Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

jeder Vereinigung mehrerer Personen, sondern nur in derjenigen Vereinigung,
welche nach Organisation und Zweck einen bleibenden Bestand haben sollte, man
nahm an, daß die Gründung einer Verbindung, sowie der Beitritt zu einer
solchen durch ausdrückliche Willenserklärungen erfolgen müsse, auch hielt man
daran fest, daß eine nach außen hervortretende und organisirte politische Partei
nicht unter den Begriff der Verbindung falle.

Hierin ist nun durch das Urteil des Reichsgerichts vom 21. und 23. De¬
zember 1885 eine wichtige Änderung eingetreten. Gegen verschiedene Mitglieder der
sozialdemokratischen Partei, meistens Mitglieder der sozialdemokratischen Neichs-
tagsfraktion, war in Chemnitz ein Strafverfahren wegen Übertretung der beiden
angeführten Bestimmungen eingeleitet worden, welches jedoch mit einer Frei¬
sprechung endigte, weil das erkennende Gericht nicht finden konnte, daß die
Angeklagten eine Verbindung im Sinne des Gesetzes gebildet hätten. Auf die
Revision der Staatsanwaltschaft hob das Reichsgericht in dem genannten Urteile
das Erkenntnis des ersten Richters wegen falscher Auslegung des Strafgesetzes
auf, und in den ausführlichen und scharfsinnigen Gründen stellte das Reichs¬
gericht eine Anzahl von Sätzen auf, welche sich zu der bisherigen Auslegung
des Gesetzes in schärfsten Gegensatz stellen.

Zunächst versteht das Reichsgericht unter einer Verbindung jede organisirte
Vereinigung von gewisser Dauer, welche die Unterordnung ihrer Mitglieder
unter den Gesamtwillen für die Dauer der Mitgliedschaft zur Voraussetzung
hat; die Handlung, durch welche die Unterordnung vollzogen wird, und der
Beitritt können -- und hierin liegt die bemerkenswerteste Abweichung von der
bisherigen Rechtsprechung -- zusammenfallen, sie können ferner nicht nur aus¬
drücklich, sondern auch stillschweigend, durch sogenannte "konkludente" Handlungen
erfolgen (d. h. Handlungen, die den Entschluß der Unterordnung in sich verkörpern),
und endlich kann die Gründung der Verbindung in derselben Weise geschehen
und ebenfalls mit der Unterordnung und dem Beitritt zusammenfallen. Hiervon
ausgehend, folgert das Reichsgericht, daß eine politische Partei, die äußerlich
als solche hervortritt und sür jeden als solche erkennbar ist, eine Verbindung
im Sinne des Gesetzes sein kann, daß ferner die Absicht der Geheimhaltung
keiner ausdrücklichen Verabredung bedarf, sondern sich auch von selbst und still¬
schweigend ergeben kau", daß gesetzwidrige Zwecke der Verbindung schon dann
vorhanden sind, wenn es anch nicht zur Beschäftigung mit ihnen gekommen ist,
und daß schließlich schon in der Aufforderung zur Verfolgung gesetzwidriger
Zwecke eine Beschäftigung mit ihnen liegt.

Mit Hilfe dieser weitgehenden Auslegung wurde es möglich, die Geheim¬
organisation der Sozialdemokratie durch die Waffen des gemeinen Rechtes in
viel schärferer Weise zu bekämpfen als durch das Gesetz vom 21. Oktober 1878.
Die zahlreichen, seither geführten Untersuchungen haben Verbindungen zu Wahl-,
Unterstützungs- und Agitationszweckeu aufgedeckt. Eine hervorragende Rolle


jeder Vereinigung mehrerer Personen, sondern nur in derjenigen Vereinigung,
welche nach Organisation und Zweck einen bleibenden Bestand haben sollte, man
nahm an, daß die Gründung einer Verbindung, sowie der Beitritt zu einer
solchen durch ausdrückliche Willenserklärungen erfolgen müsse, auch hielt man
daran fest, daß eine nach außen hervortretende und organisirte politische Partei
nicht unter den Begriff der Verbindung falle.

Hierin ist nun durch das Urteil des Reichsgerichts vom 21. und 23. De¬
zember 1885 eine wichtige Änderung eingetreten. Gegen verschiedene Mitglieder der
sozialdemokratischen Partei, meistens Mitglieder der sozialdemokratischen Neichs-
tagsfraktion, war in Chemnitz ein Strafverfahren wegen Übertretung der beiden
angeführten Bestimmungen eingeleitet worden, welches jedoch mit einer Frei¬
sprechung endigte, weil das erkennende Gericht nicht finden konnte, daß die
Angeklagten eine Verbindung im Sinne des Gesetzes gebildet hätten. Auf die
Revision der Staatsanwaltschaft hob das Reichsgericht in dem genannten Urteile
das Erkenntnis des ersten Richters wegen falscher Auslegung des Strafgesetzes
auf, und in den ausführlichen und scharfsinnigen Gründen stellte das Reichs¬
gericht eine Anzahl von Sätzen auf, welche sich zu der bisherigen Auslegung
des Gesetzes in schärfsten Gegensatz stellen.

