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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosophen.

wie die männliche Jugend, die doch der lebendigste Teil sein müßte, immer mehr
mit Unlust an das Tanzen geht und sich lieber auf die Seite zurückzieht und --
denkt, Ernstes oder Lustiges (noch lieber beim Trinken und Rauchen), ist das
Lust zur Bewegung? Zur Selbstbewegung in Kunstform, wie doch das Tanzen
sein soll, freilich längst nicht mehr ist? Oder wenn in gebildeter Gesellschaft,
die doch für alle andern das Muster des Lebens geben soll, der gute Ton es
mit sich bringt, daß man beim Verkehr sich mit Mienen und Geberden und
mit der Stimme ja nicht lebhaft werden lasse, sodaß man da von Jugend auf
lebhaftes Gebaren als Ausdruck lebhaft empfindender Teilnahme an den Dingen
und damit das lebhafte Empfinden selber verlernen muß, ist das nicht Scheu
vor Bewegung, vor Selbstbewegung, wie die Unlust zum Tanzen? Cultur ist
das, aber Leben, rechtes Leben ist es nicht. Und wenn man etwa zum Trost
dafür an das wachsende Leben im Theater und Concert denkt, wo die Dar¬
stellung alles Äußern auf der Bühne immer lebensvoller, die Musik immer
rauschender wird, ist das wirkliches Leben? Ist es nicht vielmehr ein Zeichen,
daß das Innenleben abnimmt, weil es ein mitschaffendes Ergänzen dessen, was
in Auge und Ohr kommt, nicht mehr vermag und immer mehr verlernt? also
die freie eigne Jnnenbewegung immer mehr verliert, die doch die Quelle alles
Lebens ist? Auch die Scheu vor lebhaften Farben, d. h, vor der wirklichen
Farbe, die unsre städtische Welt beherrscht, so weit es Kleidung und Haus be¬
trifft, ist eine Scheu vor vollem Leben, ein Einziehen der eignen Jnnenbewegung.
Unser Denken freilich ist bewegter wohl als je. Aber wenn nur Denken und
Leben so schlechtweg eins wären, ja dann stünde es gut. Sie stehen aber leider
gern in einem Verhältnis des Widerspruchs. Sie solltens freilich nicht, brauchens
auch nicht, denkendes Leben und lebendiges Denken wären das Rechte und sind
das Kennzeichen gesunder und glücklicher Zeiten beim Einzelnen wie bei Völkern.
Aber unser Denken ist zu sehr Kritik geworden, die dem Lebendigen gern un¬
gläubig zu Leibe, ans Leben geht, die auch alles Lebendige annagen oder
wenigstens ans Leben in bloßes Denken und Wissen umsetzen will. Das alles
und vieles sonst noch sind sichere Spuren von eingehendem Leben, von be¬
ginnendem oder begonnenen Alter. Wer hilft uns heraus? Stöße von außen
können das thun, die unser Lebensgefüge durch gefahrdrohende Erschütterung
wieder einmal in sein natürliches Gleichgewicht zwingen, wie uns ja der letzte
Krieg zugleich zu einem Aufrütteln und Wiedereinrenken in ein frisches Leben
geworden ist. Ein alterschwaches Gefüge wird dnrch solche Stöße zerstört, ein
lebensfähiges neu belebt. Aber auch von innen kann es die Wissenschaft thun
als Wissenschaft vom Leben, zugleich als das Gewissen der Zeit, und das sollte
alle Wissenschaft sein, ist es auch zum Glück vielfältig oder wird es.

Eine Wissenschaft und Lehre vom Leben braucht aber schon jeder für sich,
für sein eigenstes Leben, um damit zur Kunst des Lebens zu kommen, die man
als höchstes Ziel dieses Lebens ansehen kann, zugleich als Durchgang zu allem


Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosophen.

wie die männliche Jugend, die doch der lebendigste Teil sein müßte, immer mehr
mit Unlust an das Tanzen geht und sich lieber auf die Seite zurückzieht und —
denkt, Ernstes oder Lustiges (noch lieber beim Trinken und Rauchen), ist das
Lust zur Bewegung? Zur Selbstbewegung in Kunstform, wie doch das Tanzen
sein soll, freilich längst nicht mehr ist? Oder wenn in gebildeter Gesellschaft,
die doch für alle andern das Muster des Lebens geben soll, der gute Ton es
mit sich bringt, daß man beim Verkehr sich mit Mienen und Geberden und
mit der Stimme ja nicht lebhaft werden lasse, sodaß man da von Jugend auf
lebhaftes Gebaren als Ausdruck lebhaft empfindender Teilnahme an den Dingen
und damit das lebhafte Empfinden selber verlernen muß, ist das nicht Scheu
vor Bewegung, vor Selbstbewegung, wie die Unlust zum Tanzen? Cultur ist
das, aber Leben, rechtes Leben ist es nicht. Und wenn man etwa zum Trost
dafür an das wachsende Leben im Theater und Concert denkt, wo die Dar¬
stellung alles Äußern auf der Bühne immer lebensvoller, die Musik immer
rauschender wird, ist das wirkliches Leben? Ist es nicht vielmehr ein Zeichen,
daß das Innenleben abnimmt, weil es ein mitschaffendes Ergänzen dessen, was
in Auge und Ohr kommt, nicht mehr vermag und immer mehr verlernt? also
die freie eigne Jnnenbewegung immer mehr verliert, die doch die Quelle alles
Lebens ist? Auch die Scheu vor lebhaften Farben, d. h, vor der wirklichen
Farbe, die unsre städtische Welt beherrscht, so weit es Kleidung und Haus be¬
trifft, ist eine Scheu vor vollem Leben, ein Einziehen der eignen Jnnenbewegung.
Unser Denken freilich ist bewegter wohl als je. Aber wenn nur Denken und
Leben so schlechtweg eins wären, ja dann stünde es gut. Sie stehen aber leider
gern in einem Verhältnis des Widerspruchs. Sie solltens freilich nicht, brauchens
auch nicht, denkendes Leben und lebendiges Denken wären das Rechte und sind
das Kennzeichen gesunder und glücklicher Zeiten beim Einzelnen wie bei Völkern.
Aber unser Denken ist zu sehr Kritik geworden, die dem Lebendigen gern un¬
gläubig zu Leibe, ans Leben geht, die auch alles Lebendige annagen oder
wenigstens ans Leben in bloßes Denken und Wissen umsetzen will. Das alles
und vieles sonst noch sind sichere Spuren von eingehendem Leben, von be¬
ginnendem oder begonnenen Alter. Wer hilft uns heraus? Stöße von außen
können das thun, die unser Lebensgefüge durch gefahrdrohende Erschütterung
wieder einmal in sein natürliches Gleichgewicht zwingen, wie uns ja der letzte
Krieg zugleich zu einem Aufrütteln und Wiedereinrenken in ein frisches Leben
geworden ist. Ein alterschwaches Gefüge wird dnrch solche Stöße zerstört, ein
lebensfähiges neu belebt. Aber auch von innen kann es die Wissenschaft thun
als Wissenschaft vom Leben, zugleich als das Gewissen der Zeit, und das sollte
alle Wissenschaft sein, ist es auch zum Glück vielfältig oder wird es.

