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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gine Fahrt in den Grient.

selbst exterritoriale Persönlichkeiten nicht schonte, sondern einen Gesandten
nebst Gattin in eine nähere, nicht gesuchte Bekanntschaft mit dem Bosporus
brachte. Wir hatten dem biedern türkischen Schiffer sorgsam eingeprägt, daß
er "den Cäsar und sein Glück trage," und so langten wir wohlbehalten in
Fenerbagtsche an, wo sich mit der entzückenden Aussicht auf die blauen Berge
Asiens und das im Sonnenglanz strahlende Marmarcnneer Szenen köstlichsten
Volkslebens entwickelten. Denn um die Herbstwende bildet dieser Ort den
Spaziergang für die bessern Stände aus der Türkemvelt. In Equipage:? oder
in ochsenbespannten, mit rotem Baldachin bedeckten Wagen langt der Effendi
mit seinen Frauen hier an und ergeht sich mit ihnen unter den schattigen
Bäumen. Verkäufer von Kaffee und Früchten, von süßen Reisspeisen und
Wasser eilen von Gruppe zu Gruppe. Ein mißgestalteter Zwerg spielte auf
einer Geige melancholische Lieder und sang mit krächzender Stimme den Text.
Wie aber bei Naturvölkern Mißgestaltung nicht Mitleiden, sondern Heiterkeit
erregt, so erntete auch dieser unglückliche Künstler bei seiner größtenteils aus tür¬
kischen Kindern bestehende" Zuhörerschaft nur Spott, ohne daß er indes von seinem
unermüdlichen Thun abgeschreckt wurde. Das war nun schon die erste Ge¬
legenheit, uns nach dem schöneren Geschlecht umzusehen; allein was wir sahen,
waren mittelgroße Gestalten, von einem unförmlichen, die Formen verdeckenden
Mantel umgeben und in einen Schleier gehüllt, der nur die Augen und Nasen¬
spitze erkennen ließ. Wer sich auf Augen versteht, kann sich vorstellen, ob unter
diesem Mantel (Feradsche) das Herz noch warm schlägt oder die alles be¬
ruhigende Zeit die Gefühle erkalten ließ. Ich muß frei bekennen, daß mir diese
Gabe der Augensprache nicht verliehen ist, und deshalb suchte ich an den nicht
mit Handschuh bekleideten Fingern das Alter der Besitzerin zu erraten. Ihr
hättet aber hier unsern guten Poeten sehen sollen! Er geriet über diese Ver-
mummung in helle Wut und erklärte, sofort abreisen zu wollen, wenn ihm
keine Schönheiten frei und offen gezeigt würden, da er sich nach dem bekannten
Sprichworte kein Vergnügen ohne Damen denken könne.

Nach den reichen Erlebnissen dieses Tages war es nicht leicht, Schlaf zu
finden. Zwar wird es nach Sonnenuntergang, wo die Hauptmahlzeit ge¬
nommen wird, auf den Straßen still, und auch des Nachts herrscht selbst in
Pera keineswegs das lebhafte Treiben, wie es in Italien üblich ist. Dennoch
gab es Störungen genug. Ein schwärmerischer Grieche brachte seinem Liebchen
mit Gesang und Guitarre ein melancholisches Ständchen, dessen Melodie mir
bewies, daß die Grausame seinem Flehen noch unerbittlich blieb. Dazwischen
bellten die gierig gewordenen Hunde, und der Nachtwächter schlug taktmäßig
und in regelmäßigen Zwischenräumen mit seinem Knittel aufs Pflaster. Dieses
Aufschlagen hat den doppelten -- wenn auch nicht immer wohlwollenden --
Zweck, die Diebe von der Anwesenheit des Nachtwächters zu unterrichten
und sie zu veranlassen, ein andres Feld ihrer Thätigkeit zu suchen, den ruhigen


Gine Fahrt in den Grient.

selbst exterritoriale Persönlichkeiten nicht schonte, sondern einen Gesandten
nebst Gattin in eine nähere, nicht gesuchte Bekanntschaft mit dem Bosporus
brachte. Wir hatten dem biedern türkischen Schiffer sorgsam eingeprägt, daß
er „den Cäsar und sein Glück trage," und so langten wir wohlbehalten in
Fenerbagtsche an, wo sich mit der entzückenden Aussicht auf die blauen Berge
Asiens und das im Sonnenglanz strahlende Marmarcnneer Szenen köstlichsten
Volkslebens entwickelten. Denn um die Herbstwende bildet dieser Ort den
Spaziergang für die bessern Stände aus der Türkemvelt. In Equipage:? oder
in ochsenbespannten, mit rotem Baldachin bedeckten Wagen langt der Effendi
mit seinen Frauen hier an und ergeht sich mit ihnen unter den schattigen
Bäumen. Verkäufer von Kaffee und Früchten, von süßen Reisspeisen und
Wasser eilen von Gruppe zu Gruppe. Ein mißgestalteter Zwerg spielte auf
einer Geige melancholische Lieder und sang mit krächzender Stimme den Text.
Wie aber bei Naturvölkern Mißgestaltung nicht Mitleiden, sondern Heiterkeit
erregt, so erntete auch dieser unglückliche Künstler bei seiner größtenteils aus tür¬
kischen Kindern bestehende» Zuhörerschaft nur Spott, ohne daß er indes von seinem
unermüdlichen Thun abgeschreckt wurde. Das war nun schon die erste Ge¬
legenheit, uns nach dem schöneren Geschlecht umzusehen; allein was wir sahen,
waren mittelgroße Gestalten, von einem unförmlichen, die Formen verdeckenden
Mantel umgeben und in einen Schleier gehüllt, der nur die Augen und Nasen¬
spitze erkennen ließ. Wer sich auf Augen versteht, kann sich vorstellen, ob unter
diesem Mantel (Feradsche) das Herz noch warm schlägt oder die alles be¬
ruhigende Zeit die Gefühle erkalten ließ. Ich muß frei bekennen, daß mir diese
Gabe der Augensprache nicht verliehen ist, und deshalb suchte ich an den nicht
mit Handschuh bekleideten Fingern das Alter der Besitzerin zu erraten. Ihr
hättet aber hier unsern guten Poeten sehen sollen! Er geriet über diese Ver-
mummung in helle Wut und erklärte, sofort abreisen zu wollen, wenn ihm
keine Schönheiten frei und offen gezeigt würden, da er sich nach dem bekannten
Sprichworte kein Vergnügen ohne Damen denken könne.