Zunächst versteht das Reichsgericht unter einer Verbindung jede organisirte
Vereinigung von gewisser Dauer, welche die Unterordnung ihrer Mitglieder
unter den Gesamtwillen für die Dauer der Mitgliedschaft zur Voraussetzung
hat; die Handlung, durch welche die Unterordnung vollzogen wird, und der
Beitritt können — und hierin liegt die bemerkenswerteste Abweichung von der
bisherigen Rechtsprechung — zusammenfallen, sie können ferner nicht nur aus¬
drücklich, sondern auch stillschweigend, durch sogenannte „konkludente" Handlungen
erfolgen (d. h. Handlungen, die den Entschluß der Unterordnung in sich verkörpern),
und endlich kann die Gründung der Verbindung in derselben Weise geschehen
und ebenfalls mit der Unterordnung und dem Beitritt zusammenfallen. Hiervon
ausgehend, folgert das Reichsgericht, daß eine politische Partei, die äußerlich
als solche hervortritt und sür jeden als solche erkennbar ist, eine Verbindung
im Sinne des Gesetzes sein kann, daß ferner die Absicht der Geheimhaltung
keiner ausdrücklichen Verabredung bedarf, sondern sich auch von selbst und still¬
schweigend ergeben kau», daß gesetzwidrige Zwecke der Verbindung schon dann
vorhanden sind, wenn es anch nicht zur Beschäftigung mit ihnen gekommen ist,
und daß schließlich schon in der Aufforderung zur Verfolgung gesetzwidriger
Zwecke eine Beschäftigung mit ihnen liegt.

