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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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TagebuchblLtter eines Sonntagsxhilosophen.

Auf der einen Seite steht der Satz, mit dem man allgemein als einem
sicheren arbeitet, es sei das Charakterzeichcn der modernen Zeit, zuerst in Italien
erkennbar, im Vergleich mit dem Mittelalter und dem Altertum, daß da nun
das Individuum zu seinem vollen Selbstbewußtsein und Selbstrechte komme
aus einer Gebundenheit ins Ganze heraus, die vordem die Geister und Willen
gefangen gehalten habe. Gut, ich habe nichts dagegen und habe mich genug
darum bemüht, zu sehen, was daran das Wahre und Rechte ist. Aber -- es
hängt sich ein großes Aber daran -- ist das nicht wieder einmal eine Linie,
die zu geradlinig fortgesetzt in Irrtum und Verderben führt, wie das in der
Geschichte der Menschheit sich so oft als verhängnisvoll gezeigt hat? Ich glaube,
unsre Zeit läßt genügend erkennen, daß die Linie schon den Kreis überschritten
hat, innerhalb dessen sie berechtigt und förderlich ist. Man hört nun öfter
schon von Atomismus in der Geisterwelt reden, der zu nichts anderen führt,
als zur Auflösung des gegebenen Ganzen, zum Eingehen des Lebens für das
Ganze und für die Einzelnen. Um kurz zu sein, da darüber recht viel zu sagen
wäre, will ich mir erinnern, daß schon Goethe das mit Bangen kommen sah
und öfter davon spricht, z. B. in der Natürlichen Tochter im achten Auftritt
des fünften Auszugs durch den Mund der Eugenie:


Diesem Reiche droht
Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben
Gesngim Elemente wollen sich
Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft
Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.
Sie fliehen sich und einzeln tritt nun jedes
Kalt in sich selbst zurück.

Dagegen steht aber zum Trost ein andres Zeichen, ein rechtes Lebens¬
zeichen, das etwa seit einem Menschenalter immer deutlicher auftritt, eine
Wirkung der bittern Enttäuschung, die das klägliche Scheitern der Achtund¬
vierziger Bewegung hinterließ, ich meine die Entwicklung des Vereinslebens in
mannichfaltigstcr Form, ein rechtes Lebenszeichen wie gesagt, da alles rechte
Leben in seinem Aufsteigen ein Zusammenleben sein muß. Dort streben die
einzelnen Kräfte aus eiuciuder, um jede für sich eine Welt darzustellen, d. h. sie
streben in das Unmögliche hinaus; hier streben sie zu einander, um im Zu¬
sammen kleine Welten zu bilden, die wieder zu einer großen Welt zusammen¬
streben. Und diese unsre große Welt ist nun auch fertig als weite Form für
alle Bewegung, der Kreis, der alle einzelnen Kreise umhegt und ihnen ihre freie
Bewegung sichert und lenkt, wir sind nun wie ein großer Verein. Die ato-
mistische Richtung haben wir als Volk hinter uns, Jahrhunderte lang haben
innere und äußere Einflüsse daran gearbeitet, das alte Zusammenleben auf¬
zulösen und uns in die Vereinzelung hinein zu ziehen, zu der die deutsche Art
ohnehin von Haus aus neigt. Aber wir kennen den Schaden dieser Neigung


TagebuchblLtter eines Sonntagsxhilosophen.

Auf der einen Seite steht der Satz, mit dem man allgemein als einem
sicheren arbeitet, es sei das Charakterzeichcn der modernen Zeit, zuerst in Italien
erkennbar, im Vergleich mit dem Mittelalter und dem Altertum, daß da nun
das Individuum zu seinem vollen Selbstbewußtsein und Selbstrechte komme
aus einer Gebundenheit ins Ganze heraus, die vordem die Geister und Willen
gefangen gehalten habe. Gut, ich habe nichts dagegen und habe mich genug
darum bemüht, zu sehen, was daran das Wahre und Rechte ist. Aber — es
hängt sich ein großes Aber daran — ist das nicht wieder einmal eine Linie,
die zu geradlinig fortgesetzt in Irrtum und Verderben führt, wie das in der
Geschichte der Menschheit sich so oft als verhängnisvoll gezeigt hat? Ich glaube,
unsre Zeit läßt genügend erkennen, daß die Linie schon den Kreis überschritten
hat, innerhalb dessen sie berechtigt und förderlich ist. Man hört nun öfter
schon von Atomismus in der Geisterwelt reden, der zu nichts anderen führt,
als zur Auflösung des gegebenen Ganzen, zum Eingehen des Lebens für das
Ganze und für die Einzelnen. Um kurz zu sein, da darüber recht viel zu sagen
wäre, will ich mir erinnern, daß schon Goethe das mit Bangen kommen sah
und öfter davon spricht, z. B. in der Natürlichen Tochter im achten Auftritt
des fünften Auszugs durch den Mund der Eugenie:


Diesem Reiche droht
Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben
Gesngim Elemente wollen sich
Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft
Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.
Sie fliehen sich und einzeln tritt nun jedes
Kalt in sich selbst zurück.

