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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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trachtungen anzustellen, denn bald kamen wir zu den großen cypressenbeschatteten
türkischen Friedhöfen, die uneingefriedet mitten in der Stadt liegen. Der Tote
scheint für den Türken kein Gegenstand besondrer Pietät zu sein, und es liegt
in der That eine eigne Religionsphilosophie darin, wenn man dem zu Staub
werdenden Leibe keine übertriebene Verehrung zollt. Die Grabschriften, die mit¬
unter von poetischer Schönheit sind, geben auch diese Anschauung wieder, wenn
sie von der Vergänglichkeit des Erdenlebens und der Nichtigkeit irdischen Glückes
reden. "Jede Seele kostet den Tod" ist der oft wiederkehrende Trost für die
Überlebenden. Es herrscht auf einem solchen Friedhofe keine Ordnung; in und
außer der Reihe werden die Toten, welche in schmucklosen Holzkasten liegen,
nicht allzutief in die Erde geworfen. Darüber wird ein Stein gedeckt, und
darauf ein schmaler Mnrmorblock errichtet, der in erhabener, goldner oder
bunter Schrift den Verstorbenen nennt. Trägt dieser Block einen marmornen,
oft rot angestrichenen Fez oder in alter Zeit einen Turban, so weiß man, daß
darunter ein Mann seine Ruhe gefunden hat; geht das Ende aber in eine
sonnenrosenartige Blüte aus, so deckt der Stein ein weibliches Wesen. Dieser
große Cypressenwald, der sich mit seinen dunkeln Bünmen, auf denen Tauben
nisten, zu beiden Seiten des Weges hinzieht, mit seinen verödeten, schmnck-
und blumenlosen Gräbern und den verfallenen Steinen wird nicht verfehlen,
den Wanderer in eine tiefernste Stimmung zu versetzen, und ich möchte einem
neuen Herausgeber der Schopenhauerschen Werke das Bild eines türkischen
Friedhofes als Titelkupfer empfehlen. Nirgends tritt das Nichts des Lebeus
so lebhaft zu Tage. Wie anders wirkte der dicht daneben liegende englische
Friedhof mit seinen sorgsam gepflegten Gräbern! Freilich der Obelisk in der
Mitte, dessen Seiten vier byzantinisch-archaistische Engel stützen, zeugt von einer
großen Verirrung des Geschmackes, der die verschiednen Charaktere zweier Kunst¬
epochen vereinigen wollte. Das Denkmal ist für die in fremder Erde ruhenden
Offiziere und Soldaten der Krimarmee bestimmt. Aber die Aussicht von den
Gittern des Kirchhofes läßt bald die Toten vergessen. Denn vor dem Be¬
schauer dehut sich die Häusermasse Stambuls mit der Serailspitze und dem
Walde seiner Minarets aus, zur Linken sieht man das von levcmtinischen Kauf¬
leuten bewohnte villenreiche Kadikiöi und im Vordergrunde den Leuchtturm
(Fenerbagtsche) für die aus den Dardanellen und dem Marmarameer kommenden
Schiffe. Wir gingen an das Meer hinab und bestiegen dort einen Kalk, d. h.
ein Boot, welches die zweite Periode der Schiffsbaukunst bezeichnet, wenn man
als erste das Kanoe betrachtet. Auch der Kalk scheint nicht viel mehr als
ein ausgehöhlter Baumstamm, in welchem höchstens zwei Personen, hart an¬
einander und lang ausgestreckt, Platz haben. Der bedächtige Türke, welcher
ein Feind überflüssiger Bewegungen ist, darf sich ohne Gefahr diesem schwanken
Nachen anvertrauen, der Europäer büßt seine größere Lebhaftigkeit nicht selten
mit einem unfreiwilligen Bade, und in unsern Tagen kam es vor, daß der Kalk


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trachtungen anzustellen, denn bald kamen wir zu den großen cypressenbeschatteten
türkischen Friedhöfen, die uneingefriedet mitten in der Stadt liegen. Der Tote
scheint für den Türken kein Gegenstand besondrer Pietät zu sein, und es liegt
in der That eine eigne Religionsphilosophie darin, wenn man dem zu Staub
werdenden Leibe keine übertriebene Verehrung zollt. Die Grabschriften, die mit¬
unter von poetischer Schönheit sind, geben auch diese Anschauung wieder, wenn
sie von der Vergänglichkeit des Erdenlebens und der Nichtigkeit irdischen Glückes
reden. „Jede Seele kostet den Tod" ist der oft wiederkehrende Trost für die
Überlebenden. Es herrscht auf einem solchen Friedhofe keine Ordnung; in und
außer der Reihe werden die Toten, welche in schmucklosen Holzkasten liegen,
nicht allzutief in die Erde geworfen. Darüber wird ein Stein gedeckt, und
darauf ein schmaler Mnrmorblock errichtet, der in erhabener, goldner oder
bunter Schrift den Verstorbenen nennt. Trägt dieser Block einen marmornen,
oft rot angestrichenen Fez oder in alter Zeit einen Turban, so weiß man, daß
darunter ein Mann seine Ruhe gefunden hat; geht das Ende aber in eine
sonnenrosenartige Blüte aus, so deckt der Stein ein weibliches Wesen. Dieser
große Cypressenwald, der sich mit seinen dunkeln Bünmen, auf denen Tauben
nisten, zu beiden Seiten des Weges hinzieht, mit seinen verödeten, schmnck-
und blumenlosen Gräbern und den verfallenen Steinen wird nicht verfehlen,
den Wanderer in eine tiefernste Stimmung zu versetzen, und ich möchte einem
neuen Herausgeber der Schopenhauerschen Werke das Bild eines türkischen
Friedhofes als Titelkupfer empfehlen. Nirgends tritt das Nichts des Lebeus
so lebhaft zu Tage. Wie anders wirkte der dicht daneben liegende englische
Friedhof mit seinen sorgsam gepflegten Gräbern! Freilich der Obelisk in der
Mitte, dessen Seiten vier byzantinisch-archaistische Engel stützen, zeugt von einer
großen Verirrung des Geschmackes, der die verschiednen Charaktere zweier Kunst¬
epochen vereinigen wollte. Das Denkmal ist für die in fremder Erde ruhenden
Offiziere und Soldaten der Krimarmee bestimmt. Aber die Aussicht von den
Gittern des Kirchhofes läßt bald die Toten vergessen. Denn vor dem Be¬
schauer dehut sich die Häusermasse Stambuls mit der Serailspitze und dem
Walde seiner Minarets aus, zur Linken sieht man das von levcmtinischen Kauf¬
leuten bewohnte villenreiche Kadikiöi und im Vordergrunde den Leuchtturm
(Fenerbagtsche) für die aus den Dardanellen und dem Marmarameer kommenden
Schiffe. Wir gingen an das Meer hinab und bestiegen dort einen Kalk, d. h.
ein Boot, welches die zweite Periode der Schiffsbaukunst bezeichnet, wenn man
als erste das Kanoe betrachtet. Auch der Kalk scheint nicht viel mehr als
ein ausgehöhlter Baumstamm, in welchem höchstens zwei Personen, hart an¬
einander und lang ausgestreckt, Platz haben. Der bedächtige Türke, welcher
ein Feind überflüssiger Bewegungen ist, darf sich ohne Gefahr diesem schwanken
Nachen anvertrauen, der Europäer büßt seine größere Lebhaftigkeit nicht selten
mit einem unfreiwilligen Bade, und in unsern Tagen kam es vor, daß der Kalk


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/151>, abgerufen am 01.07.2024.