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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

und wirksam werdend in unzähligen Kreisen, sobald der rechte Anstoß es auf
die Oberfläche treibt. So war es im Jahre 1870, so im Jahre 1813. Mit
wie vielen Hunderten hat man in jenem Jahre, besonders in den Wochen der
ersten Erregung, eng verkehrt, die man nie gesehen oder eben nur gesehen hatte,
und war nun gleich mit ihnen einig und alle mit einander: ein Zusammenleben
im Höchsten, das schon längst vorhanden und still gewachsen war, nun aber in
der Höhe der Gesamtbewegung ausbrach wie eine Blume an ihrem Geburts¬
morgen aus der Knospe, aus der Pflanze, die nur ihretwegen wuchs und wurde.
Und welche Kraft gab das allen über das große Vaterland hinweg, eine Kraft
zu tragen und zu thun, zu glauben und zu opfern, von der in dieser Form
doch keiner vorher in sich eine Ahnung gehabt hatte. So sehr ist rechtes Leben
an Zusammenleben gebunden und ist auch im größten Umfang möglich, weit
über Raum und Zeit hinweg, deren Trennung sich darin aufhebt. Auch die der
Zeit, denn auch zum Leben der Vorzeit stellt sich im Einzelnen ein Verhältnis
her, besonders seit die vaterländische Geschichte durch die Ereignisse unsers Jahr¬
hunderts ein andres Gesicht gewonnen hat, aus dem unser eignes Bild uns
anblickt -- da stellt sich über die Zeitferne hinweg ein Verhältnis her, das wie
ein nachgeholtes Zusammenleben ist oder sich dazu erheben kann.

Das größte Leben endlich? Es müßte aus und mit der größten Gemein¬
schaft kommen, die uns zugänglich ist, also aus der Menschheit. Davon war
im vorigen Jahrhundert viel die Rede als dem Höchsten, in dem der Einzelne
sein rechtes Leben suchen sollte. Jetzt aber ist das aus der Mode gekommen,
zunächst mit Recht, denn man hatte damals über der großen Idee des Welt¬
bürgertums die einzelnen wirklichen Völker zu sehr vergessen, hatte nach Art
jugendlichen Aufschwunges zu rasch in die Höhe gegriffen nach der letzten Ein¬
heit und dabei die gegebene Mannichfaltigkeit hier unten übersehen, aus der die
Einheit sich allein herstellen kann. Diese Mannichfaltigkeit ist denn auch in
unserm Jahrhundert eigentlich erst endeckt worden, sie trat deutlich ans Licht
heraus eben durch den Druck, den der großartige Versuch Napoleons mit sich
brachte, eine Einheit von Frankreich aus ins Leben zu rufen. So kommen nun
die einzelnen Völker, die man der Menschheit gegenüber als Individuen an¬
sehen kann, zu ihrem Selbstbewußtsein und streben nach ihrem Selbstrecht als
Einzelleben, wie man von der modernen Zeit sagt, daß sie mit der Selbst¬
entdeckung des Individuums begonnen habe. Also eine neue Lebensform wird
nötig für das größte Leben, um deren Suchen und Finden sich denn eigentlich
nun alle Politik dreht, wie die Zeitungen täglich nahe legen, oft beunruhigend
genug. Auf alle Fälle ist aber neues großes Leben in Aussicht, größeres als
je, auch reiches und fruchtbares mehr als je, wenn sich die rechten Wege dazu
finden. Mir scheint aber, als ob diese neue Linie der Gesamtbewegung nun auch
schon den rechten Kreis überschritte, innerhalb dessen sie zu dem neuen Höheren
fuhren kann, den sie herstellen helfen soll durch rechtzeitiges Einbiegen, mir ist,


Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

und wirksam werdend in unzähligen Kreisen, sobald der rechte Anstoß es auf
die Oberfläche treibt. So war es im Jahre 1870, so im Jahre 1813. Mit
wie vielen Hunderten hat man in jenem Jahre, besonders in den Wochen der
ersten Erregung, eng verkehrt, die man nie gesehen oder eben nur gesehen hatte,
und war nun gleich mit ihnen einig und alle mit einander: ein Zusammenleben
im Höchsten, das schon längst vorhanden und still gewachsen war, nun aber in
der Höhe der Gesamtbewegung ausbrach wie eine Blume an ihrem Geburts¬
morgen aus der Knospe, aus der Pflanze, die nur ihretwegen wuchs und wurde.
Und welche Kraft gab das allen über das große Vaterland hinweg, eine Kraft
zu tragen und zu thun, zu glauben und zu opfern, von der in dieser Form
doch keiner vorher in sich eine Ahnung gehabt hatte. So sehr ist rechtes Leben
an Zusammenleben gebunden und ist auch im größten Umfang möglich, weit
über Raum und Zeit hinweg, deren Trennung sich darin aufhebt. Auch die der
Zeit, denn auch zum Leben der Vorzeit stellt sich im Einzelnen ein Verhältnis
her, besonders seit die vaterländische Geschichte durch die Ereignisse unsers Jahr¬
hunderts ein andres Gesicht gewonnen hat, aus dem unser eignes Bild uns
anblickt — da stellt sich über die Zeitferne hinweg ein Verhältnis her, das wie
ein nachgeholtes Zusammenleben ist oder sich dazu erheben kann.