Eine Wissenschaft und Lehre vom Leben braucht aber schon jeder für sich,
für sein eigenstes Leben, um damit zur Kunst des Lebens zu kommen, die man
als höchstes Ziel dieses Lebens ansehen kann, zugleich als Durchgang zu allem


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[0266] Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosophen. wie die männliche Jugend, die doch der lebendigste Teil sein müßte, immer mehr mit Unlust an das Tanzen geht und sich lieber auf die Seite zurückzieht und — denkt, Ernstes oder Lustiges (noch lieber beim Trinken und Rauchen), ist das Lust zur Bewegung? Zur Selbstbewegung in Kunstform, wie doch das Tanzen sein soll, freilich längst nicht mehr ist? Oder wenn in gebildeter Gesellschaft, die doch für alle andern das Muster des Lebens geben soll, der gute Ton es mit sich bringt, daß man beim Verkehr sich mit Mienen und Geberden und mit der Stimme ja nicht lebhaft werden lasse, sodaß man da von Jugend auf lebhaftes Gebaren als Ausdruck lebhaft empfindender Teilnahme an den Dingen und damit das lebhafte Empfinden selber verlernen muß, ist das nicht Scheu vor Bewegung, vor Selbstbewegung, wie die Unlust zum Tanzen? Cultur ist das, aber Leben, rechtes Leben ist es nicht. Und wenn man etwa zum Trost dafür an das wachsende Leben im Theater und Concert denkt, wo die Dar¬ stellung alles Äußern auf der Bühne immer lebensvoller, die Musik immer rauschender wird, ist das wirkliches Leben? Ist es nicht vielmehr ein Zeichen, daß das Innenleben abnimmt, weil es ein mitschaffendes Ergänzen dessen, was in Auge und Ohr kommt, nicht mehr vermag und immer mehr verlernt? also die freie eigne Jnnenbewegung immer mehr verliert, die doch die Quelle alles Lebens ist? Auch die Scheu vor lebhaften Farben, d. h, vor der wirklichen Farbe, die unsre städtische Welt beherrscht, so weit es Kleidung und Haus be¬ trifft, ist eine Scheu vor vollem Leben, ein Einziehen der eignen Jnnenbewegung. Unser Denken freilich ist bewegter wohl als je. Aber wenn nur Denken und Leben so schlechtweg eins wären, ja dann stünde es gut. Sie stehen aber leider gern in einem Verhältnis des Widerspruchs. Sie solltens freilich nicht, brauchens auch nicht, denkendes Leben und lebendiges Denken wären das Rechte und sind das Kennzeichen gesunder und glücklicher Zeiten beim Einzelnen wie bei Völkern. Aber unser Denken ist zu sehr Kritik geworden, die dem Lebendigen gern un¬ gläubig zu Leibe, ans Leben geht, die auch alles Lebendige annagen oder wenigstens ans Leben in bloßes Denken und Wissen umsetzen will. Das alles und vieles sonst noch sind sichere Spuren von eingehendem Leben, von be¬ ginnendem oder begonnenen Alter. Wer hilft uns heraus? Stöße von außen können das thun, die unser Lebensgefüge durch gefahrdrohende Erschütterung wieder einmal in sein natürliches Gleichgewicht zwingen, wie uns ja der letzte Krieg zugleich zu einem Aufrütteln und Wiedereinrenken in ein frisches Leben geworden ist. Ein alterschwaches Gefüge wird dnrch solche Stöße zerstört, ein lebensfähiges neu belebt. Aber auch von innen kann es die Wissenschaft thun als Wissenschaft vom Leben, zugleich als das Gewissen der Zeit, und das sollte alle Wissenschaft sein, ist es auch zum Glück vielfältig oder wird es. Eine Wissenschaft und Lehre vom Leben braucht aber schon jeder für sich, für sein eigenstes Leben, um damit zur Kunst des Lebens zu kommen, die man als höchstes Ziel dieses Lebens ansehen kann, zugleich als Durchgang zu allem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/266>, abgerufen am 03.07.2024.