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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Karl Friedrich Bahrdt.

war seine Leitung nicht zum Vorteil; er war nicht umsonst in die Klotzische
Schule gegangen und wußte die Klotzischen Praktiken auch sofort hier anzu¬
wenden. In jedem Betracht fiel der Jahrgang 1773 gründlich gegen seinen
Vorgänger ab; verschwunden war, um mit Scherer zu sprechen, der freie, hu¬
mane Geist und hatte von vornherein dem akademischen Zunfttreiben Platz
gemacht. "Wie sich da alles um Bahrdt dreht, wie seine Freunde gelobt, seine
Feinde getadelt werden! Da wird der Jurist Koch in Gießen über den grünen
Klee gelobt: er war Bahrdts Kollege und Freund und es wurde ans Rezen¬
sionen von ihm gerechnet, die vermutlich auch vorhanden sind. Im zweiten
Blatte geht es über den Professor Schulz in Gießen her: kollegialische Liebens¬
würdigkeit! Im dritten Blatte über den Prediger Schwarz in Gießen: ebenso.
Im vierten Blatte über den Professor Ouvrier: desgleichen. Und welche Mühe
hat die Redaktion, ihre Nummern zu füllen! Wie merkt man überall die kläg¬
lichste Armut! Wie eng ist der Gesichtskreis geworden!" In jedem Winkel
dieses Hauses wehte in der That eine andre Luft, und es war für das Blatt
ein Glück, daß Bahrdt im nächsten Jahre durch seine Allgemeine theologische
Bibliothek, für welche er aufs ungenirteste Nicolais Bibliothek plünderte, so in
Anspruch genommen war, daß er seine weitere Mitarbeit einstellte.

In dieselbe Zeit fällt die Entstehung von Bahrdts berüchtigtsten Buche,
seiner Übersetzung des Neuen Testaments, welche unter dem Titel: "Die neuesten
Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen" von 1772 bis 1775
herauskam und rasch in mehreren Auflagen Verbreitung faud. "Mein Zweck
war -- heißt es in der Vorrede --, den Freunden der liebenswürdigsten Re¬
ligion eine solche Übersetzung in die Hände zu geben, welche sie ohne Kommentar
verstehen könnten. . . . Der Leser, der den Grundtext nicht versteht und gern
ohne weiteres Nachschlagen und Forschen den Sinn der heiligen Schriften gerade
vor Augen haben möchte..., will nicht genötigt sein, über einen Ausdruck
seitenlange Anmerkungen zu lesen oder Kommentare zu Rate zu ziehen. ... Es
ist ihm zu seinem Zwecke gleichgiltig, was im Original eigentlich für eine
Wortfügung stehe, wenn er mir in einem gleichgeltcnden reinen deutschen^)
Ausdrucke den wahren Gedanken des Schriftstellers findet." In diesen
"Neuesten Offenbarungen" nun war das Neue Testament geradezu unter
Wasser gesetzt, war sein Inhalt mit so dreister wie seichter Geschwätzig¬
keit echt Bahrdtisch verfälscht worden. Bahrdt übersetzt das Wort Christi:
Selig sind, die da Leid tragen: "Wohl denen, welche die süßen Melancho¬
lien der Tugend den rauschenden Freuden des Lasters vorziehen"; er "über-



*) Im Widerspruch mit diesem Grundsätze übersetzt Bahrdt den Anfang des Johannes-
Evangeliums: "Der Logus war schon beim Entstehen dieser Welt. . , . Denn es war nur
Gott und der Logus," läßt also zweimal das sonderbar latinisirte Fremdwort stehen. Akts
einen möglichen Zusammenhang dieser Vahrdlschen Nicht-Übersetzung mit der 1,"/o?-tiber-
setzung im "Faust" hat Biedermann im Goethe-Jahrbuch IV, S. 345 hingewiesen.
Karl Friedrich Bahrdt.

war seine Leitung nicht zum Vorteil; er war nicht umsonst in die Klotzische
Schule gegangen und wußte die Klotzischen Praktiken auch sofort hier anzu¬
wenden. In jedem Betracht fiel der Jahrgang 1773 gründlich gegen seinen
Vorgänger ab; verschwunden war, um mit Scherer zu sprechen, der freie, hu¬
mane Geist und hatte von vornherein dem akademischen Zunfttreiben Platz
gemacht. „Wie sich da alles um Bahrdt dreht, wie seine Freunde gelobt, seine
Feinde getadelt werden! Da wird der Jurist Koch in Gießen über den grünen
Klee gelobt: er war Bahrdts Kollege und Freund und es wurde ans Rezen¬
sionen von ihm gerechnet, die vermutlich auch vorhanden sind. Im zweiten
Blatte geht es über den Professor Schulz in Gießen her: kollegialische Liebens¬
würdigkeit! Im dritten Blatte über den Prediger Schwarz in Gießen: ebenso.
Im vierten Blatte über den Professor Ouvrier: desgleichen. Und welche Mühe
hat die Redaktion, ihre Nummern zu füllen! Wie merkt man überall die kläg¬
lichste Armut! Wie eng ist der Gesichtskreis geworden!" In jedem Winkel
dieses Hauses wehte in der That eine andre Luft, und es war für das Blatt
ein Glück, daß Bahrdt im nächsten Jahre durch seine Allgemeine theologische
Bibliothek, für welche er aufs ungenirteste Nicolais Bibliothek plünderte, so in
Anspruch genommen war, daß er seine weitere Mitarbeit einstellte.