Nach den reichen Erlebnissen dieses Tages war es nicht leicht, Schlaf zu
finden. Zwar wird es nach Sonnenuntergang, wo die Hauptmahlzeit ge¬
nommen wird, auf den Straßen still, und auch des Nachts herrscht selbst in
Pera keineswegs das lebhafte Treiben, wie es in Italien üblich ist. Dennoch
gab es Störungen genug. Ein schwärmerischer Grieche brachte seinem Liebchen
mit Gesang und Guitarre ein melancholisches Ständchen, dessen Melodie mir
bewies, daß die Grausame seinem Flehen noch unerbittlich blieb. Dazwischen
bellten die gierig gewordenen Hunde, und der Nachtwächter schlug taktmäßig
und in regelmäßigen Zwischenräumen mit seinem Knittel aufs Pflaster. Dieses
Aufschlagen hat den doppelten — wenn auch nicht immer wohlwollenden —
Zweck, die Diebe von der Anwesenheit des Nachtwächters zu unterrichten
und sie zu veranlassen, ein andres Feld ihrer Thätigkeit zu suchen, den ruhigen


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[0152] Gine Fahrt in den Grient. selbst exterritoriale Persönlichkeiten nicht schonte, sondern einen Gesandten nebst Gattin in eine nähere, nicht gesuchte Bekanntschaft mit dem Bosporus brachte. Wir hatten dem biedern türkischen Schiffer sorgsam eingeprägt, daß er „den Cäsar und sein Glück trage," und so langten wir wohlbehalten in Fenerbagtsche an, wo sich mit der entzückenden Aussicht auf die blauen Berge Asiens und das im Sonnenglanz strahlende Marmarcnneer Szenen köstlichsten Volkslebens entwickelten. Denn um die Herbstwende bildet dieser Ort den Spaziergang für die bessern Stände aus der Türkemvelt. In Equipage:? oder in ochsenbespannten, mit rotem Baldachin bedeckten Wagen langt der Effendi mit seinen Frauen hier an und ergeht sich mit ihnen unter den schattigen Bäumen. Verkäufer von Kaffee und Früchten, von süßen Reisspeisen und Wasser eilen von Gruppe zu Gruppe. Ein mißgestalteter Zwerg spielte auf einer Geige melancholische Lieder und sang mit krächzender Stimme den Text. Wie aber bei Naturvölkern Mißgestaltung nicht Mitleiden, sondern Heiterkeit erregt, so erntete auch dieser unglückliche Künstler bei seiner größtenteils aus tür¬ kischen Kindern bestehende» Zuhörerschaft nur Spott, ohne daß er indes von seinem unermüdlichen Thun abgeschreckt wurde. Das war nun schon die erste Ge¬ legenheit, uns nach dem schöneren Geschlecht umzusehen; allein was wir sahen, waren mittelgroße Gestalten, von einem unförmlichen, die Formen verdeckenden Mantel umgeben und in einen Schleier gehüllt, der nur die Augen und Nasen¬ spitze erkennen ließ. Wer sich auf Augen versteht, kann sich vorstellen, ob unter diesem Mantel (Feradsche) das Herz noch warm schlägt oder die alles be¬ ruhigende Zeit die Gefühle erkalten ließ. Ich muß frei bekennen, daß mir diese Gabe der Augensprache nicht verliehen ist, und deshalb suchte ich an den nicht mit Handschuh bekleideten Fingern das Alter der Besitzerin zu erraten. Ihr hättet aber hier unsern guten Poeten sehen sollen! Er geriet über diese Ver- mummung in helle Wut und erklärte, sofort abreisen zu wollen, wenn ihm keine Schönheiten frei und offen gezeigt würden, da er sich nach dem bekannten Sprichworte kein Vergnügen ohne Damen denken könne. Nach den reichen Erlebnissen dieses Tages war es nicht leicht, Schlaf zu finden. Zwar wird es nach Sonnenuntergang, wo die Hauptmahlzeit ge¬ nommen wird, auf den Straßen still, und auch des Nachts herrscht selbst in Pera keineswegs das lebhafte Treiben, wie es in Italien üblich ist. Dennoch gab es Störungen genug. Ein schwärmerischer Grieche brachte seinem Liebchen mit Gesang und Guitarre ein melancholisches Ständchen, dessen Melodie mir bewies, daß die Grausame seinem Flehen noch unerbittlich blieb. Dazwischen bellten die gierig gewordenen Hunde, und der Nachtwächter schlug taktmäßig und in regelmäßigen Zwischenräumen mit seinem Knittel aufs Pflaster. Dieses Aufschlagen hat den doppelten — wenn auch nicht immer wohlwollenden — Zweck, die Diebe von der Anwesenheit des Nachtwächters zu unterrichten und sie zu veranlassen, ein andres Feld ihrer Thätigkeit zu suchen, den ruhigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/152>, abgerufen am 27.06.2024.