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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

hingiebt, räumt uns dcivon aus, wie der Gesang, giebt uns ganz uns selbst
wieder durch freie Selbstbewegung, aber nur eben dadurch, daß wir damit in
ein bewegtes Ganze völlig eingehen, nicht um darin aufzugehen, sondern um
es herstellen zu helfen und uns selbst damit und darin ganz wieder zu finden.
So ist das Spiel eine künstlich zusammengesetzte Selbstbewegung, deren Ziel
und Mittelpunkt, deren Selbst eben ganz in ihr selbst ruht, sowohl in den ein¬
zelnen Spielern, wie über ihnen im Ganzen, beides unscheidbar in einander
gehend, wie oben beim Zusammensingen. Es ist denn auch, wie solcher Gesang,
eigentlich ein Kunstwerk, aus lauter Leben hergestellt. Die Bestandteile sind die
Menschen selber, nicht wie dort blos; die Stimmen im Dienst des Kunstsinnes,
sondern die Willen, d. h. recht eigentlich die Menschen selber, aber auch im Dienst
des Kunstsinnes, der bei aller Freiheit der Bewegung die Einzelnen beherrschen, wie
das Ganze durchdringen muß oder genauer aus dem Ganzen ausströmt, das sie
selber vorübergehend herstellen. Und um Goethes Bild vom Leben im bewegten
Kreise anzuwenden, der sich von selbst immer darbot als Bild, so stellt sich ein
Gesellschaftsspiel, wenn man seine Kunstform für die innere Anschauung sucht,
dar als eine Anzahl bewegter Kreise, die scheinbar frei durcheinander, ja gegen¬
einander gehen, für welche die eigne Freiheit selbst der eigentliche Zweck ist,
die aber doch ihre Bewegung und Freiheit angewiesen erhalten von einem
großen Kreise, der alle umhegt und mit seinem Mittelpunkt ihre freien Be¬
wegungen lenkt, sodaß er als höherer in den einzelnen Mittelpunkten wirksam
ist. Sichtbar oder hörbar freilich sind nur die Einzelnen, aber das eigentlich
Wirksame, das allen ihr erhöhtes Leben und ihre Freiheit giebt, ist ein Unsicht¬
bares, das in allen zur Erscheinung kommt, ja das sie alle für den Augenblick
aus sich herstellen.

Was das alles soll? Ja ich habe nicht Lust es auszusprechen, wenn es
sich nicht schon selbst ausgesprochen hat als Spiegel für das große, ernste Leben,
sich selbst darin zu sehen, wie es von Haus aus eigentlich ist und -- überall
und immer auch draußen in der Welt sein könnte, um wirklich Leben zu sein,
wenn es nur den ihm mitgegebenen Winken von Vater und Mutter, Gott und
Natur getreu bliebe. Es ist, dünkt mich, das Einmaleins der Ethik, was aus
dem Spiegel blickt. Wie sich freilich beim Aufsteigen zu immer schwereren
Exempeln in der Schule die Möglichkeit des Verrechnens steigert, so im Leben
die Möglichkeit des Irrens und damit des Elends, je mehr es zu verwickelten
Formen aufsteigt. Aber das Einmaleins bleibt doch das durchgehende Grund-
maß, an dem die Fehler zu erkennen sind, auf das man alle Rechnung zurück¬
zuführen hat. Alle Irrungen im Thun und Denken sind zuletzt Rechenfehler,
am gröbsten aber verrechnet sich der Egoismus.

Nur eine kurze Betrachtung noch, mit Rückgreifen auf die Frage, unsre
Lebensfrage im Eingang, ob unser Leben im Aufsteigen oder im Niedergehen
ist. Auch da stehen zwei Erscheinungen scharf gegen einander.


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

hingiebt, räumt uns dcivon aus, wie der Gesang, giebt uns ganz uns selbst
wieder durch freie Selbstbewegung, aber nur eben dadurch, daß wir damit in
ein bewegtes Ganze völlig eingehen, nicht um darin aufzugehen, sondern um
es herstellen zu helfen und uns selbst damit und darin ganz wieder zu finden.
So ist das Spiel eine künstlich zusammengesetzte Selbstbewegung, deren Ziel
und Mittelpunkt, deren Selbst eben ganz in ihr selbst ruht, sowohl in den ein¬
zelnen Spielern, wie über ihnen im Ganzen, beides unscheidbar in einander
gehend, wie oben beim Zusammensingen. Es ist denn auch, wie solcher Gesang,
eigentlich ein Kunstwerk, aus lauter Leben hergestellt. Die Bestandteile sind die
Menschen selber, nicht wie dort blos; die Stimmen im Dienst des Kunstsinnes,
sondern die Willen, d. h. recht eigentlich die Menschen selber, aber auch im Dienst
des Kunstsinnes, der bei aller Freiheit der Bewegung die Einzelnen beherrschen, wie
das Ganze durchdringen muß oder genauer aus dem Ganzen ausströmt, das sie
selber vorübergehend herstellen. Und um Goethes Bild vom Leben im bewegten
Kreise anzuwenden, der sich von selbst immer darbot als Bild, so stellt sich ein
Gesellschaftsspiel, wenn man seine Kunstform für die innere Anschauung sucht,
dar als eine Anzahl bewegter Kreise, die scheinbar frei durcheinander, ja gegen¬
einander gehen, für welche die eigne Freiheit selbst der eigentliche Zweck ist,
die aber doch ihre Bewegung und Freiheit angewiesen erhalten von einem
großen Kreise, der alle umhegt und mit seinem Mittelpunkt ihre freien Be¬
wegungen lenkt, sodaß er als höherer in den einzelnen Mittelpunkten wirksam
ist. Sichtbar oder hörbar freilich sind nur die Einzelnen, aber das eigentlich
Wirksame, das allen ihr erhöhtes Leben und ihre Freiheit giebt, ist ein Unsicht¬
bares, das in allen zur Erscheinung kommt, ja das sie alle für den Augenblick
aus sich herstellen.

