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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Soimtagsphilosophen.

der rotirenden Bewegung, also den Weltkörpern entsprechend. Vor allem braucht
da aber der Zusatz von fehlender Ruhe, der, wenn man es nachfühlen will,
etwas Bängliches gewinnt, eine Ergänzung; hat doch jeder bewegte Kreis im
Innersten eine Stelle, die sich nicht mit bewegt, so unvorstellbar das bleibt,
um die sich aber eben der Kreis wie dienend bewegt. Goethes Worten kann
als Ergänzung zugesetzt werden, was in dem Briefe des Pastors zu an den
neuen Pastor zu ^ vom Jahre 1773 gesagt wird: "Unsre Seele ist einfach
und zur Ruhe geboren," und hoch oder ins allerhöchste gesteigert, zugleich
erweitert auf alles Lebendige oder Bewegte in der Welt überhaupt, in dem
Spruche, der mit den Worten "Wenn im Unendlichen" beginnt, im 7. Buche
der Zahmen Xenien:


Ströme Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten snämlich Dinges wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

Die rotirende Bewegung erscheint aber schon vierzig Jahre früher, gewiß auch
nach dem Vorbild der Weltkörper, im Tagebuch vom Jahre 1780, 26. März
(S. 217 in Kens Ausgabe): "Ich muß noch hcrauskricgeu, in welcher Zeit
und Ordnung ich mich um mich selbst bewege," deutlich aus genauer Selbst¬
beobachtung, die man ihn da so eifrig betreiben sieht, um aus den Irrn "gen
des Alltagslebens zur Höhe des Rechten zu kommen. Und schon im Jahre 1775
in dem Briefe an die Karschin (Hirzcls Junger Goethe 3, ö8): "Von meiner
Reise in die Schweiz hat die ganze Circulation meiner kleinen Individualität
viel gewonnen." Und noch früher erscheint bei ihm diese Vorstellung, selbst
noch weiter ausgeführt; davon nachher. Daß sie übrigens nicht etwa bloß
physisch oder irgendwie materialistisch gedacht ist, auch nicht in verdünntestcr
Form, worauf gerade die späteste Äußerung von der Monas führen könnte,
dafür bürgt die Äußerung gegen die Karschin, noch mehr die Tagebuchsäußcrnng,
wo als Inhalt des Kreises in ihm, des "Zirkels, der sich in mir umdreht von
guten und bösen Tagen" genannt werden: "Leidenschaften, Anhänglichkeit, Trieb
dies oder jenes zu thun, Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles wechselt und
hält einen regelmäßigen Kreis ^er meint laufenden Kreis, Kreislaufs, ebenso
Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elasticität, Schwäche, Gelassenheit, Begier." Die
Vorstellung steht vielmehr auf einer geheimen Linie, die er später "sinnlich-
sittlich" oder "sittlich-sinnlich" nannte, einer Linie, welche die scharfe Mitte
hält oder sucht zwischeu den beiden Erscheinungsseiten unsers Lebens, für die
Vorstellung freilich so mifindbar, wie der Mittelpunkt eines bewegten Kreises
oder der Indifferenzpunkt eines Magneten, in denen die beiden Richtungen seines
Lebens ans einander stoßen, der aber weder positiv noch negativ sein kann. Es
ist aber die Linie, ans der das eigentliche Leben, das Geheimnis selbst, nach
oben und unten, nach außen und innen ausstrahlend sich bewegt, zugleich die


Tagebuchblätter eines Soimtagsphilosophen.

der rotirenden Bewegung, also den Weltkörpern entsprechend. Vor allem braucht
da aber der Zusatz von fehlender Ruhe, der, wenn man es nachfühlen will,
etwas Bängliches gewinnt, eine Ergänzung; hat doch jeder bewegte Kreis im
Innersten eine Stelle, die sich nicht mit bewegt, so unvorstellbar das bleibt,
um die sich aber eben der Kreis wie dienend bewegt. Goethes Worten kann
als Ergänzung zugesetzt werden, was in dem Briefe des Pastors zu an den
neuen Pastor zu ^ vom Jahre 1773 gesagt wird: „Unsre Seele ist einfach
und zur Ruhe geboren," und hoch oder ins allerhöchste gesteigert, zugleich
erweitert auf alles Lebendige oder Bewegte in der Welt überhaupt, in dem
Spruche, der mit den Worten „Wenn im Unendlichen" beginnt, im 7. Buche
der Zahmen Xenien:


Ströme Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten snämlich Dinges wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

