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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

schaft übergehen im Aufstreben zu dem gemeinsamen geistigen und Culturleben,
das seine Nahrung aus der gemeinsamen Höhe zu holen hat, ein Wettstreit,
der denn nie fehlen wird oder soll. Ist er doch im ganzen Gange des höhern
Lebens der neueren Zeit zu erkennen, indem darin Italien, Frankreich, England
einander ablösten zum Besten des über allen schwebenden Ganzen. Jetzt ist,
wie es scheint, dieser Vorrang im Wettstreit des europäischen Lebens an Deutsch¬
land übergegangen, das sozusagen wieder an der Reihe war, nachdem es ihn
im Mittelalter schon einmal politisch besessen und traurig verloren hatte. Der
Umschwung ist aber seit länger als einem Jahrhundert vorbereitet durch die
Geistesthaten seit der Genieperiode, deren Wesen recht eigentlich ein leben¬
schaffendes war durch Befreiung des innersten Eigenlebens. Daß dies neue
innere Leben nun auch zu einem neuen äußern Leben und Zusammenleben ge¬
worden ist, beweist, daß jeues mit seinem Kern eben rechtes Leben war, auch
formschaffend. Es ist mit uns gegangen nach dem Dichterwort im Wallenstein:
"Es ist der Geist, der sich den Körper baut." Unsre Nachbarn können sich,
wohl begreiflich, noch nicht darein finden, daß wir nun auch wieder, um ein
politisches Bild des siebzehnten Jahrhunderts anzuwenden, das Zünglein im
Gleichgewicht der europäischen Wage darstellen, das den Ausschlag giebt, wie
das doch schon äußerlich unsrer Mittellage nach uns eigentlich zukommt. Aber
wir wissen, dafür bürgt unser ganzes Herkommen und unser in langen Leiden
geschulter Geist, was diese Stellung bedeutet, nicht als ein Vorrang zum Behuf
äußerer Herrschaft, sondern als hohes Amt im Dienste des Ganzen, das wir
gern auch jedem Berufnern abtreten würden. Daß unser großer Staatsmann
seine und Deutschlands Aufgabe in diesem Lichte sieht und übt, das kann Europa
sehen, wenn es will. Und dieser Geist kann nicht sterben, es ist der rechte
deutsche Geist, wie ihn in ihrer Art z. B. schou Leibnitz, Goethe, Herder hatten.

Man braucht nicht zu zweifeln, es hebt ein neues großes Leben an. Wir
sind schon in dem Stande gewesen, in dem das Altertum war, als sein Leben
sich unrettbar zum Eingehen neigte. Aber eben das Zusammenleben der Cultur¬
völker als Mehrheit hat uns glücklich über den gefährlichen Punkt hinweg¬
geholfen und wird weiter helfen. Im Anfang unsers Jahrhunderts sah eine
geistvolle Französin, die Stael-Holstein, die Culturmenschheit dem Altern aus¬
gesetzt: II Sö xsut <zu<z . . ig, ^sunosss co Zsurs uumain soit xassve xour ton-
^ours, fügt aber hinzu: (ZöpenäMt on croit, hört-ir äans los 6e.Ms ass ,^1lo-
ng.nah uns Hormesss nouvslls (as 3. Buch 9. Ccip.), sie witterte
in den Schriften unsrer Dichter und Denker Frühlingsluft für die Menschheit,
und jeder von uns kennt ja das aus eigner Erfahrung, hat sie für sein eignes
Leben daraus geatmet. Dem Frühling folgt nun der Sommer mit seinen
heißen Tagen, seinen Gewitterstürmen und seiner sauren Arbeit. Aber ohne
solche Gefahren und saure Arbeit keine Ernte, und es handelt sich um eine
neue Ernte für die Menschheit, dafür ist ein Wettbewerb aufgethan groß, wie


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

schaft übergehen im Aufstreben zu dem gemeinsamen geistigen und Culturleben,
das seine Nahrung aus der gemeinsamen Höhe zu holen hat, ein Wettstreit,
der denn nie fehlen wird oder soll. Ist er doch im ganzen Gange des höhern
Lebens der neueren Zeit zu erkennen, indem darin Italien, Frankreich, England
einander ablösten zum Besten des über allen schwebenden Ganzen. Jetzt ist,
wie es scheint, dieser Vorrang im Wettstreit des europäischen Lebens an Deutsch¬
land übergegangen, das sozusagen wieder an der Reihe war, nachdem es ihn
im Mittelalter schon einmal politisch besessen und traurig verloren hatte. Der
Umschwung ist aber seit länger als einem Jahrhundert vorbereitet durch die
Geistesthaten seit der Genieperiode, deren Wesen recht eigentlich ein leben¬
schaffendes war durch Befreiung des innersten Eigenlebens. Daß dies neue
innere Leben nun auch zu einem neuen äußern Leben und Zusammenleben ge¬
worden ist, beweist, daß jeues mit seinem Kern eben rechtes Leben war, auch
formschaffend. Es ist mit uns gegangen nach dem Dichterwort im Wallenstein:
„Es ist der Geist, der sich den Körper baut." Unsre Nachbarn können sich,
wohl begreiflich, noch nicht darein finden, daß wir nun auch wieder, um ein
politisches Bild des siebzehnten Jahrhunderts anzuwenden, das Zünglein im
Gleichgewicht der europäischen Wage darstellen, das den Ausschlag giebt, wie
das doch schon äußerlich unsrer Mittellage nach uns eigentlich zukommt. Aber
wir wissen, dafür bürgt unser ganzes Herkommen und unser in langen Leiden
geschulter Geist, was diese Stellung bedeutet, nicht als ein Vorrang zum Behuf
äußerer Herrschaft, sondern als hohes Amt im Dienste des Ganzen, das wir
gern auch jedem Berufnern abtreten würden. Daß unser großer Staatsmann
seine und Deutschlands Aufgabe in diesem Lichte sieht und übt, das kann Europa
sehen, wenn es will. Und dieser Geist kann nicht sterben, es ist der rechte
deutsche Geist, wie ihn in ihrer Art z. B. schou Leibnitz, Goethe, Herder hatten.

