Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. schauungen des Volkes. Die daraus entspringende Verwirrung, die Furcht vor den Hingegen entfaltete die Kirche eine heilsame Thätigkeit, wenn sie die Aus¬ Noch ausgiebiger wurde der Grundzug des altgermanischen Wesens, der Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. schauungen des Volkes. Die daraus entspringende Verwirrung, die Furcht vor den Hingegen entfaltete die Kirche eine heilsame Thätigkeit, wenn sie die Aus¬ Noch ausgiebiger wurde der Grundzug des altgermanischen Wesens, der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0084" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200863"/> <fw type="header" place="top"> Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_243" prev="#ID_242"> schauungen des Volkes. Die daraus entspringende Verwirrung, die Furcht vor den<lb/> bösen Mächten, mit denen man so lange alle Lebensgeschäfte verknüpft gedacht<lb/> hatte, mochte bei vielen durch die Aufregungen des Lebens zurückgedrängt<lb/> werden, häufig brach sie am Ende des Lebens durch in völliger Abkehr von<lb/> der Welt und deren Täuschungen und Lockungen, denen man sich nicht hatte<lb/> entziehen können. Das Bewußtsein, bisher nur dem einen gedient zu haben,<lb/> trieb dazu, den Rest des Lebens ausschließlich für das andre zu verwenden.<lb/> Deshalb am Ende des Lebens der so häufige Eintritt in ein Kloster. Man<lb/> muß sich also hüten, von der Verkündigung der christlichen Lehre eine voll¬<lb/> ständige Umkehrung des Volkscharakters zu erwarten, besonders da die Auf¬<lb/> nahme sich auf die Aneignung und EinPrägung weniger Hauptpunkte, des<lb/> Vaterunsers und Glaubens beschränken mußte. War doch selbst diese For¬<lb/> derung der gedächtuismäßigen Leistung so wenig durchzusetzen, daß Karl der<lb/> Große erst deu weltlichen Arm zur Durchführung dieses Religionsunterrichtes<lb/> bot, allerdings mit der seltsamen Verordnung, daß diese Hnuptstücke des<lb/> Glaubens lateinisch gelernt werden sollten.</p><lb/> <p xml:id="ID_244"> Hingegen entfaltete die Kirche eine heilsame Thätigkeit, wenn sie die Aus¬<lb/> brüche der Gewaltsamkeit und Unbotmäßigkeit, die der germanische Charakter<lb/> bei der Mißachtung gegen jedes auferlegte Gesetz mit sich führte, in strenge<lb/> Zucht und Bestrafung zu nehmen sich bemühte. Jetzt wurden auch die Volks¬<lb/> rechte, die lange mündlich fortgepflanzt worden waren, aufgezeichnet, und in<lb/> der Verschärfung der Strafen für Gewaltthaten glaubt man kirchlichen Einfluß<lb/> zu finden.</p><lb/> <p xml:id="ID_245"> Noch ausgiebiger wurde der Grundzug des altgermanischen Wesens, der<lb/> hochfahrende Trotz, der nichts über dem eignen Willen anerkennen wollte,<lb/> wenigstens soweit er auf der geselligen Gleichheit aller Volksgenossen beruhte,<lb/> gebrochen durch das Durchsetzen einer neuen Gesellschaftsordnung, des Lehens¬<lb/> wesens oder Feudalismus. Seiner Wurzel nach allerdings selbst germanisch,<lb/> ist er das Gegenteil der römischen Staatsidee, der Hoheit des unpersönlichen<lb/> Staates, seiner Beamten und Bürger. An die Stelle des abstrakten Staates<lb/> trat der König, dem persönlich Treue und Gehorsam geschworen ward, wofür<lb/> er seine Huld nud Gnade durch Zuweisung der Nutznießung von Gütern als<lb/> Lehen bewies. Indem sich dieses Verhältnis persönlicher Unterordnung immer<lb/> mehr ausbreitete, und zugleich auf die Lehensleute immer ausschließlicher der<lb/> Kriegsdienst überging, machte die alte demokratische Gleichheit einem gegliederten<lb/> Aufbau von Ständen Platz. Bald verzichtete ein großer Teil der ärmeren<lb/> Freien, teils gezwungen, teils freiwillig, uns die Lasten der vollen Freiheit und<lb/> stellte sich unter geistliche und weltliche Herren, um sich, weniger durch Kriegs¬<lb/> dienst gestört, dem Ackerbau zu widmen. Damit traten anch die kriegerischen<lb/> Charakterzüge mehr in den Hintergrund. (Fortsetzung folgt.)</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0084]
Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.
