melden, die Aufgabe der großen Lebensarbeit, der
Culturarbeit glücklich kein Monopol mehr, sondern an eine Anzahl von Völker»
verteilt, die bei allen Reibungen, welche noch unterlaufen, zuletzt doch auf eine her¬
zustellende Gemeinschaft augewiesen sind (von der man übrigens schon seit dein
sechzehnten Jahrhundert gesprochen hat). So ist die Arbeit am Fortschritt der
Menschheit nun einem Wettstreite von verschiedenen Kräften übergeben, der im
Altertum fehlte oder vor Roms Übermacht nicht aufkommen konnte.

Dieser Wettstreit aber, das sieht man sicher, wird nie wieder auf die
falsche Linie geraten können, wo ein Mittelpunkt alles in seinen Kreis zu ziehen
und darin zu verschlingen vermöchte, dazu sind die einzelnen Kreise in sich zu
!Hr gefestigt. Er kann höchstens in einen Streit um den Vorrang der Führer-


Grenzbotm IV. 1887. 42
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[0337] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. als wäre es Zeit, in den bittern Hader der Nationalitäten die hohe Idee der Menschheit aus der Zeit unsrer Väter hineinzurufen und zu predigen. Und Mir ist, als wäre das uns als Beruf bestimmt, wie ihn im vorigen Jahrhundert die Franzosen übernahmen, freilich so, daß ihnen das ausgerufene Weltbürgertum unwillkürlich zu einem erweiterten Frcmzosentum wurde. Es muß sich ein ge¬ sunder Durchschnitt zwischen der verwaschenen Einheit und der atomistischen Mannichfaltigkeit auch hier finden lassen, wie wir ihn für uns haben suchen müssen. Auch hier ist das rechte Leben mit dem wunderbaren neuen Reichtum, den es den kommenden Jahrhunderten in Aussicht stellt, durchaus an ein Zu¬ sammenleben gebunden, das ist ewiges einfältiges Naturgesetz, auch aus dem Einmaleins der Ethik. War das aber nicht nach menschlichem Maße schon einmal erreicht im Altertume, das uns also Vorbild sein könnte? Nein, dann wäre es auch nicht untergegangen. Damals verlief die Gesamtbewegung so, daß sich alles Cultur¬ leben in einen Kreis zusammendrehte, mit dem einen Mittelpunkt Rom, dem gegenüber auch das griechische Leben seine lebenschaffende Kraft einbüßen mußte. Das ist der große Fortschritt der neueren Zeit über das Altertum hin¬ aus, daß diese Einheit, in der die naturgegebene Mannichfaltigkeit unterging, gebrochen ist. Der Versuch, sie wenigstens der Form uach aufrecht zu erhalten, der dem deutschen Volke in die Wiege gelegt wurde, mußte ein schwächlicher Versuch bleiben. Wenn das größte Leben mit seiner Bewegung in einen Kreis gebannt wird, so kommt es ins Eingehen, der eine Mittelpunkt kann nicht leisten, dias er soll, dem Leben sein Wachsen zu verbürgen, in dem alles Leben besteht. Das ist nur möglich, wenn der lenkende Mittelpunkt höher liegt und damit das Ganze zum Wachsen nach oben zieht. Das kann es aber nur, wenn eine Mehrzahl von Kreisen außer ihren besondern Mittelpunkten zugleich einen höheren haben, den sie suchen müssen. Das ist das Gesetz für alles Leben, von der Familie und allen kleineren Gemeinschaften bis zu den größten und höchsten. Und jetzt ist, wenn man auch nur auf Europa blickt, und die Staaten und Völker in Amerika und Asien beiseite läßt, die sich immer deutlicher zur Ge¬ meinschaft der Menschheit melden, die Aufgabe der großen Lebensarbeit, der Culturarbeit glücklich kein Monopol mehr, sondern an eine Anzahl von Völker» verteilt, die bei allen Reibungen, welche noch unterlaufen, zuletzt doch auf eine her¬ zustellende Gemeinschaft augewiesen sind (von der man übrigens schon seit dein sechzehnten Jahrhundert gesprochen hat). So ist die Arbeit am Fortschritt der Menschheit nun einem Wettstreite von verschiedenen Kräften übergeben, der im Altertum fehlte oder vor Roms Übermacht nicht aufkommen konnte. Dieser Wettstreit aber, das sieht man sicher, wird nie wieder auf die falsche Linie geraten können, wo ein Mittelpunkt alles in seinen Kreis zu ziehen und darin zu verschlingen vermöchte, dazu sind die einzelnen Kreise in sich zu !Hr gefestigt. Er kann höchstens in einen Streit um den Vorrang der Führer- Grenzbotm IV. 1887. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/337>, abgerufen am 04.07.2024.