Mit Hilfe dieser weitgehenden Auslegung wurde es möglich, die Geheim¬
organisation der Sozialdemokratie durch die Waffen des gemeinen Rechtes in
viel schärferer Weise zu bekämpfen als durch das Gesetz vom 21. Oktober 1878.
Die zahlreichen, seither geführten Untersuchungen haben Verbindungen zu Wahl-,
Unterstützungs- und Agitationszweckeu aufgedeckt. Eine hervorragende Rolle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201604"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_416" prev="#ID_415"> jeder Vereinigung mehrerer Personen, sondern nur in derjenigen Vereinigung,<lb/>
welche nach Organisation und Zweck einen bleibenden Bestand haben sollte, man<lb/>
nahm an, daß die Gründung einer Verbindung, sowie der Beitritt zu einer<lb/>
solchen durch ausdrückliche Willenserklärungen erfolgen müsse, auch hielt man<lb/>
daran fest, daß eine nach außen hervortretende und organisirte politische Partei<lb/>
nicht unter den Begriff der Verbindung falle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_417"> Hierin ist nun durch das Urteil des Reichsgerichts vom 21. und 23. De¬<lb/>
zember 1885 eine wichtige Änderung eingetreten. Gegen verschiedene Mitglieder der<lb/>
sozialdemokratischen Partei, meistens Mitglieder der sozialdemokratischen Neichs-<lb/>
tagsfraktion, war in Chemnitz ein Strafverfahren wegen Übertretung der beiden<lb/>
angeführten Bestimmungen eingeleitet worden, welches jedoch mit einer Frei¬<lb/>
sprechung endigte, weil das erkennende Gericht nicht finden konnte, daß die<lb/>
Angeklagten eine Verbindung im Sinne des Gesetzes gebildet hätten. Auf die<lb/>
Revision der Staatsanwaltschaft hob das Reichsgericht in dem genannten Urteile<lb/>
das Erkenntnis des ersten Richters wegen falscher Auslegung des Strafgesetzes<lb/>
auf, und in den ausführlichen und scharfsinnigen Gründen stellte das Reichs¬<lb/>
gericht eine Anzahl von Sätzen auf, welche sich zu der bisherigen Auslegung<lb/>
des Gesetzes in schärfsten Gegensatz stellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_418"> Zunächst versteht das Reichsgericht unter einer Verbindung jede organisirte<lb/>
Vereinigung von gewisser Dauer, welche die Unterordnung ihrer Mitglieder<lb/>
unter den Gesamtwillen für die Dauer der Mitgliedschaft zur Voraussetzung<lb/>
hat; die Handlung, durch welche die Unterordnung vollzogen wird, und der<lb/>
Beitritt können &#x2014; und hierin liegt die bemerkenswerteste Abweichung von der<lb/>
bisherigen Rechtsprechung &#x2014; zusammenfallen, sie können ferner nicht nur aus¬<lb/>
drücklich, sondern auch stillschweigend, durch sogenannte &#x201E;konkludente" Handlungen<lb/>
erfolgen (d. h. Handlungen, die den Entschluß der Unterordnung in sich verkörpern),<lb/>
und endlich kann die Gründung der Verbindung in derselben Weise geschehen<lb/>
und ebenfalls mit der Unterordnung und dem Beitritt zusammenfallen. Hiervon<lb/>
ausgehend, folgert das Reichsgericht, daß eine politische Partei, die äußerlich<lb/>
als solche hervortritt und sür jeden als solche erkennbar ist, eine Verbindung<lb/>
im Sinne des Gesetzes sein kann, daß ferner die Absicht der Geheimhaltung<lb/>
keiner ausdrücklichen Verabredung bedarf, sondern sich auch von selbst und still¬<lb/>
schweigend ergeben kau», daß gesetzwidrige Zwecke der Verbindung schon dann<lb/>
vorhanden sind, wenn es anch nicht zur Beschäftigung mit ihnen gekommen ist,<lb/>
und daß schließlich schon in der Aufforderung zur Verfolgung gesetzwidriger<lb/>
Zwecke eine Beschäftigung mit ihnen liegt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_419" next="#ID_420"> Mit Hilfe dieser weitgehenden Auslegung wurde es möglich, die Geheim¬<lb/>
organisation der Sozialdemokratie durch die Waffen des gemeinen Rechtes in<lb/>
viel schärferer Weise zu bekämpfen als durch das Gesetz vom 21. Oktober 1878.<lb/>
Die zahlreichen, seither geführten Untersuchungen haben Verbindungen zu Wahl-,<lb/>
Unterstützungs- und Agitationszweckeu aufgedeckt.  Eine hervorragende Rolle</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0175] jeder Vereinigung mehrerer Personen, sondern nur in derjenigen Vereinigung, welche nach Organisation und Zweck einen bleibenden Bestand haben sollte, man nahm an, daß die Gründung einer Verbindung, sowie der Beitritt zu einer solchen durch ausdrückliche Willenserklärungen erfolgen müsse, auch hielt man daran fest, daß eine nach außen hervortretende und organisirte politische Partei nicht unter den Begriff der Verbindung falle. Hierin ist nun durch das Urteil des Reichsgerichts vom 21. und 23. De¬ zember 1885 eine wichtige Änderung eingetreten. Gegen verschiedene Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, meistens Mitglieder der sozialdemokratischen Neichs- tagsfraktion, war in Chemnitz ein Strafverfahren wegen Übertretung der beiden angeführten Bestimmungen eingeleitet worden, welches jedoch mit einer Frei¬ sprechung endigte, weil das erkennende Gericht nicht finden konnte, daß die Angeklagten eine Verbindung im Sinne des Gesetzes gebildet hätten. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob das Reichsgericht in dem genannten Urteile das Erkenntnis des ersten Richters wegen falscher Auslegung des Strafgesetzes auf, und in den ausführlichen und scharfsinnigen Gründen stellte das Reichs¬ gericht eine Anzahl von Sätzen auf, welche sich zu der bisherigen Auslegung des Gesetzes in schärfsten Gegensatz stellen. Zunächst versteht das Reichsgericht unter einer Verbindung jede organisirte Vereinigung von gewisser Dauer, welche die Unterordnung ihrer Mitglieder unter den Gesamtwillen für die Dauer der Mitgliedschaft zur Voraussetzung hat; die Handlung, durch welche die Unterordnung vollzogen wird, und der Beitritt können — und hierin liegt die bemerkenswerteste Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung — zusammenfallen, sie können ferner nicht nur aus¬ drücklich, sondern auch stillschweigend, durch sogenannte „konkludente" Handlungen erfolgen (d. h. Handlungen, die den Entschluß der Unterordnung in sich verkörpern), und endlich kann die Gründung der Verbindung in derselben Weise geschehen und ebenfalls mit der Unterordnung und dem Beitritt zusammenfallen. Hiervon ausgehend, folgert das Reichsgericht, daß eine politische Partei, die äußerlich als solche hervortritt und sür jeden als solche erkennbar ist, eine Verbindung im Sinne des Gesetzes sein kann, daß ferner die Absicht der Geheimhaltung keiner ausdrücklichen Verabredung bedarf, sondern sich auch von selbst und still¬ schweigend ergeben kau», daß gesetzwidrige Zwecke der Verbindung schon dann vorhanden sind, wenn es anch nicht zur Beschäftigung mit ihnen gekommen ist, und daß schließlich schon in der Aufforderung zur Verfolgung gesetzwidriger Zwecke eine Beschäftigung mit ihnen liegt. Mit Hilfe dieser weitgehenden Auslegung wurde es möglich, die Geheim¬ organisation der Sozialdemokratie durch die Waffen des gemeinen Rechtes in viel schärferer Weise zu bekämpfen als durch das Gesetz vom 21. Oktober 1878. Die zahlreichen, seither geführten Untersuchungen haben Verbindungen zu Wahl-, Unterstützungs- und Agitationszweckeu aufgedeckt. Eine hervorragende Rolle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/175
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/175>, abgerufen am 28.06.2024.