Die rotirende Bewegung erscheint aber schon vierzig Jahre früher, gewiß auch
nach dem Vorbild der Weltkörper, im Tagebuch vom Jahre 1780, 26. März
(S. 217 in Kens Ausgabe): „Ich muß noch hcrauskricgeu, in welcher Zeit
und Ordnung ich mich um mich selbst bewege," deutlich aus genauer Selbst¬
beobachtung, die man ihn da so eifrig betreiben sieht, um aus den Irrn »gen
des Alltagslebens zur Höhe des Rechten zu kommen. Und schon im Jahre 1775
in dem Briefe an die Karschin (Hirzcls Junger Goethe 3, ö8): „Von meiner
Reise in die Schweiz hat die ganze Circulation meiner kleinen Individualität
viel gewonnen." Und noch früher erscheint bei ihm diese Vorstellung, selbst
noch weiter ausgeführt; davon nachher. Daß sie übrigens nicht etwa bloß
physisch oder irgendwie materialistisch gedacht ist, auch nicht in verdünntestcr
Form, worauf gerade die späteste Äußerung von der Monas führen könnte,
dafür bürgt die Äußerung gegen die Karschin, noch mehr die Tagebuchsäußcrnng,
wo als Inhalt des Kreises in ihm, des „Zirkels, der sich in mir umdreht von
guten und bösen Tagen" genannt werden: „Leidenschaften, Anhänglichkeit, Trieb
dies oder jenes zu thun, Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles wechselt und
hält einen regelmäßigen Kreis ^er meint laufenden Kreis, Kreislaufs, ebenso
Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elasticität, Schwäche, Gelassenheit, Begier." Die
Vorstellung steht vielmehr auf einer geheimen Linie, die er später „sinnlich-
sittlich" oder „sittlich-sinnlich" nannte, einer Linie, welche die scharfe Mitte
hält oder sucht zwischeu den beiden Erscheinungsseiten unsers Lebens, für die
Vorstellung freilich so mifindbar, wie der Mittelpunkt eines bewegten Kreises
oder der Indifferenzpunkt eines Magneten, in denen die beiden Richtungen seines
Lebens ans einander stoßen, der aber weder positiv noch negativ sein kann. Es
ist aber die Linie, ans der das eigentliche Leben, das Geheimnis selbst, nach
oben und unten, nach außen und innen ausstrahlend sich bewegt, zugleich die


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[0268] Tagebuchblätter eines Soimtagsphilosophen. der rotirenden Bewegung, also den Weltkörpern entsprechend. Vor allem braucht da aber der Zusatz von fehlender Ruhe, der, wenn man es nachfühlen will, etwas Bängliches gewinnt, eine Ergänzung; hat doch jeder bewegte Kreis im Innersten eine Stelle, die sich nicht mit bewegt, so unvorstellbar das bleibt, um die sich aber eben der Kreis wie dienend bewegt. Goethes Worten kann als Ergänzung zugesetzt werden, was in dem Briefe des Pastors zu an den neuen Pastor zu ^ vom Jahre 1773 gesagt wird: „Unsre Seele ist einfach und zur Ruhe geboren," und hoch oder ins allerhöchste gesteigert, zugleich erweitert auf alles Lebendige oder Bewegte in der Welt überhaupt, in dem Spruche, der mit den Worten „Wenn im Unendlichen" beginnt, im 7. Buche der Zahmen Xenien: Ströme Lebenslust aus allen Dingen, Dem kleinsten snämlich Dinges wie dem größten Stern, Und alles Drängen, alles Ringen Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn. Die rotirende Bewegung erscheint aber schon vierzig Jahre früher, gewiß auch nach dem Vorbild der Weltkörper, im Tagebuch vom Jahre 1780, 26. März (S. 217 in Kens Ausgabe): „Ich muß noch hcrauskricgeu, in welcher Zeit und Ordnung ich mich um mich selbst bewege," deutlich aus genauer Selbst¬ beobachtung, die man ihn da so eifrig betreiben sieht, um aus den Irrn »gen des Alltagslebens zur Höhe des Rechten zu kommen. Und schon im Jahre 1775 in dem Briefe an die Karschin (Hirzcls Junger Goethe 3, ö8): „Von meiner Reise in die Schweiz hat die ganze Circulation meiner kleinen Individualität viel gewonnen." Und noch früher erscheint bei ihm diese Vorstellung, selbst noch weiter ausgeführt; davon nachher. Daß sie übrigens nicht etwa bloß physisch oder irgendwie materialistisch gedacht ist, auch nicht in verdünntestcr Form, worauf gerade die späteste Äußerung von der Monas führen könnte, dafür bürgt die Äußerung gegen die Karschin, noch mehr die Tagebuchsäußcrnng, wo als Inhalt des Kreises in ihm, des „Zirkels, der sich in mir umdreht von guten und bösen Tagen" genannt werden: „Leidenschaften, Anhänglichkeit, Trieb dies oder jenes zu thun, Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles wechselt und hält einen regelmäßigen Kreis ^er meint laufenden Kreis, Kreislaufs, ebenso Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elasticität, Schwäche, Gelassenheit, Begier." Die Vorstellung steht vielmehr auf einer geheimen Linie, die er später „sinnlich- sittlich" oder „sittlich-sinnlich" nannte, einer Linie, welche die scharfe Mitte hält oder sucht zwischeu den beiden Erscheinungsseiten unsers Lebens, für die Vorstellung freilich so mifindbar, wie der Mittelpunkt eines bewegten Kreises oder der Indifferenzpunkt eines Magneten, in denen die beiden Richtungen seines Lebens ans einander stoßen, der aber weder positiv noch negativ sein kann. Es ist aber die Linie, ans der das eigentliche Leben, das Geheimnis selbst, nach oben und unten, nach außen und innen ausstrahlend sich bewegt, zugleich die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/268>, abgerufen am 23.07.2024.