Was das alles soll? Ja ich habe nicht Lust es auszusprechen, wenn es
sich nicht schon selbst ausgesprochen hat als Spiegel für das große, ernste Leben,
sich selbst darin zu sehen, wie es von Haus aus eigentlich ist und — überall
und immer auch draußen in der Welt sein könnte, um wirklich Leben zu sein,
wenn es nur den ihm mitgegebenen Winken von Vater und Mutter, Gott und
Natur getreu bliebe. Es ist, dünkt mich, das Einmaleins der Ethik, was aus
dem Spiegel blickt. Wie sich freilich beim Aufsteigen zu immer schwereren
Exempeln in der Schule die Möglichkeit des Verrechnens steigert, so im Leben
die Möglichkeit des Irrens und damit des Elends, je mehr es zu verwickelten
Formen aufsteigt. Aber das Einmaleins bleibt doch das durchgehende Grund-
maß, an dem die Fehler zu erkennen sind, auf das man alle Rechnung zurück¬
zuführen hat. Alle Irrungen im Thun und Denken sind zuletzt Rechenfehler,
am gröbsten aber verrechnet sich der Egoismus.

Nur eine kurze Betrachtung noch, mit Rückgreifen auf die Frage, unsre
Lebensfrage im Eingang, ob unser Leben im Aufsteigen oder im Niedergehen
ist. Auch da stehen zwei Erscheinungen scharf gegen einander.


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[0332] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. hingiebt, räumt uns dcivon aus, wie der Gesang, giebt uns ganz uns selbst wieder durch freie Selbstbewegung, aber nur eben dadurch, daß wir damit in ein bewegtes Ganze völlig eingehen, nicht um darin aufzugehen, sondern um es herstellen zu helfen und uns selbst damit und darin ganz wieder zu finden. So ist das Spiel eine künstlich zusammengesetzte Selbstbewegung, deren Ziel und Mittelpunkt, deren Selbst eben ganz in ihr selbst ruht, sowohl in den ein¬ zelnen Spielern, wie über ihnen im Ganzen, beides unscheidbar in einander gehend, wie oben beim Zusammensingen. Es ist denn auch, wie solcher Gesang, eigentlich ein Kunstwerk, aus lauter Leben hergestellt. Die Bestandteile sind die Menschen selber, nicht wie dort blos; die Stimmen im Dienst des Kunstsinnes, sondern die Willen, d. h. recht eigentlich die Menschen selber, aber auch im Dienst des Kunstsinnes, der bei aller Freiheit der Bewegung die Einzelnen beherrschen, wie das Ganze durchdringen muß oder genauer aus dem Ganzen ausströmt, das sie selber vorübergehend herstellen. Und um Goethes Bild vom Leben im bewegten Kreise anzuwenden, der sich von selbst immer darbot als Bild, so stellt sich ein Gesellschaftsspiel, wenn man seine Kunstform für die innere Anschauung sucht, dar als eine Anzahl bewegter Kreise, die scheinbar frei durcheinander, ja gegen¬ einander gehen, für welche die eigne Freiheit selbst der eigentliche Zweck ist, die aber doch ihre Bewegung und Freiheit angewiesen erhalten von einem großen Kreise, der alle umhegt und mit seinem Mittelpunkt ihre freien Be¬ wegungen lenkt, sodaß er als höherer in den einzelnen Mittelpunkten wirksam ist. Sichtbar oder hörbar freilich sind nur die Einzelnen, aber das eigentlich Wirksame, das allen ihr erhöhtes Leben und ihre Freiheit giebt, ist ein Unsicht¬ bares, das in allen zur Erscheinung kommt, ja das sie alle für den Augenblick aus sich herstellen. Was das alles soll? Ja ich habe nicht Lust es auszusprechen, wenn es sich nicht schon selbst ausgesprochen hat als Spiegel für das große, ernste Leben, sich selbst darin zu sehen, wie es von Haus aus eigentlich ist und — überall und immer auch draußen in der Welt sein könnte, um wirklich Leben zu sein, wenn es nur den ihm mitgegebenen Winken von Vater und Mutter, Gott und Natur getreu bliebe. Es ist, dünkt mich, das Einmaleins der Ethik, was aus dem Spiegel blickt. Wie sich freilich beim Aufsteigen zu immer schwereren Exempeln in der Schule die Möglichkeit des Verrechnens steigert, so im Leben die Möglichkeit des Irrens und damit des Elends, je mehr es zu verwickelten Formen aufsteigt. Aber das Einmaleins bleibt doch das durchgehende Grund- maß, an dem die Fehler zu erkennen sind, auf das man alle Rechnung zurück¬ zuführen hat. Alle Irrungen im Thun und Denken sind zuletzt Rechenfehler, am gröbsten aber verrechnet sich der Egoismus. Nur eine kurze Betrachtung noch, mit Rückgreifen auf die Frage, unsre Lebensfrage im Eingang, ob unser Leben im Aufsteigen oder im Niedergehen ist. Auch da stehen zwei Erscheinungen scharf gegen einander.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/332>, abgerufen am 02.07.2024.