Man braucht nicht zu zweifeln, es hebt ein neues großes Leben an. Wir
sind schon in dem Stande gewesen, in dem das Altertum war, als sein Leben
sich unrettbar zum Eingehen neigte. Aber eben das Zusammenleben der Cultur¬
völker als Mehrheit hat uns glücklich über den gefährlichen Punkt hinweg¬
geholfen und wird weiter helfen. Im Anfang unsers Jahrhunderts sah eine
geistvolle Französin, die Stael-Holstein, die Culturmenschheit dem Altern aus¬
gesetzt: II Sö xsut <zu<z . . ig, ^sunosss co Zsurs uumain soit xassve xour ton-
^ours, fügt aber hinzu: (ZöpenäMt on croit, hört-ir äans los 6e.Ms ass ,^1lo-
ng.nah uns Hormesss nouvslls (as 3. Buch 9. Ccip.), sie witterte
in den Schriften unsrer Dichter und Denker Frühlingsluft für die Menschheit,
und jeder von uns kennt ja das aus eigner Erfahrung, hat sie für sein eignes
Leben daraus geatmet. Dem Frühling folgt nun der Sommer mit seinen
heißen Tagen, seinen Gewitterstürmen und seiner sauren Arbeit. Aber ohne
solche Gefahren und saure Arbeit keine Ernte, und es handelt sich um eine
neue Ernte für die Menschheit, dafür ist ein Wettbewerb aufgethan groß, wie


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[0338] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. schaft übergehen im Aufstreben zu dem gemeinsamen geistigen und Culturleben, das seine Nahrung aus der gemeinsamen Höhe zu holen hat, ein Wettstreit, der denn nie fehlen wird oder soll. Ist er doch im ganzen Gange des höhern Lebens der neueren Zeit zu erkennen, indem darin Italien, Frankreich, England einander ablösten zum Besten des über allen schwebenden Ganzen. Jetzt ist, wie es scheint, dieser Vorrang im Wettstreit des europäischen Lebens an Deutsch¬ land übergegangen, das sozusagen wieder an der Reihe war, nachdem es ihn im Mittelalter schon einmal politisch besessen und traurig verloren hatte. Der Umschwung ist aber seit länger als einem Jahrhundert vorbereitet durch die Geistesthaten seit der Genieperiode, deren Wesen recht eigentlich ein leben¬ schaffendes war durch Befreiung des innersten Eigenlebens. Daß dies neue innere Leben nun auch zu einem neuen äußern Leben und Zusammenleben ge¬ worden ist, beweist, daß jeues mit seinem Kern eben rechtes Leben war, auch formschaffend. Es ist mit uns gegangen nach dem Dichterwort im Wallenstein: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut." Unsre Nachbarn können sich, wohl begreiflich, noch nicht darein finden, daß wir nun auch wieder, um ein politisches Bild des siebzehnten Jahrhunderts anzuwenden, das Zünglein im Gleichgewicht der europäischen Wage darstellen, das den Ausschlag giebt, wie das doch schon äußerlich unsrer Mittellage nach uns eigentlich zukommt. Aber wir wissen, dafür bürgt unser ganzes Herkommen und unser in langen Leiden geschulter Geist, was diese Stellung bedeutet, nicht als ein Vorrang zum Behuf äußerer Herrschaft, sondern als hohes Amt im Dienste des Ganzen, das wir gern auch jedem Berufnern abtreten würden. Daß unser großer Staatsmann seine und Deutschlands Aufgabe in diesem Lichte sieht und übt, das kann Europa sehen, wenn es will. Und dieser Geist kann nicht sterben, es ist der rechte deutsche Geist, wie ihn in ihrer Art z. B. schou Leibnitz, Goethe, Herder hatten. Man braucht nicht zu zweifeln, es hebt ein neues großes Leben an. Wir sind schon in dem Stande gewesen, in dem das Altertum war, als sein Leben sich unrettbar zum Eingehen neigte. Aber eben das Zusammenleben der Cultur¬ völker als Mehrheit hat uns glücklich über den gefährlichen Punkt hinweg¬ geholfen und wird weiter helfen. Im Anfang unsers Jahrhunderts sah eine geistvolle Französin, die Stael-Holstein, die Culturmenschheit dem Altern aus¬ gesetzt: II Sö xsut <zu<z . . ig, ^sunosss co Zsurs uumain soit xassve xour ton- ^ours, fügt aber hinzu: (ZöpenäMt on croit, hört-ir äans los 6e.Ms ass ,^1lo- ng.nah uns Hormesss nouvslls (as 3. Buch 9. Ccip.), sie witterte in den Schriften unsrer Dichter und Denker Frühlingsluft für die Menschheit, und jeder von uns kennt ja das aus eigner Erfahrung, hat sie für sein eignes Leben daraus geatmet. Dem Frühling folgt nun der Sommer mit seinen heißen Tagen, seinen Gewitterstürmen und seiner sauren Arbeit. Aber ohne solche Gefahren und saure Arbeit keine Ernte, und es handelt sich um eine neue Ernte für die Menschheit, dafür ist ein Wettbewerb aufgethan groß, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/338>, abgerufen am 24.07.2024.