schauungen des Volkes. Die daraus entspringende Verwirrung, die Furcht vor den
bösen Mächten, mit denen man so lange alle Lebensgeschäfte verknüpft gedacht
hatte, mochte bei vielen durch die Aufregungen des Lebens zurückgedrängt
werden, häufig brach sie am Ende des Lebens durch in völliger Abkehr von
der Welt und deren Täuschungen und Lockungen, denen man sich nicht hatte
entziehen können. Das Bewußtsein, bisher nur dem einen gedient zu haben,
trieb dazu, den Rest des Lebens ausschließlich für das andre zu verwenden.
Deshalb am Ende des Lebens der so häufige Eintritt in ein Kloster. Man
muß sich also hüten, von der Verkündigung der christlichen Lehre eine voll¬
ständige Umkehrung des Volkscharakters zu erwarten, besonders da die Auf¬
nahme sich auf die Aneignung und EinPrägung weniger Hauptpunkte, des
Vaterunsers und Glaubens beschränken mußte. War doch selbst diese For¬
derung der gedächtuismäßigen Leistung so wenig durchzusetzen, daß Karl der
Große erst deu weltlichen Arm zur Durchführung dieses Religionsunterrichtes
bot, allerdings mit der seltsamen Verordnung, daß diese Hnuptstücke des
Glaubens lateinisch gelernt werden sollten.
Hingegen entfaltete die Kirche eine heilsame Thätigkeit, wenn sie die Aus¬
brüche der Gewaltsamkeit und Unbotmäßigkeit, die der germanische Charakter
bei der Mißachtung gegen jedes auferlegte Gesetz mit sich führte, in strenge
Zucht und Bestrafung zu nehmen sich bemühte. Jetzt wurden auch die Volks¬
rechte, die lange mündlich fortgepflanzt worden waren, aufgezeichnet, und in
der Verschärfung der Strafen für Gewaltthaten glaubt man kirchlichen Einfluß
zu finden.
Noch ausgiebiger wurde der Grundzug des altgermanischen Wesens, der
hochfahrende Trotz, der nichts über dem eignen Willen anerkennen wollte,
wenigstens soweit er auf der geselligen Gleichheit aller Volksgenossen beruhte,
gebrochen durch das Durchsetzen einer neuen Gesellschaftsordnung, des Lehens¬
wesens oder Feudalismus. Seiner Wurzel nach allerdings selbst germanisch,
ist er das Gegenteil der römischen Staatsidee, der Hoheit des unpersönlichen
Staates, seiner Beamten und Bürger. An die Stelle des abstrakten Staates
trat der König, dem persönlich Treue und Gehorsam geschworen ward, wofür
er seine Huld nud Gnade durch Zuweisung der Nutznießung von Gütern als
Lehen bewies. Indem sich dieses Verhältnis persönlicher Unterordnung immer
mehr ausbreitete, und zugleich auf die Lehensleute immer ausschließlicher der
Kriegsdienst überging, machte die alte demokratische Gleichheit einem gegliederten
Aufbau von Ständen Platz. Bald verzichtete ein großer Teil der ärmeren
Freien, teils gezwungen, teils freiwillig, uns die Lasten der vollen Freiheit und
stellte sich unter geistliche und weltliche Herren, um sich, weniger durch Kriegs¬
dienst gestört, dem Ackerbau zu widmen. Damit traten anch die kriegerischen
Charakterzüge mehr in den Hintergrund. (Fortsetzung folgt.)
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