In dieselbe Zeit fällt die Entstehung von Bahrdts berüchtigtsten Buche,
seiner Übersetzung des Neuen Testaments, welche unter dem Titel: „Die neuesten
Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen" von 1772 bis 1775
herauskam und rasch in mehreren Auflagen Verbreitung faud. „Mein Zweck
war — heißt es in der Vorrede —, den Freunden der liebenswürdigsten Re¬
ligion eine solche Übersetzung in die Hände zu geben, welche sie ohne Kommentar
verstehen könnten. . . . Der Leser, der den Grundtext nicht versteht und gern
ohne weiteres Nachschlagen und Forschen den Sinn der heiligen Schriften gerade
vor Augen haben möchte..., will nicht genötigt sein, über einen Ausdruck
seitenlange Anmerkungen zu lesen oder Kommentare zu Rate zu ziehen. ... Es
ist ihm zu seinem Zwecke gleichgiltig, was im Original eigentlich für eine
Wortfügung stehe, wenn er mir in einem gleichgeltcnden reinen deutschen^)
Ausdrucke den wahren Gedanken des Schriftstellers findet." In diesen
„Neuesten Offenbarungen" nun war das Neue Testament geradezu unter
Wasser gesetzt, war sein Inhalt mit so dreister wie seichter Geschwätzig¬
keit echt Bahrdtisch verfälscht worden. Bahrdt übersetzt das Wort Christi:
Selig sind, die da Leid tragen: „Wohl denen, welche die süßen Melancho¬
lien der Tugend den rauschenden Freuden des Lasters vorziehen"; er „über-



*) Im Widerspruch mit diesem Grundsätze übersetzt Bahrdt den Anfang des Johannes-
Evangeliums: „Der Logus war schon beim Entstehen dieser Welt. . , . Denn es war nur
Gott und der Logus," läßt also zweimal das sonderbar latinisirte Fremdwort stehen. Akts
einen möglichen Zusammenhang dieser Vahrdlschen Nicht-Übersetzung mit der 1,»/o?-tiber-
setzung im „Faust" hat Biedermann im Goethe-Jahrbuch IV, S. 345 hingewiesen.
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[0029] Karl Friedrich Bahrdt. war seine Leitung nicht zum Vorteil; er war nicht umsonst in die Klotzische Schule gegangen und wußte die Klotzischen Praktiken auch sofort hier anzu¬ wenden. In jedem Betracht fiel der Jahrgang 1773 gründlich gegen seinen Vorgänger ab; verschwunden war, um mit Scherer zu sprechen, der freie, hu¬ mane Geist und hatte von vornherein dem akademischen Zunfttreiben Platz gemacht. „Wie sich da alles um Bahrdt dreht, wie seine Freunde gelobt, seine Feinde getadelt werden! Da wird der Jurist Koch in Gießen über den grünen Klee gelobt: er war Bahrdts Kollege und Freund und es wurde ans Rezen¬ sionen von ihm gerechnet, die vermutlich auch vorhanden sind. Im zweiten Blatte geht es über den Professor Schulz in Gießen her: kollegialische Liebens¬ würdigkeit! Im dritten Blatte über den Prediger Schwarz in Gießen: ebenso. Im vierten Blatte über den Professor Ouvrier: desgleichen. Und welche Mühe hat die Redaktion, ihre Nummern zu füllen! Wie merkt man überall die kläg¬ lichste Armut! Wie eng ist der Gesichtskreis geworden!" In jedem Winkel dieses Hauses wehte in der That eine andre Luft, und es war für das Blatt ein Glück, daß Bahrdt im nächsten Jahre durch seine Allgemeine theologische Bibliothek, für welche er aufs ungenirteste Nicolais Bibliothek plünderte, so in Anspruch genommen war, daß er seine weitere Mitarbeit einstellte. In dieselbe Zeit fällt die Entstehung von Bahrdts berüchtigtsten Buche, seiner Übersetzung des Neuen Testaments, welche unter dem Titel: „Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen" von 1772 bis 1775 herauskam und rasch in mehreren Auflagen Verbreitung faud. „Mein Zweck war — heißt es in der Vorrede —, den Freunden der liebenswürdigsten Re¬ ligion eine solche Übersetzung in die Hände zu geben, welche sie ohne Kommentar verstehen könnten. . . . Der Leser, der den Grundtext nicht versteht und gern ohne weiteres Nachschlagen und Forschen den Sinn der heiligen Schriften gerade vor Augen haben möchte..., will nicht genötigt sein, über einen Ausdruck seitenlange Anmerkungen zu lesen oder Kommentare zu Rate zu ziehen. ... Es ist ihm zu seinem Zwecke gleichgiltig, was im Original eigentlich für eine Wortfügung stehe, wenn er mir in einem gleichgeltcnden reinen deutschen^) Ausdrucke den wahren Gedanken des Schriftstellers findet." In diesen „Neuesten Offenbarungen" nun war das Neue Testament geradezu unter Wasser gesetzt, war sein Inhalt mit so dreister wie seichter Geschwätzig¬ keit echt Bahrdtisch verfälscht worden. Bahrdt übersetzt das Wort Christi: Selig sind, die da Leid tragen: „Wohl denen, welche die süßen Melancho¬ lien der Tugend den rauschenden Freuden des Lasters vorziehen"; er „über- *) Im Widerspruch mit diesem Grundsätze übersetzt Bahrdt den Anfang des Johannes- Evangeliums: „Der Logus war schon beim Entstehen dieser Welt. . , . Denn es war nur Gott und der Logus," läßt also zweimal das sonderbar latinisirte Fremdwort stehen. Akts einen möglichen Zusammenhang dieser Vahrdlschen Nicht-Übersetzung mit der 1,»/o?-tiber- setzung im „Faust" hat Biedermann im Goethe-Jahrbuch IV, S. 345 hingewiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/29>, abgerufen am 27.06.2024.