Dagegen steht aber zum Trost ein andres Zeichen, ein rechtes Lebens¬
zeichen, das etwa seit einem Menschenalter immer deutlicher auftritt, eine
Wirkung der bittern Enttäuschung, die das klägliche Scheitern der Achtund¬
vierziger Bewegung hinterließ, ich meine die Entwicklung des Vereinslebens in
mannichfaltigstcr Form, ein rechtes Lebenszeichen wie gesagt, da alles rechte
Leben in seinem Aufsteigen ein Zusammenleben sein muß. Dort streben die
einzelnen Kräfte aus eiuciuder, um jede für sich eine Welt darzustellen, d. h. sie
streben in das Unmögliche hinaus; hier streben sie zu einander, um im Zu¬
sammen kleine Welten zu bilden, die wieder zu einer großen Welt zusammen¬
streben. Und diese unsre große Welt ist nun auch fertig als weite Form für
alle Bewegung, der Kreis, der alle einzelnen Kreise umhegt und ihnen ihre freie
Bewegung sichert und lenkt, wir sind nun wie ein großer Verein. Die ato-
mistische Richtung haben wir als Volk hinter uns, Jahrhunderte lang haben
innere und äußere Einflüsse daran gearbeitet, das alte Zusammenleben auf¬
zulösen und uns in die Vereinzelung hinein zu ziehen, zu der die deutsche Art
ohnehin von Haus aus neigt. Aber wir kennen den Schaden dieser Neigung


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[0333] TagebuchblLtter eines Sonntagsxhilosophen. Auf der einen Seite steht der Satz, mit dem man allgemein als einem sicheren arbeitet, es sei das Charakterzeichcn der modernen Zeit, zuerst in Italien erkennbar, im Vergleich mit dem Mittelalter und dem Altertum, daß da nun das Individuum zu seinem vollen Selbstbewußtsein und Selbstrechte komme aus einer Gebundenheit ins Ganze heraus, die vordem die Geister und Willen gefangen gehalten habe. Gut, ich habe nichts dagegen und habe mich genug darum bemüht, zu sehen, was daran das Wahre und Rechte ist. Aber — es hängt sich ein großes Aber daran — ist das nicht wieder einmal eine Linie, die zu geradlinig fortgesetzt in Irrtum und Verderben führt, wie das in der Geschichte der Menschheit sich so oft als verhängnisvoll gezeigt hat? Ich glaube, unsre Zeit läßt genügend erkennen, daß die Linie schon den Kreis überschritten hat, innerhalb dessen sie berechtigt und förderlich ist. Man hört nun öfter schon von Atomismus in der Geisterwelt reden, der zu nichts anderen führt, als zur Auflösung des gegebenen Ganzen, zum Eingehen des Lebens für das Ganze und für die Einzelnen. Um kurz zu sein, da darüber recht viel zu sagen wäre, will ich mir erinnern, daß schon Goethe das mit Bangen kommen sah und öfter davon spricht, z. B. in der Natürlichen Tochter im achten Auftritt des fünften Auszugs durch den Mund der Eugenie: Diesem Reiche droht Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben Gesngim Elemente wollen sich Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft Zu stets erneuter Einigkeit umfangen. Sie fliehen sich und einzeln tritt nun jedes Kalt in sich selbst zurück. Dagegen steht aber zum Trost ein andres Zeichen, ein rechtes Lebens¬ zeichen, das etwa seit einem Menschenalter immer deutlicher auftritt, eine Wirkung der bittern Enttäuschung, die das klägliche Scheitern der Achtund¬ vierziger Bewegung hinterließ, ich meine die Entwicklung des Vereinslebens in mannichfaltigstcr Form, ein rechtes Lebenszeichen wie gesagt, da alles rechte Leben in seinem Aufsteigen ein Zusammenleben sein muß. Dort streben die einzelnen Kräfte aus eiuciuder, um jede für sich eine Welt darzustellen, d. h. sie streben in das Unmögliche hinaus; hier streben sie zu einander, um im Zu¬ sammen kleine Welten zu bilden, die wieder zu einer großen Welt zusammen¬ streben. Und diese unsre große Welt ist nun auch fertig als weite Form für alle Bewegung, der Kreis, der alle einzelnen Kreise umhegt und ihnen ihre freie Bewegung sichert und lenkt, wir sind nun wie ein großer Verein. Die ato- mistische Richtung haben wir als Volk hinter uns, Jahrhunderte lang haben innere und äußere Einflüsse daran gearbeitet, das alte Zusammenleben auf¬ zulösen und uns in die Vereinzelung hinein zu ziehen, zu der die deutsche Art ohnehin von Haus aus neigt. Aber wir kennen den Schaden dieser Neigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/333>, abgerufen am 29.06.2024.