Das größte Leben endlich? Es müßte aus und mit der größten Gemein¬
schaft kommen, die uns zugänglich ist, also aus der Menschheit. Davon war
im vorigen Jahrhundert viel die Rede als dem Höchsten, in dem der Einzelne
sein rechtes Leben suchen sollte. Jetzt aber ist das aus der Mode gekommen,
zunächst mit Recht, denn man hatte damals über der großen Idee des Welt¬
bürgertums die einzelnen wirklichen Völker zu sehr vergessen, hatte nach Art
jugendlichen Aufschwunges zu rasch in die Höhe gegriffen nach der letzten Ein¬
heit und dabei die gegebene Mannichfaltigkeit hier unten übersehen, aus der die
Einheit sich allein herstellen kann. Diese Mannichfaltigkeit ist denn auch in
unserm Jahrhundert eigentlich erst endeckt worden, sie trat deutlich ans Licht
heraus eben durch den Druck, den der großartige Versuch Napoleons mit sich
brachte, eine Einheit von Frankreich aus ins Leben zu rufen. So kommen nun
die einzelnen Völker, die man der Menschheit gegenüber als Individuen an¬
sehen kann, zu ihrem Selbstbewußtsein und streben nach ihrem Selbstrecht als
Einzelleben, wie man von der modernen Zeit sagt, daß sie mit der Selbst¬
entdeckung des Individuums begonnen habe. Also eine neue Lebensform wird
nötig für das größte Leben, um deren Suchen und Finden sich denn eigentlich
nun alle Politik dreht, wie die Zeitungen täglich nahe legen, oft beunruhigend
genug. Auf alle Fälle ist aber neues großes Leben in Aussicht, größeres als
je, auch reiches und fruchtbares mehr als je, wenn sich die rechten Wege dazu
finden. Mir scheint aber, als ob diese neue Linie der Gesamtbewegung nun auch
schon den rechten Kreis überschritte, innerhalb dessen sie zu dem neuen Höheren
fuhren kann, den sie herstellen helfen soll durch rechtzeitiges Einbiegen, mir ist,


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[0336] Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen. und wirksam werdend in unzähligen Kreisen, sobald der rechte Anstoß es auf die Oberfläche treibt. So war es im Jahre 1870, so im Jahre 1813. Mit wie vielen Hunderten hat man in jenem Jahre, besonders in den Wochen der ersten Erregung, eng verkehrt, die man nie gesehen oder eben nur gesehen hatte, und war nun gleich mit ihnen einig und alle mit einander: ein Zusammenleben im Höchsten, das schon längst vorhanden und still gewachsen war, nun aber in der Höhe der Gesamtbewegung ausbrach wie eine Blume an ihrem Geburts¬ morgen aus der Knospe, aus der Pflanze, die nur ihretwegen wuchs und wurde. Und welche Kraft gab das allen über das große Vaterland hinweg, eine Kraft zu tragen und zu thun, zu glauben und zu opfern, von der in dieser Form doch keiner vorher in sich eine Ahnung gehabt hatte. So sehr ist rechtes Leben an Zusammenleben gebunden und ist auch im größten Umfang möglich, weit über Raum und Zeit hinweg, deren Trennung sich darin aufhebt. Auch die der Zeit, denn auch zum Leben der Vorzeit stellt sich im Einzelnen ein Verhältnis her, besonders seit die vaterländische Geschichte durch die Ereignisse unsers Jahr¬ hunderts ein andres Gesicht gewonnen hat, aus dem unser eignes Bild uns anblickt — da stellt sich über die Zeitferne hinweg ein Verhältnis her, das wie ein nachgeholtes Zusammenleben ist oder sich dazu erheben kann. Das größte Leben endlich? Es müßte aus und mit der größten Gemein¬ schaft kommen, die uns zugänglich ist, also aus der Menschheit. Davon war im vorigen Jahrhundert viel die Rede als dem Höchsten, in dem der Einzelne sein rechtes Leben suchen sollte. Jetzt aber ist das aus der Mode gekommen, zunächst mit Recht, denn man hatte damals über der großen Idee des Welt¬ bürgertums die einzelnen wirklichen Völker zu sehr vergessen, hatte nach Art jugendlichen Aufschwunges zu rasch in die Höhe gegriffen nach der letzten Ein¬ heit und dabei die gegebene Mannichfaltigkeit hier unten übersehen, aus der die Einheit sich allein herstellen kann. Diese Mannichfaltigkeit ist denn auch in unserm Jahrhundert eigentlich erst endeckt worden, sie trat deutlich ans Licht heraus eben durch den Druck, den der großartige Versuch Napoleons mit sich brachte, eine Einheit von Frankreich aus ins Leben zu rufen. So kommen nun die einzelnen Völker, die man der Menschheit gegenüber als Individuen an¬ sehen kann, zu ihrem Selbstbewußtsein und streben nach ihrem Selbstrecht als Einzelleben, wie man von der modernen Zeit sagt, daß sie mit der Selbst¬ entdeckung des Individuums begonnen habe. Also eine neue Lebensform wird nötig für das größte Leben, um deren Suchen und Finden sich denn eigentlich nun alle Politik dreht, wie die Zeitungen täglich nahe legen, oft beunruhigend genug. Auf alle Fälle ist aber neues großes Leben in Aussicht, größeres als je, auch reiches und fruchtbares mehr als je, wenn sich die rechten Wege dazu finden. Mir scheint aber, als ob diese neue Linie der Gesamtbewegung nun auch schon den rechten Kreis überschritte, innerhalb dessen sie zu dem neuen Höheren fuhren kann, den sie herstellen helfen soll durch rechtzeitiges Einbiegen, mir ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/336>, abgerufen am 01.07.2024.