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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Weiteren, auch über dieses Leben hinaus. Nichts liegt jedem von uns näher
und dringender auf als Aufgabe, als diese Wissenschaft vom Leben, man nennt
es gewöhnlich Welt- und Menschenkenntnis, wobei doch die Hauptsache nicht
mit inbegriffen ist, die rechte Kenntnis und Führung des eignen Lebens, das
allerdings vom großen Gesamtleben so eng abhängt, daß eins fortwährend ins
andre greift. Nichts liegt uns auch näher, als der bei dem Studium zu ver¬
arbeitende Stoff, das Leben, denn wir stecken ja recht eigentlich mitten darin,
im großen und kleinen Leben, ja wir sind selber Leben, kleines und großes
gemischt. Und doch läßt sich auch davon sagen, was der Dichter vom vollen
Menschenleben sagt: "Ein jeder lebts, nicht vielen ists bekannt." Aber eben
die Dichter, die rechten Dichter, sind von jeher in dieser Wissenschaft und Kunst
die besten Kenner und Forscher. Von allen unsern großen Dichtern läßt sich
sagen und ließe sich ausführen, daß sie bei ihrem Dichten und Trachten zuletzt
eigentlich die rechte naturgegebene, gottgewollte Gestalt des Lebens und die
Kunst des Lebens gesucht haben, für sich und die andern, von Klopstock und
Wieland, Lessing und Herder, Schiller und Goethe. In besonderm Grade gilt
dies von den beiden letzten, vorzugsweise von Goethe, der länger oder mehr
gelebt hat, von innen und außen, als die andern, und dem "Leben" geradezu
der bestimmende Schwerpunkt im Gleichgewicht seiner reichen Gedankenwelt
wurde, wie seinem Freunde die Idee, das Ideal. So kann er auch hier den
Ausgangspunkt der versuchten Betrachtung geben.

1. Vom Einzelleben.

Einzelleben, dies Wort, das man nun zuweilen findet für das gespreizte
und verdunkelte fremde Individuum, Individualität (bei Fichte in den Reden
"einzelnes Leben"), ist mir hier willkommen, es sagt so hübsch gleich selbst mit,
daß das Einzelleben als solches ein vereinzeltes ist, das sich selbst nicht genügen
kann, obschon wir beim erwachenden Bewußtsein (nicht in unsrer Herkunft) damit
anfangen, um damit immer weiter aufzugreifen. Goethen ist es ein Gegenstand
der Beobachtung gewesen, wie Wenigen, vielleicht Keinem wieder so, das Leben,
das heißt zugleich er selbst, das Leben in ihm.

Wie zusammenfassend für seine gewonnenen Einsichten ist eine lehrhafte,
nicht beiläufige Äußerung darüber vom Jahre 1822 (f. 19, 221 und 30, 130
Hempel): "Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben,
ist das Leben, die rotirende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder
Rast noch Ruhe kennt. Der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist
einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch bleibt
uns und andern ein Geheimnis."

Da fällt wohl zunächst auf, wie neben dem bestimmt anerkannten unnah¬
baren Geheimnis doch eine Art naturphilosophischer Beschreibung ebenso bestimmt
gegeben wird, allerdings nur der Erscheinungsform, nicht dem Wesen nach, in


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Weiteren, auch über dieses Leben hinaus. Nichts liegt jedem von uns näher
und dringender auf als Aufgabe, als diese Wissenschaft vom Leben, man nennt
es gewöhnlich Welt- und Menschenkenntnis, wobei doch die Hauptsache nicht
mit inbegriffen ist, die rechte Kenntnis und Führung des eignen Lebens, das
allerdings vom großen Gesamtleben so eng abhängt, daß eins fortwährend ins
andre greift. Nichts liegt uns auch näher, als der bei dem Studium zu ver¬
arbeitende Stoff, das Leben, denn wir stecken ja recht eigentlich mitten darin,
im großen und kleinen Leben, ja wir sind selber Leben, kleines und großes
gemischt. Und doch läßt sich auch davon sagen, was der Dichter vom vollen
Menschenleben sagt: „Ein jeder lebts, nicht vielen ists bekannt." Aber eben
die Dichter, die rechten Dichter, sind von jeher in dieser Wissenschaft und Kunst
die besten Kenner und Forscher. Von allen unsern großen Dichtern läßt sich
sagen und ließe sich ausführen, daß sie bei ihrem Dichten und Trachten zuletzt
eigentlich die rechte naturgegebene, gottgewollte Gestalt des Lebens und die
Kunst des Lebens gesucht haben, für sich und die andern, von Klopstock und
Wieland, Lessing und Herder, Schiller und Goethe. In besonderm Grade gilt
dies von den beiden letzten, vorzugsweise von Goethe, der länger oder mehr
gelebt hat, von innen und außen, als die andern, und dem „Leben" geradezu
der bestimmende Schwerpunkt im Gleichgewicht seiner reichen Gedankenwelt
wurde, wie seinem Freunde die Idee, das Ideal. So kann er auch hier den
Ausgangspunkt der versuchten Betrachtung geben.

1. Vom Einzelleben.

Einzelleben, dies Wort, das man nun zuweilen findet für das gespreizte
und verdunkelte fremde Individuum, Individualität (bei Fichte in den Reden
„einzelnes Leben"), ist mir hier willkommen, es sagt so hübsch gleich selbst mit,
daß das Einzelleben als solches ein vereinzeltes ist, das sich selbst nicht genügen
kann, obschon wir beim erwachenden Bewußtsein (nicht in unsrer Herkunft) damit
anfangen, um damit immer weiter aufzugreifen. Goethen ist es ein Gegenstand
der Beobachtung gewesen, wie Wenigen, vielleicht Keinem wieder so, das Leben,
das heißt zugleich er selbst, das Leben in ihm.

Wie zusammenfassend für seine gewonnenen Einsichten ist eine lehrhafte,
nicht beiläufige Äußerung darüber vom Jahre 1822 (f. 19, 221 und 30, 130
Hempel): „Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben,
ist das Leben, die rotirende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder
Rast noch Ruhe kennt. Der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist
einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch bleibt
uns und andern ein Geheimnis."

Da fällt wohl zunächst auf, wie neben dem bestimmt anerkannten unnah¬
baren Geheimnis doch eine Art naturphilosophischer Beschreibung ebenso bestimmt
gegeben wird, allerdings nur der Erscheinungsform, nicht dem Wesen nach, in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/267>, abgerufen am 03.07.2024.